Was in der Geldflut verschwindet

Seit einem Jahr flutet die Europäische Zentralbank die Märkte mit 60 Milliarden monatlich, ohne erkennbaren Nutzen. Und man fragt sich, warum sie das tut und was in dem vielen Geld letztlich versinkt. Antworten

Seit dem 9. Dezember belastet die Europäische Zentralbank die Guthaben der Banken mit einem Negativzins von 0,3 Prozent. Damit soll angeblich erreicht werden, dass das Geld in die Realwirtschaft fliesst und dort für Wachstum und Arbeitsplätze sorgt, anstatt auf den Konten der EZB auf bessere Zeiten zu warten. Nur: Das Geld für die Realwirtschaft wäre längst da, dazu bräuchte es weder eine Geldschwemme der EZB noch Negativzinsen. Um zu verstehen, worum es tatsächlich geht, muss man zuerst die Rolle der Zentralbanken bei der Geldschöpfung verstehen.

Die Zentralbank kann nur «Zentralbankgeld» herstellen – und das auch nur, wenn eine Geschäftsbank dabei mitspielt. Die Geschäftsbank muss Zentralbankgeld nachfragen und dafür «Wertpapiere» entweder an die Zentralbank verkaufen – oder als Sicherheit für einen Kredit hinterlegen. Ist dies geschehen, schreibt die EZB der Geschäftsbank den vereinbarten Betrag auf einem Girokonto bei der Zentralbank gut. So ist nun Zentralbankgeld entstanden, das als Guthaben der Geschäftsbank in den Büchern der Zentralbank steht.
Dieses «Geld» kann den Buchungskreis der Zentralbank jedoch nicht verlassen. Es kann von der Bank A zwar auf das Zentralbankkonto der Bank B überwiesen werden, aber es kann definitiv nicht an einen Kreditnehmer, der keine Bank ist, verliehen werden!
Die einzige reale Chance, die eine Bank hat, den Negativzins zu vermeiden, besteht nicht etwa in der Vergabe von Krediten – denn dazu braucht sie eine Mindestreserve an Zentralbankgeld –, sondern ausschliesslich in der Tilgung eigener Kredite bei der Zentralbank unter Rücknahme der abgetretenen Sicherheiten, oder im (Rück-)Kauf von Wertpapieren von der Zentralbank.
Die andere Möglichkeit, nämlich von der Zentralbank «Bargeld», also Geldscheine und Münzen, «zu kaufen», ist ohne Belang, weil die Handhabung von Bargeld für die Banken teurer als der Negativzins ist, um sich mehr davon zu beschaffen, als die Kundschaft benötigt.

Wir stehen hier vor einem scheinbaren Paradoxon: Mario Draghi kauft Monat für Monat für 60 Milliarden Euro Anleihen von den Geschäftsbanken, schreibt diesen Geschäftsbanken 60 Milliarden auf ihren Zentralbankkonten gut – und lässt die Guthaben dann über den Negativzins schrumpfen.
Die Banker verkaufen also Anleihen an die EZB, nehmen das Geld und lassen es über den Negativzins von eben dieser EZB «entwerten». Für die Banker, so wie es aussieht, ein verdammt schlechtes Geschäft! Wir wissen jedoch, dass Banker nicht blöd sind. Sie würden sich auf ein solches Geschäft niemals einlassen, wenn sie damit nicht Geld verdienen könnten. Die Kreditvergabe an Unternehmen und Privatkunden kann das nicht sein, denn die würde auch ohne die monatlichen 60 Milliarden Euro zusätzlicher Liquidität funktionieren. Die Geschäftsbanken sind auf die zusätzlichen Zentralbankmilliarden ja nicht angewiesen. Sie haben dank des lockeren Geldes seit Ausbruch der Finanzkrise genügend Reserven für die Kreditvergabe.
Es gibt also keinen echten Anlass, das Kreditgeschäft durch EZB-Instrumente anzukurbeln. Weder die quantitative Lockerung (QE) noch die Negativzinsen können die Banken zu vermehrter Kreditvergabe animieren. Der geringfügige Anstieg der Kreditausreichungen an Unternehmen von 0,9 Prozent im November 2015 gegenüber dem Vorjahresmonat zeigt eher, dass weder dass QE-Programm noch die Negativzinsen die erhoffte Wirkung zeigen – und das Endziel, die Inflation auf den Zielwert von knapp 2 Prozent p.a. anzuheben, liegt immer noch in weiter Ferne.

