Wo geht es lang heute? Wo besteht Hoffnung in einer zusammenbrechenden Zivilisation? Wo finden wir die Zuversicht, nach einem langen heissen Sommer in den Herbst zu gehen?

Briefmarke aus Sierra Leone von 1996: Odysseus und die Sirenen

Wie orientieren wir uns zwischen Dürren und Überschwemmungen und verlieren nicht den Halt zwischen den Extremen? Wie Pendel schlagen die Gefühle und Empfindungen aus. Die Kunst ist es, wieder in die Mitte zu kommen, zum Mast des Lebensschiffes, das es durch die Wogen zu steuern gilt.

Auf seiner zehnjährigen turbulenten Heimfahrt nach dem trojanischen Krieg liess sich Odysseus an den Mast seines Schiffes binden, um nicht den Gesängen der Sirenen anheimzufallen. Er begab sich mitten in die Abenteuer hinein und verschloss die Augen nicht vor dem, was um ihn herum geschah. Doch der für seine Klugheit und List bekannte antike Held wusste, dass er es nicht allein aus eigener Kraft heraus schaffen konnte, aufrecht und in seiner Mitte zu bleiben.

Es braucht ein Band, das uns in unserer Mitte hält, etwas, das stark genug ist, den Verlockungen der äusseren Welt zu widerstehen. Etwas, was den Trugbildern, so real sie heute auch erscheinen mögen, nicht auf den Leim geht, etwas, was uns in unserer Achse bewahrt und Stand gibt zwischen Vertikale und Horizontale. Ein Band also, das uns zwischen Himmel und Erde nicht verlorengehen lässt.

In dem Epos «Die göttliche Komödie» von Dante Alighieri führt der Weg in den Himmel durch die Hölle. Der Reisende erfährt, dass der Ausgang gleichzeitig der Eingang ist. Um aus einer Situation herauszukommen, müssen wir zunächst mitten in sie hinein. In der Mitte schliesslich findet derjenige, der es wagt, sich mit den Ereignissen zu konfrontieren, die Tür, die in die Befreiung führt.
 

Zurück zu den Ursprüngen

Es ist die Mitte, die uns Halt und Orientierung gibt. Hier gilt es, sich zu verwurzeln. Der Veda-Philosoph Armin Risi schlägt einen radikalen Mittelweg vor, um aus der Spaltung herauszukommen, die der Monotheismus auf der einen und der Atheismus auf der anderen Seite hervorgebracht haben, den Glauben an eine dominante Vaterfigur und ein Denken, nach dem das Leben ein sinnloses Zufallsprodukt ist. (1)

Beide Extreme, so zeigt uns die Geschichte, haben weder Frieden noch wirkliche Vernunft gebracht. Die Spaltung der Menschheit, die durch sie hervorgerufen wurde, kann, so Armin Risi, nur durch ein Besinnen auf das gemeinsame Urwissen überwunden werden, den gemeinsamen Kern des Religiösen, dessen, was uns mit dem Wesentlichen verbindet: relegere. Auch der Begriff radikal wird in seiner ursprünglichen Bedeutung verwendet. Der Weg ist kein hartes, rücksichtsloses Vorgehen, sondern ein Weg zurück zu den Wurzeln: radix.

Wir haben das Pendel so weit schwingen lassen, dass die Schaukel sich zu überschlagen droht. Überall wird sichtbar, dass wir zu weit gegangen sind. Es war ein Experiment, das wir nun für beendet erklären können. Es ist genug. Wir haben erfahren, wie es ist, die Orientierung zu verlieren und nicht mehr zu wissen, wer wir eigentlich sind. Fast bis zum letzten Tropfen haben wir den Schmerz der Trennung vom Ursprünglichen, vom Gesamten, ausgekostet.

Doch niemand zwingt uns, diesen Becher zu Ende auszutrinken. Wir können ihn vom Munde nehmen und nach dem Kelch mit dem klaren Wasser greifen, das es immer noch gibt. Wir können uns auf unsere Mitte besinnen. Unser Atem ist es, der uns hierhin führen kann. Stets galt der Atem als Mittler zwischen den Welten. Wie eine Säule steigt er in unserem Körper auf und verbindet Körper und Geist.

Der Atem hilft uns, in die Ruhe zu kommen, in einen Zustand der Meditation, in dem wir klarsehen. Wie in einer Schneekugel setzt sich das Aufgewirbelte und macht den Blick frei auf das Wesentliche. So können wir erkennen, wie sich die Dinge wirklich verhalten. Wir sehen, dass der Mensch kein überflüssiges Produkt ist, keine Fehlkonstruktion, die es zu optimieren gilt, kein sinnloses Rädchen im Getriebe.

Wer sich mit seiner Mitte verbindet, der erkennt in sich selbst, was seine wirkliche Bedeutung ist. Er sieht sich nicht an der Spitze der Schöpfung, nicht als Herrscher über das Lebendige. Er wird gewahr, dass er selbst die Verbindung ist zwischen Horizontale und Vertikale, zwischen Körper und Geist, zwischen Erde und Himmel.

Wir sind die Mittler zwischen den Welten. Wie Flimmerhärchen empfangen wir von oben und geben es nach unten weiter. Unser Schicksal ist es nicht, so schnell wie möglich wieder vom Erdboden zu verschwinden, nach allem, was wir angerichtet haben. Wir haben eine andere Aufgabe. An uns ist es, uns endlich zu unserer vollen Grösse aufzurichten und das zu werden, was wir von Anfang an sind: Machtvolle Schöpferwesen, die nicht nur dazu in der Lage sind, aus dem Paradies eine Hölle zu machen, sondern aus der Hölle ein Paradies.


Quellen

(1) Armin Risi: Der radikale Mittelweg, Überwindung von Atheismus und Monotheismus – Das Buch zum aktuellen Paradigmenwechsel, Kopp Verlag 2009