Die Lohnersatzleistungsersatzleistung

Zeit: Die nahe Zukunft. Alle Sozialeinrichtungen sind geschlossen. Eine Kultur der Eigenverantwortung hält Einzug in unserem vormals so überversorgten Land. Lässt der Staat seine Bedürftigen jetzt mit ihrem Schicksal allein? Keineswegs: Die Mittel des Sozialstaats haben sich lediglich verfeinert. (Satire von Roland Rottenfußer)

Das Amt für Lohnersatzleistungen schloss um Punkt 12 Uhr mittags. Uwe und ich standen aber schon um 10.45 vor dem klobigen fünfstöckigen Gebäude aus unverputztem roten Ziegel mit den unübersehbar langen Fensterreihen. Wir konnten uns also gute Chancen ausrechnen, noch an die Reihe zu kommen. Uwe brauchte die Sozialhilfe unbedingt. Seit das Behindertenheim, in dem er wohnte, wegen Geldmangels geschlossen hatte und ich ihn quasi über Nacht bei mir aufnehmen musste, damit er nicht auf der Strasse landete, war ich allein für seinen Lebensunterhalt aufgekommen. Bei Uwe lag eine seltene Chromosomenaberration vor, was in der Praxis mit einer leichten Debilität einherging, z.B. mit Sprachstörungen und einer – freundlich ausgedrückt – etwas langsamen Auffassungsgabe. Trotz seiner wuchtigen Körperstatur, des starken Kiefers und der schaufelartigen «Würgerhände» war er jedoch im Grunde seines Wesens ein sehr feiner Mensch.



Schon von aussen fiel mir auf, dass die Fenster im Amt nicht beleuchtet waren. Auch fehlten die sonst üblichen Grüppchen von Rauchenden, die Schlangen vor den Anmeldeschaltern, die sich an anderen Tagen oft bis hinunter an den Fuss der hohen Treppe hinzogen. Ich gebe auch zu, dass ich lange nicht mehr selbst im Amt gewesen war, weil dieses für mich als Freiberufler nicht zuständig war. Ich hatte allerdings angesichts der Wirtschaftskrise eher mit einer Verschärfung der Situation, also mit längeren Schlangen und einem quasi auf Hochtouren laufenden Amtsbetrieb gerechnet.



Als wir die grosse Flügeltür öffneten, traten wir in eine unerwartete Dunkelheit, nur aufgehellt durch das spärliche Licht, das aus einer Reihe hoher, kleiner Fenster in den turnhallengrossen Empfangssaal hinein fiel. Ich hatte mich aber nicht in der Zeit geirrt, denn draussen stand nach wie vor das alte Schild mit den Öffnungszeiten: 8-12 Uhr. Meine Finger fanden den im Dunklen rot leuchtenden Sparschalter, und sogleich füllten sich die Halle und der endlos in die Tiefe des Gebäudes führende Gang mit einem gelblich-weissen Neonlicht. Auch die ovale, gut 10 mal 5 Meter grosse Infotheke mit ihren 20 Schaltern war menschenleer. Und die grosse Infotafel, das gewaltige «Inhaltsverzeichnis» des Amts für Lohnersatzleistungen, war bis auf eine einzige Zeile völlig leer. In grossen auswechselbaren Lettern stand dort: «Anträge auf Erteilung von Lohnersatzleistungsersatzleistungen – Zi. 478a.»



Ich ging also mit Uwe auf dem mir noch vertrauten Weg zum Lift und fuhr in den vierten Stock. Unterdessen versuchte ich meinen verunsicherten Freund zu beruhigen und erklärte, dass heute eben besonders wenige Leute im Amt waren. Dass aber der «liebe Beamte», der uns das Geld für Pfirsichdosen und andere wichtige Lebensmittel geben würde, bestimmt zu Hause war. Ich versuchte immer, Uwes Vertrauen in die Institutionen unseres Staates zu stärken und versah Personen, die uns begegneten, gern mit dem Zusatz «lieb». Ich wusste ja von Uwes sensibler Seele, die durch den Kontakt mit fremden Menschen leicht einzuschüchtern war. Der vierte Stock bestand aus einem Hauptgang, von dem unzählige Nebengänge und Nebennebengänge abgingen. Es war nicht ganz leicht sich in dem verschachtelten Nummernsystem zurechtzufinden.



Endlich aber standen wir vor Zimmer 478a. Auf dieser Höhe hatte sich der Gang zu einer mittelgrossen Wartezone verdickt, die Platz für etwas 80 Wartende schuf. Niemand sass auf den durch Metallgestänge miteinander verbundenen hellgrauen Plastikstühlen. Ich wusste aus einschlägigen Erfahrungen, dass es nicht ratsam war, einfach in ein Amtszimmer hineinzuplatzen. Dies hatte unweigerlich einen strengen Verweis durch den zuständigen Beamten zur Folge. Ich suchte und fand also den Wartenummernspender rechts neben der Tür und zog. In meiner Hand hielt ich eine saubere, noch druckfrische «1». Sofort blinkte auf der Anzeigentafel über der Tür in roter Leuchtpunktschrift auf: «Bitte warten Sie, bis Ihre Nummer aufgerufen wird», und nur wenige Sekunden später: «1».



