Ein moderner Robin Hood

Hans Klein wurde wegen mehrfachem Einbruchsdiebstahls verurteilt. Dabei verteilte er seine Diebesbeute an Arme und leistete so seinen Beitrag zur längst überfälligen Umverteilung. (Visionäre Satire von Roland Rottenfußer)

Andreas Banghans glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Nach seiner Rückkehr aus dem Arbeitsamt fand der arbeitslose Sozialpädagoge einen unbeschriebenen Umschlag in seinem Briefkasten vor. Der Inhalt: 12.000 Euro in bar. Nur ein gelbes Post-it-Zettelchen klebte auf dem Geldbündel: «Sie dürfen’s behalten – ganz ohne schlechtes Gewissen. Liebe Grüsse, Robin 2009.»



Für Banghans kam die unerwartete Geldspritze einer Erlösung gleich. Weil er sich von seiner Frau scheiden liess und mit seiner neuen Geliebten zusammen wohnte, war er vom kirchlichen Träger des Jugendheims, bei dem er arbeitete, auf die Strasse gesetzt worden. Damit begann Banghans‘ Abstieg. Keine kirchliche und staatliche Einrichtung wollte ihn mehr anstellen. Da ihm die Arbeitslosenhilfe wegen der hohen Mietkosten nicht zum Leben reichte, nahm er einen Kredit bei der Shark-Bank auf, dessen Raten er, als er in die Sozialhilfe abrutschte, nicht mehr pünktlich abstottern konnte. Schliesslich wurde er wegen Schwarzfahrens erwischt, kam in Zahlungsverzug, die Mahngebühren summierten sich und er war wegen Zahlungsunfähigkeit von Schuldhaft bedroht. Die 12.000 Euro, die ihm unverhofft ins Haus geflogen kamen, bewahrten ihn nicht nur vor dem Knast, sondern ermöglichten ihm auch die sofortige Abzahlung seines Kredits – nebst einigen Tausend »zum Leben«.



Wo aber kamen die geheimnisvollen 12.000 her? Bei einem Einbruchsversuch wurde vergangenen Samstag der 24-jährige Hans Klein auf frischer Tat verhaftet. Opfer des geplanten Einbruchs war der Multimilliardär Felix Wief, der es durch Daytrading (kurzfristige spekulative Geschäfte mit virtuellem Geld, das am heimischen Computer per Mausklick verschoben wird) zu seinem beträchtlichen Vermögen gebracht hatte. Der Täter Hans Klein begründete seinen Einbruch damit, Wief habe sein Vermögen mit dem «Blut tausender burmesischer Arbeiter» auf ethisch fragwürdige Art und Weise erwirtschaftet.  Wief sei durch Spekulation mit den Aktien des Turnschuhriesen Ozelot an den menschenunwürdigen Bedingungen in den burmesischen Wohn- und Arbeitsbaracken mitschuldig, wo Arbeitszeiten von bis zu 65 Stunden wöchentlich üblich seien. Das Geld, so Klein, sei nicht für ihn bestimmt, sondern für Menschen, die ihrerseits Ausgebeutete seien, «Verlierer und Getretene des neoliberalen Systems.»



Klein hatte sich im sozialen Brennpunkt Hasenbergl im Norden Münchens den Ruf eines «modernen Robin Hood» erworben und wurde hinter vorgehaltener Hand als «Volksheld» bewundert. Sinnigerweise war Hans Klein weithin unter dem Namen «Little John» bekannt – eine Anspielung auf den treuesten Freund Robin Hoods. Der Verhaftete erwies sich als Kopf eines Einbrecher- und Hehler-Rings, auf dessen Konto in den vergangenen Wochen mindestens 45 polizeilich registrierte Eigentumsdelikte gingen. Klein gab an, dass er die «Einkünfte» aus verkauften Wertgegenständen aus Grünwalder Luxuswohnungen ausschließlich an Bedürftige verteilt habe. Die Berichte über finanzielle Notfälle und schwere menschliche Schicksale seien ihm durch ein «umfangreiches nachbarschaftliches Informationsnetz» zugetragen worden.