Warum also holen sich die Geschäftsbanken monatlich 60 Milliarden Euro von der EZB, nur um darauf Strafzinsen zu zahlen? Es gibt mehrere Erklärungen dafür, und jede davon hat ihre volle Berechtigung, allerdings können die Beweggründe von Bank zu Bank durchaus unterschiedlich sein. Es kommt auf die jeweilige Situation an, in der sich ein Institut gerade befindet.

Strategie 1:
Weg mit den riskanten Papieren
Hätte ich – als Banker – Anleihen im Bestand, die entweder schon teilweise abgeschrieben werden mussten oder deren «Entwertung» in Kürze droht, ich würde sie der EZB verkaufen und so meine Bilanz in Ordnung bringen. Es ist allemal besser, 1 Milliarde EZB-Guthaben in den Büchern stehen zu haben, die ich niemals abschreiben muss, als
1 Milliarde Euro in portugiesischen Staatsanleihen, die in wenigen Monaten vielleicht nur noch eine halbe Milliarde wert sein werden. Solange die EZB einen Preis anbietet und bezahlt, der über meinen Erwartungen für die kurzfristige Kursentwicklung liegt, nehme ich doch die Euros rein und werfe die fragwürdigen Papiere raus.

Strategie 2: Neue Anleihen einkaufen
Wenn die schlechten Papiere weg sind, kann man sich ja neue ins Depot legen. Man kann sogar – wegen der höheren Zinsen – wieder ein gewisses Risiko eingehen, in der begründeten Annahme, dass man auch diese Papiere bei Bedarf wieder beim Trödler Mario versilbern kann, bevor sie endgültig zu stinken anfangen.

Strategie 3:
Andere spekulative Papiere kaufen
Wenn hinreichend Liquidität angeboten wird, warum soll man da nicht auch ein bisschen am Börsenrad mitdrehen? Die eigene Finanzabteilung weiss doch am besten, wann und mit welchem Papier die grössten Profite zu holen sind, und wenns schief läuft, kann man die problematischen Papiere ja immer noch in einen bestehenden Fonds packen oder gleich einen neuen Fonds auflegen und seine Privatkunden damit beglücken.


Strategie 4: Währungsspekulation
Bei dauerhaft niedrigen Zinsen und einem kontinuierlichen Wertverlust des Euros gegenüber anderen
Währungen ist es doch praktisch und einträglich, Devisen von der EZB zu kaufen und mit diesen im Ausland auf Einkaufstour zu gehen. Damit ist das strafzinsenträchtige EZB-Guthaben geschmälert – und zugleich das Euro-Währungsrisiko in eine Dollar-Währungschance verwandelt. Solange bei der Fremdwährungsanlage kein grober Schnitzer passiert, erhöht sich jeder Zins- und Spekulationsgewinn automatisch um den nicht zu zahlenden Strafzins, der bei vergleichbarer Anlage in Euro fällig würde.