Ich schärfte Uwe noch mal ein, dass er die Verhandlungen am besten mir überlassen solle und trat ein. Zu meiner Überraschung wirkte die Beamtin hinter ihrer Theke nicht beschäftigt, sondern wendete sich uns sofort mit einer leichten Drehung ihres Stuhls zu. «Sie wünschen?», fragte die nicht unattraktive, dunkelblonde Mittdreissigerin, die in ihrem anthrazitfarbenen Hosenanzug allerdings etwas streng wirkte. Ausserdem wirkte sie ziemlich gelangweilt, wenn man bedachte, dass unser Besuch doch für sie die erste Abwechslung an einem ereignislosen Arbeitstag sein musste. «Desirée Hundt» stand auf ihrem Namensschild.



«Ich möchte hier für meinen Freund Uwe Glöckner sprechen», begann ich. «Uwe war bis vor kurzem Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, was auf eine von Geburt an bestehende Chromosomenaberration zurückzuführen ist. Er wohnt derzeit bei mir und verfügt über keinerlei Einkommen. Aufgrund von durch Herrn Glöckner nicht schuldhaft verursachten Einschränkungen seiner mentalen Fähigkeiten ist eine Eingliederung in den Ersten Arbeitsmarkt aber derzeit ausgeschlossen. Dazu kommt, dass, wie Sie selbst wissen, aus Kostengründen alle Mittel für behindertengerechtes Wohnen und Arbeiten aus den Mitteln des Sozialministeriums ersatzlos gestrichen wurden. Aus all dem folgt, dass Herr Glöckner als unverschuldet in finanzielle Not geratener Bürger Anspruch aus Lohnersatzleistungen nach Paragraf 738 a/IV hat.»



Ich hatte mich gut auf meine kleine Rede vorbereitet. Die Beamtin war währenddessen von ihrem Platz aufgestanden, war zum Wandregal gegangen, in dem sich statt der üblichen Aktenordner allerdings nur Stapel von in Plastikfolie eingeschweissten Büchern befanden, und hatte ein Buch herausgenommen. Wortlos legte sie es vor uns auf die Theke. Der Titel lautete: «Die Fülle ist in dir» von Dr. Jonathan Sunday. Untertitel: «Raus aus dem Opferbewusstsein durch eigenverantwortliches Kreieren und Imaginieren.»



«Was soll das?», fragte ich etwas gereizt. «Ich hatte gedacht, dass Sie uns vielleicht ein Antragsformular zum Ausfüllen geben würden.» «Antragsformulare gibt es bei uns nicht mehr», sagte Desirée Hundt routiniert. «Jeder Bürger, der glaubhaft versichert, über keine ausreichenden Einkünfte zu verfügen, hat laut Lohnersatzleistungsreformgesetz Anspruch auf Lohnersatzleistungsersatzleistungen.» Frau Hundt schaute uns währen ihrer Rede nicht an und verdreht ihre Augen leichte oben, um zu signalisieren, dass sie es leid war, uninformierten Bürgern immer wieder die gleiche Geschichte erzählen zu müssen.



«Also können wir gleich hier Geld bekommen», fragte ich und konnte meine Freude nur schwer verbergen. «Wer redet von Geld?», sagte Désirée Hundt ungeduldig und zeigte auf das Buch. «Das hier ist die Lohnersatzleistungsersatzleistung. Sie ersetzt laut Lohnersatzleistungsreformgesetz vom 1. Januar alle üblichen Lohnersatzleistungen wie Sozialhilfe, Kindergeld, Arbeitslosenunterstützung und Rente. Ziel der Massnahme ist es, Bürger ohne eigene Einkünfte zu mehr eigenverantwortlichem Handeln zu inspirieren. Aber sagen Sie, muss ich Ihnen das alles erzählen? Lesen Sie keine Zeitung?»



Tatsächlich hatte ich mich monatelang nicht mehr aus Zeitung und Fernsehen informiert, da mich die aktuellen Nachrichten zunehmend mutlos und deprimiert stimmten. «Hören Sie», sagte ich nun zu Frau Hundt und versuchte meine Stimme ein wenig entschlossen klingen zu lassen. «Ich nehme das Buch gern mit und lese es zuhause. Aber was Herr Glöckner in seiner Situation braucht, ist Geld, mindestens 400 Euro monatlich, sonst weiss ich nicht, wovon er leben soll. Verstehen Sie, was ich sage? Herr Glöckner hätte sonst nicht genug zu essen und zu trinken.»



«Ich glaube, Sie verstehen mich nicht», erwiderte Désiré Hundt spitz. «Die Aushändigung des bewährten Buchs ‚Die Fülle ist in dir’ ist die einzige Leistung, die unser Amt seit 1.Januar noch vergibt. Ich versuche noch einmal, es Ihnen zu erklären. Wenn jemand Hunger hat, aber an einem Fluss lebt, ist es dann besser, demjenigen einen Fisch zu geben oder eine Angel? Die Frage beantwortet sich wohl von selbst. Ein Fisch macht den Betreffenden nur für einen Abend satt. Eine Angel dagegen ermächtigt ihn, sich immer wieder aus eigener Kraft Fische zu fangen.»