Der Prozess gegen den mehrfachen Einbruchstäter, der am 10.02. vor der Strafkammer München VI in der Nymphenburgstraße begann, weitete sich denn auch zu einem Schauprozess aus, der auch politisch hohe Wellen schlug. Staatsanwalt Hartmut Biehder sprach gegenüber der Presse von einem «Präzedenzfall». Der Staat müsse durch ein hartes Urteil sicherstellen, «dass Nachahmungstäter nicht ermutigt und das verfassungsmässige Recht auf Eigentum nicht unterhöhlt» werde.



Der Angeklagte gab an, auf seine Tat stolz zu sein und nutzte das Gericht als öffentliches Forum für umfangreiche «Predigten» über die ungerechte Verteilung des Reichtums in unserem Land und auf dem Globus. «Wir haben nur die Wahl zwischen zweierlei Unrecht», sagte Klein. «Entweder wir brechen gültiges Recht, was illegal ist; oder wir dulden die massenhafte Enteignung von Millionen Menschen durch Zins und Zinseszins, was illegitim ist – und zwar in dem Masse, wie die Verschuldung ins Unermessliche wächst und Generationen um den verdienten Ertrag ihrer Lebensleistung betrogen werden.»



Klein warf der Rechtsordnung vor, zu langsam auf anstehende Veränderungen zu reagieren. Der Staat regle die Probleme von heute mit einer Gesetzgebung von gestern, es sei daher das Recht der Bevölkerung, sich mit gewaltlosen Mitteln zu wehren. »In den 70er Jahren wäre es strafbar gewesen, Massenvernichtungswaffen zu zerstören; nach Glasnost und Perestroika und der Wende im ehemaligen Warschauer Pakt, haben beide Lager im Zuge der Abrüstung Waffensysteme vernichtet. Heute ist es verboten, reichen Zinsgewinnlern ihre Beute zu entreissen und sie Bedürftigen zukommen zu lassen; morgen wird der Staat unter dem Druck der Strasse gezwungen sein, genau dies in grossem Umfang zu tun. Wir sind keine Verbrecher, wir sind Vorkämpfer des Neuen. Man hat es bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig gesehen: Einzelne, die sich dem Unrecht entgegen stemmen, werden eingesperrt, wenn es Millionen tun, ist es der Beginn einer neuen Epoche.»



Klein verglich die Situation des Volkes mit einer Gruppe von zwanzig Wanderern, die von einem einzelnen Räuber mit dem Taschenmesser bedroht werden. Der Räuber nimmt sich jeden der Wanderer vor und entreisst ihm sein Portemonnaie mit der Drohung, ihn mit dem Messer zu verletzen. Die Umstehenden betrachten die Szene interessiert, diskutieren erregt und äussern sich empört über das Verhalten des Räubers. «Es geht aber nicht darum, sich über den Raub zu beklagen ober über die Gründe für sein Handeln zu diskutieren», sagte Klein dem Gericht, «es geht darum, den Räuber an seinem Tun zu hindern. Damit haben wir endlich begonnen. Wenn alle zusammenhalten würden, wäre es ein leichtes, dem Täter sein Messer zu entreissen, aber jeder hat Angst, dass er derjenige ist, der einen Stich abbekommt.»



Im Gerichtssaal kam es unterdessen zu Tumulten, weil Zuschauer den Ausführungen Hans Kleins mehrfach lautstark Beifall klatschten. Daraufhin liess Richter Serenus Kloops den Saal von Ordnern räumen. Klein konnte dem Richter noch zurufen: «Wenn es Ihnen egal ist, ob Sie selbst ausgebeutet und um Ihr Leben betrogen werden, dann denken Sie doch wenigstens an Ihre Kinder!» Daraufhin wurde er wegen Missachtung des Gerichts zu einer Geldstrafe verurteilt und der Prozess zunächst vertagt.



Wir dürfen gespannt sein, wie es weiter geht. Andreas Banghans, der Empfänger der geheimnisvollen 12.000 Euro, konnte sich jedenfalls nicht lange an seinem Geldsegen freuen. Die Summe wurde gerichtlich eingezogen, und Banghans bleibt sie seinen Gläubigern nach wie vor schuldig – nebst Zins und Zinseszins.



Gerade erreichte uns aber die Nachricht, dass auch aus mehreren anderen Städten des Landes sogenannte «Robin Hood»-Delikte gemeldet werden. Der Sprecher der Polizei spricht sogar von einer «neuen Dimension der Eigentumskriminalität.»

02. September 2009
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