Und was hat die EZB davon? In kaum noch zu überbietender Klarheit und Eindeutigkeit hat die EZB über den Ankauf von Staatsanleihen sich die Möglichkeit zur direkten Staatsfinanzierung geschaffen. Die zwischengeschalteten Banken sind ja noch nicht einmal als «Strohmänner» anzusehen, sondern schlicht als «Erfüllungsgehilfen» einer ganz und gar politischen Zentralbank, die, wie selbstverständlich, auch jede Menge schlechter Papiere zu einem unvorteilhaften Preis hereinnimmt und so nach und nach zum Hauptgläubiger all jener Staaten der Euro-Zone wird, die nicht Deutschland heissen.
Mario Draghi nutzt dabei die Tatsache, dass eine Zentralbank nicht pleite gehen kann, völlig schamlos aus. Die hier genannte Strategie 1 der Geschäftsbanken befreit den Markt von Anleihen zweifelhafter Werthaltigkeit, Strategie 2 versorgt die betroffenen Staaten kontinuierlich mit frischer Liquidität.
Es entsteht nach aussen (aber nur für Naivlinge) der Eindruck, die Euro-Zone stabilisiere sich; die Schuldner-Staaten, ausreichend mit Liquidität versorgt, hätten die Krise hinter sich gelassen und seien wieder kreditwürdig.
Das ist natürlich Quatsch, denn die Währung wird von Monat zu Monat schwächer. Der einmal angestossene Prozess könnte in alle Ewigkeit weiterlaufen, gäbe es da nicht die grausame und unbarmherzige Realität. Der Staat verwendet die frischen Kredite nämlich nicht (bzw. kaum) für Investitionen, sondern deckt damit laufende Kosten, auch – und gerade dann – wenn die Steuerquellen nicht sprudeln und die Arbeitslosigkeit ansteigt.
Selbstverständlich können die Staaten mit Hilfe der Banken zunächst einmal Auslandsschulden abbauen, was bei stetem Wertverlust des Euros auch dringend notwendig ist. Selbstverständlich kommen die Euro-Krisenstaaten auf diese Weise auch in den Genuss sehr niedriger Zinsen auf Euro-Anleihen, weil das Ausfallrisiko, das die Kurse steigen lassen müsste, letztlich von der EZB getragen wird.
Die EZB betreibt also nicht nur Staatsfinanzierung mit der Druckerpresse, sie betreibt sie auch noch fast zum Nulltarif, so dass – wie im Märchen vom süssen Brei – eine unerschöpfliche Quelle sprudelt, die immerfort angezapft werden kann, ohne dass dafür etwas zu zahlen wäre. Werden alte Kredite fällig, nimmt man einfach neue auf, wieder praktisch zinsfrei, und wenn mehr Geld gebraucht wird, nimmt man eben mehr Kredit. Was solls?

Klar, wir sind noch nicht ganz so weit, doch das Spiel treibt in Riesenschritten auf genau diesen Zustand zu. Nebeneffekt: Durch den sinkenden Aussenwert des Euro erreicht die Euro-Zone insgesamt, insbesondere aber Deutschland, im weltweiten Wettbewerb eine immer günstigere Position.
Das Dumme daran ist nur, und hier wird deutlich, dass Mario Draghi nicht Initiator der wundersamen Geldvermehrung im Sinne des EZB-Auftrags ist, die Inflation bei 2 Prozent zu halten; er ist nur Mitspieler einer grösseren Verschwörung, dass sämtliche Staaten, sobald sie an die Schuldenobergrenze stossen, unter das Austeritätsdiktat der EU fallen. Das ist offensichtlich gewollt. Verschuldung bis über beide Ohren – und dann die Übernahme der Staatsgewalt durch die Kommission, ohne jede Chance einer demokratischen Gegenwehr, wie es die Beispiele Zypern und Griechenland überzeugend gezeigt haben.
Schuldenobergrenze ist ja kein fixer Betrag. Sie fällt und steigt mit der Wirtschaftsleistung. Wo das BIP rückläufig ist – und das wird es auch EU-weit bald sein, alleine wegen der Situation der Weltwirtschaft, kann die Schuldenobergrenze plötzlich unter den bereits erreichten Schuldenstand sinken, selbst wenn der Staatshaushalt ausgeglichen und keine Neuverschuldung erforderlich ist!