«Ja schon», wandte ich ein. «Aber was hat das ganze mit Herrn Glöckner zu tun?»



«Dr. Sundays Buch ist die Angel, mit deren Hilfe es Ihrem Freund möglich sein wird, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ich zitiere hier einmal eine Stelle aus dem Buch». Désirée Hundt blätterte kurz in dem Band, bis sie die Stelle gefunden hatte: «Wer einem Bedürftigen Geld aushändigt, ohne entsprechende Gegenleistungen von ihm zu verlangen, verkennt die aktivierende Funktion des Leidensdrucks, der diesem als Ansporn zu mehr eigenverantwortlichem Handeln dienen kann. Geld-Sozialleistungen beruhen somit auf einem veralteten Denken. Sie rauben dem Erwerbslosen die unschätzbare Erfahrung, sich durch Selbstüberwindung aus dem Nacht lähmender Antriebsschwäche zum Lichte einer dynamischen Willensstärke durchzuarbeiten. Es gibt somit nichts, wodurch ein Arbeitsuchender gründlicher entwürdigt werden könnte als durch eine sich fälschlich auf das Gebot der Menschwürde berufende fürsorgliche Entmündigung. Übermässiges Mitgefühl ist so zur schlimmsten Geissel einer verzärtelnden Rundum-Sorglos-Gesellschaft geworden.»



«Entschuldige, wenn ich Sie unterbreche, Frau Hundt. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Herr Glöckner wegen seine Behinderung gar  nicht in der Lage ist, dieses Buch zu lesen. Was er jetzt braucht, ist die Solidarität der Gemeinschaft, also Geld.»



«Liebe Beamtin hübsch», meldete sich Uwe nun erstmals zu Wort, grinste über sein breites Gesicht und näherte sich bedrohlich der Theke, was Frau Hundt dazu bewog, ein Stück zurückzuweichen. «Kriegen wir Geld? Pfirsichdosen kaufen?».



«Ja, Uwe, bestimmt gibt uns die liebe Beamtin gleich das Geld. Setzt dich noch ein bisschen hin. Ich muss erst noch ein bisschen mit der lieben Beamtin reden. Also, Frau Hundt, Sie sehen selbst, dass sie diesen Menschen nicht auf den Ersten Arbeitsmarkt loslassen können.»



Frau Hundt brauchte ein paar Momente, um nach Uwes unerwartetem «Angriff» die Fassung zurück zu gewinnen, dann schaute sie mich an und sagte mit fester Stimme: «Finden Sie nicht, dass Sie es sich da etwas zu leicht machen?»



«Leicht machen, nein, warum?»



«Was oder wer Herr Glöckner auch immer ist – er ist es geworden aufgrund von Entscheidungen, die er in eigener Verantwortung in seinem Leben getroffen hat.»



«Nein! Nein!», unterbrach ich die Beamtin erbost. «Verstehen Sie nicht? Er hat das nicht entschieden. Er ist so geboren!»



«Dann hat er eben entschieden, so geboren zu werden», sagte Désirée Hundt in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. «Lesen sie dazu bitte bei Jonathan Sunday das Kapitel: ‚Vorgeburtliche Seelenabsprachen. Wie wir mit Hilfe von Jenseitsführern unsere kommende Inkarnation planen’ Es ist doch gar nicht einzusehen, warum die Mehrheit der anständigen, also der arbeitsfähigen Menschen, dafür aufkommen soll, dass ein paar verantwortungslose Individuen meinen, sich ausgerechnet als nutzlose Krüppel inkarnieren zu müssen!» Die schwarz umrandeten Augen der Beamtin funkelten. Ihre immer sehr kontrollierten Gesichtszüge schienen für einen Moment zu entgleisen, so dass sich ihre geschminkte schmale Oberlippe hochzog wie bei einer fauchenden Katze.



«Is’ die liebe Beamtin jetz’ böse?», fragte mich Uwe, der die ganze Zeit geduldig auf seiner Bank ausgeharrt hatte, erschrocken.



«Nein Uwe. Sie ist nicht ernsthaft böse. Die liebe Beamtin hat nur im Moment nicht so viel Geld einstecken. Aber nächste Woche hat sie bestimmt wieder welches. Bis dahin kommen wir zwei schon irgendwie zurecht».



«Und die Pfirsichdosen? Du hast gesagt: Is’ kein Geld mehr da für Pfirsichdosen.»



«Doch, Uwe, du kriegst deine Pfirsichdosen, ich verspreche es.» Ich überlegte einen Moment fieberhaft und kam zu dem Ergebnis, dass ich meine anstehende Fahrradreparatur würde verschieben müssen, wollte ich für Uwe und mich in den nächsten Wochen nur die notwendigsten Lebensmittel kaufen. Ich würde eben zu Fuss gehen müssen. Das waren keine sehr erfreuliche Aussicht, aber was sollte ich tun?



14. Januar 2010
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