Der eigentliche Skandal

Caroline Pulver , Sozialarbeiterin in der Gemeinde Steffisburg, hat im Auftrag des Schweizerischen Arbeiterhilfswerkes (SAH) Bern den sogenannten Sozialhilfemissbrauchs-Skandal in der Gemeinde Bern in einem 20-seitigen Bericht minutiös aufgearbeitet (www.sah-be.ch).


Im Sommer 2007 – im selben Jahr finden im Spätherbst die eidgenössischen Wahlen statt - fliegen wie von ungefähr zwei von den Medien eilfertig aufgeblasene Fälle angeblichen Sozialhilfe-Missbrauchs auf, der BMW- und der Mercedes-Fall. Das sind nicht etwa Marken, welche die Sozialhilfe sponsern, sondern Luxusautos, mit denen die inkriminierten SozialhilfeempfängerInnen angeblich herumfahren sollen. In einem Interview im „Bund“ nimmt die altershalber in Pension gehende Leiterin des Sozialdienstes der Stadt Bern das Thema dankbar auf und behauptet, es gebe eine Missbrauchsquote von 10 bis 20%. Die Medien freuen sich über die attraktive Zahl, die Öffentlichkeit ist konsterniert.

Empörungspotenzial weiter gezüchtet
Der Gemeinderat der Stadt Bern will sich so etwas nicht sagen lassen und verfasst im September 2007 ein sogenanntes Grundsatzpapier zu Bedeutung, Prinzipien und Massnahmen der Sozialhilfe. Gleichzeitig erteilt er dem Finanzinspektorat den Auftrag, alle Dossiers des Sozialdienstes zu überprüfen. In einem langfädig-trockenen und unübersichtlichen Bericht bereiten die FinanzinspektorInnen insbesondere finanzrelevante Zahlen auf. Die eigentliche Sozialarbeit interessiert sie nicht, weshalb sie keinerlei Fachkräfte für ihre Inspektion beiziehen. Man ginge damit das Risiko ein, nicht alle Missbrauchsfälle aufzudecken. Und trotzdem: In einem Zwischenbericht vom Juni 2008 äussert das Finanzinspektorat bei 97 von 300 buchhalterisch überprüften Dossiers Vermutungen über Missbräuche. Die Missbrauchsquote steigt somit auf 30%. Die Medien freuen sich über die noch attraktivere Zahl und die Öffentlichkeit ist empört.


Vermutungen sacken zusammen
Im August 2008 eröffnet das Regierungsstatthalteramt Bern-Mittelland ein aufsichtsrechtliches Verfahren und prüft die 97 verdächtigen Fälle. Jedes Dossier wird einzeln unter  folgenden Kategorien untersucht:
1) Falsche oder unvollständige Angaben zum Erhalt von Sozialhilfe.
2) Zweckwidrige Verwendung von Sozialhilfe. 3) Aufrechterhaltung einer Notlage.
4) Selbstverschuldete Notlage.
Trotz dieses grosszügigen Spektrums  kommen die Juristen des Regierungsstatthalteramts schliesslich zum Urteil, nur gerade 38 Dossiers wiesen Anhaltspunkte in wenigstens einer dieser Kategorien auf.  Die vermutete Missbrauchsquote sinkt wieder auf ca. 15 %. Die Medien interessiert dies nicht mehr gross und die Öffentlichkeit wendet sich anderweitigen Skandalen zu.

Fakten der Ehrlichkeit
Februar 2010. Caroline Pulver kommt in ihrem Bericht zu folgendem Schluss:  In der Stadt Bern beträgt die Missbrauchsquote nicht 30%, sondern im strafrechtlichen Sinn unter 2 % und in weiter Auslegung des Begriffs „Missbrauch“  weniger als 5%.
„SchweizerInnen sind am ehrlichsten“ in der ganzen Welt, stand letzthin in den Zeitungen. 91 % würden ein gefundenes Portemonnaie mit 1‘000 Franken drin zurückgeben. Jetzt wissen wir es: nur SozialhilfeempfängerInnen in der Stadt Bern sind noch ehrlicher.



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