Es ist ein Weg, die «Vereinigten Staaten von Europa» durch finanzielle Strangulation zu erzwingen, und je mehr Geld Draghi in sein nach oben offenes QE-Programm steckt, desto schneller kommen wir diesem Ziel näher, ohne dass dafür ein Plebiszit erforderlich wäre.
Auch die mit der Strategie 3 verbundene Inflation an den Aktienbörsen, die sich dort durch steigende Preise und den Höhenflug der Indizes ausdrückt, ist eine durchaus gewollte Reaktion, hilft sie doch den in Aktien investierten Anlegern, die Kaufkraft ihres Vermögens zu erhalten, weil der inflationär gestiegene Kurs bei Verkauf eben als Bargeld zur Verfügung steht, während der Geldsparer, mit keinen oder äusserst geringen Zinsen gesegnet, mit Erschrecken erkennen muss, wie schnell sein nominal unverändert gebliebenes Vermögen an Kaufkraft verliert. Dies wiederum soll auch noch die letzten Sparer an die Börsen treiben, damit sie – nahe den Höchstkursen – auch dann noch kaufen, wenn die grossen Player schon wieder beginnen, sich mit Gewinn zurückzuziehen, um auf ein neues Pferd zu setzen.

Der zusätzliche Witz, über den leider kaum jemand lacht, ist dabei die Tatsache, dass steigende Börsenkurse dem staunenden Publikum immer noch als Beleg für eine prosperierende Wirtschaft untergejubelt werden, und Lieschen Müller ist überzeugt, dass alles gut werden wird, solange nur die Kurse immer neue Rekordmarken erreichen. Letztlich freut sich die EZB aber auch, wenn ihr durch Auslandsinvestitionen Währungsreserven abgenommen werden.
Erstens wird durch den Kauf von Devisen bei der EZB die umlaufende Euro-Geldmenge reduziert. Das hilft (ein bisschen) mit, die Deflation zu erhalten, und mit der Begründung, das Inflationsziel würde sonst verfehlt, immer noch mehr Milliarden an die Märkte auszuschütten.
Zweitens ist der Rückfluss von Devisen in deren Heimatmärkte und Währungsräume dort ein Inflationstreiber, was wiederum den Export fördert. Schwierig? Einfach! Wenn die inländischen Produkte dort teurer werden, wächst doch die Chance, dort deutschöpäische Produkte im Wettbewerb noch günstiger anzubieten. Wir senken den Aussenwert des Euro mit aller Kraft und erhalten uns mit der Deflation die niedrigen Löhne, während der Aussenwert der Währungen unserer Handelspartner stabil(er) bleibt, deren Kaufkraft auf den Binnenmärkten aber inflationsbedingt sinkt.

Es ist ein Währungskrieg gegen die europäischen Staaten, die gegen ihren eigentlichen Wunsch und Willen unter eine Brüsseler Zentralregierung zusammengetrieben werden, weil ihnen sonst der Geldhahn abgedreht wird. Ein Währungskrieg gegen die Normalbürger Europas, weil ihnen der Wert ihrer Ersparnisse gestohlen wird, während die Kaufkraft der Grossanleger über unterschiedliche Anlage-«Güter» erhalten wird. Zudem ermöglicht die weiterhin unzureichende Liquiditätsversorgung der Realwirtschaft ein stetig weiteres Absenken der Reallöhne zu Gunsten steigender Gewinne auf den Exportmärkten.

Ein Währungskrieg aber auch gegen den Rest der Welt, weil alle erkennbaren Auswirkungen darauf hinzielen, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschopäischen Unternehmen auf den Weltmärkten zu steigern. Es ist ein Krieg, bei dem die Grossen gewinnen und die Kleinen verlieren.

Egon W. Kreutzer ist Autor und Verleger.
www.egon-w-kreutzer.de