Millionen von Menschen in der westlichen Welt - unter ihnen auch viele Menschen jüdischer Abstammung - empören sich über die täglichen Massaker der israelischen Armee im gepeinigten Gaza.
Viele dieser Millionen würden auch den Angriff Israels auf den Iran kritisieren. Denn dieser Angriff schürt eine Eskalation, die nur immer noch mehr Menschenleben, noch mehr Hass und Zerstörung fordert.
Doch unter all den westlichen Menschen, die auch dieser neuen israelischen Aggression ablehnend gegenüberstehen, höre ich keine Stimme für den Iran.
Beklagt wird nur das alttestamentarische Bild der zwei «Erzfeinde» Israel und Iran, die zähnefletschend bloss darauf warteten, gegeneinander Krieg zu beginnen. Das Bild, das auch von den Medien verbreitet wird, täuscht uns vor, dass hier zwei gleich starke Staaten die blutigen Klingen kreuzen. So ist es aber nicht. Das zeigen nur schon die Zahlen der bisherigen Opfer. Wie beim Gaza-Konflikt, wo 1300 israelische Hamas-Opfer in keinem Verhältnis zu den bereits über 50 000 toten Palästinensern stehen, kommen schon jetzt auf mehrere hundert tote Iraner lediglich 24 getötete Israeli. Von den zerstörten Gebäuden und Infrastrukturen, die im Iran ungleich zahlreicher sind, nicht zu reden.
Solche Vergleiche spiegeln aber nur andeutungsweise das Kräfteverhältnis der beiden Staaten wider. Während noch immer die ganze militärische Macht der USA hinter Israel steht, steht auf Seiten Irans vergleichsweise – niemand. Kein Staat auf der Welt beliefert Iran in einem Ausmass mit Waffen, militärischer Technologie und Geheimdienstinformationen, wie dies die USA für Israel tun. Und während Trump dem Iran mit einem militärischen Eingreifen droht, hat Israel dergleichen nicht zu befürchten. Weder Russland, China noch die arabischen Staaten sprachen gegen den jüdischen Staat solche Drohungen aus.
Israels Überlegenheit zeigt sich auf fast schon magische Weise auch darin, wie es dem Mossad gelang, Irans militärische Führung zu liquidieren. Selbst Khamenei, der Diktator, darf sich seines Lebens nicht länger sicher fühlen. Offenbar ist Israel jederzeit in der Lage, auch ihn zu treffen. Iran dagegen hat nicht den Hauch einer Chance, israelische Militärs zu behelligen.
Und wenn Irans oberster Führer droht, dem «zionistischen Terror-Regime eine starke Antwort zu geben», wenn er martialisch verkündet: «Die Schlacht beginnt», dann sind das leere arabische Drohgebärden, wie man sie kennt. Wenn dagegen Israel droht, folgen den Drohungen – wie der Gaza-Krieg zeigt – unmittelbar Konsequenzen.
Vor dem Hintergrund dieses Ungleichgewichts wirkt die permanente Beschwörung Israels von der Gefährlichkeit des Irans wie ein billiger Propagandatrick. Das vom jüdischen Staat so befürchtete Ziel des Irans, «Israel zu zerstören», ist so weit entfernt von der Wirklichkeit, dass nicht einmal die Hamas mehr davon träumt. Israel hat sich unantastbar gemacht. Auch die ständige Anschuldigung, dass der Iran «kurz davor» stehe, eine Atombombe zu besitzen, lenkt nur davon ab, wer im arabischen Raum tatsächlich Atomwaffen hat. Natürlich Israel.
Und etwas darf nicht vergessen werden: Hätte Israel seine expansionistische Politik geändert und den Palästinensern ihr Land und ihre Rechte zurückgegeben, würde in der Region sofort Frieden herrschen. Weder die Hamas noch die Fanatiker im Iran hätten dann die geringste Chance, die Menschen gegen Israel aufzubringen. Der jüdische Staat müsste sich von niemandem mehr bedroht fühlen.
Doch Israel hält immer noch fest an seinem biblischen Anspruch auf das ganze Gelobte Land seiner Väter. Deshalb kennt es keine Bescheidenheit. Seit seiner Gründung ist der Staat Israel wie ein Stachel im Fleisch des Orients, wie ein schmerzhafter Dorn, der zu ständiger Infektion und Eiterung führt.
Derselbe israelische Schurkenstaat, der stets behauptet, sich bloss zu «verteidigen», hat Millionen von Palästinensern zu Heimatlosen gemacht und sein Staatsgebiet nach dem Sechstagekrieg widerrechtlich erweitert. Die Golan-Höhen, der Sinai, Ost-Jerusalem, das Westjordanland, der Gazastreifen - all das sind Stationen der israelischen Vorherrschaft in der Region. Ägypten, Syrien, Jordanien, der Libanon, sie alle haben tatenlos zusehen müssen, wie sich der jüdische Staat als Stützpunkt des Westens in der muslimischen Mitte des Nahen Ostens breitmacht. Sie müssen auch jetzt ohnmächtig zusehen, wie der Gazastreifen von Israel bombardiert wird, wie Syrien von Israel bombardiert wird und wie der Libanon von Israel bombardiert wird. Den israelischen Bomben hat die arabische Welt nichts entgegenzusetzen. Israel ist der Herr im Haus.
Der Iran dagegen bombardiert niemanden. Raketen schiesst er nur deshalb nach Israel, weil Israel Krieg will. Und die Raketen werden fast alle abgefangen.
Der Iran hat auch kein ganzes Volk seiner Heimat beraubt. Der Iran hat auch keine fremden Gebiete erobert. Der Iran hat auch nie einen Krieg gegen Israel angefangen. Was schliessen wir daraus? Nicht vom Iran, sondern von Israel geht die Bedrohung aus.
Trotzdem schafft es der Westen, das Feindbild Iran auch jetzt noch, nach dem israelischen Grossangriff, weiterhin mit Erfolg zu verbreiten und «Verständnis» für ein Israel zu bekunden, das sich doch nur seiner Haut wehren müsse. Warum wehrt sich niemand für den Iran? Warum spricht niemand aus, wer da wen bedroht? Wer in diesem ungleichen Kampf der wirkliche Täter ist und wer das wirkliche Opfer?
Auch jene, die Israel kritisieren, tun sich schwer mit dem Iran. Weil er von den Mullahs regiert wird. Weil er eine islamistische Diktatur ist. Weil er das eigene Volk seit Jahrzehnten unter der Knute und die Frauen unter dem Tschador hält. Ein solches Regime kann man nicht unterstützen. Man kann es nur stürzen.
Der westliche Mainstream, seit Jahrzehnten dazu erzogen, den Iran zur «Achse des Bösen» zu zählen, hegt natürlich die Hoffnung, der israelische Angriff werde bewirken, dass sich das iranische Volk endlich erhebt und die Mullahs verjagt. Netanjahu selbst schürt diese Hoffnung, wenn er sich an die Iraner wendet und sie zum Widerstand gegen die islamistische Tyrannei aufruft. Auch Israel-Kritiker hoffen vielleicht insgeheim, dass die Mullahs diesen Krieg politisch nicht überleben werden.
Israels Politik jedoch wird sich dadurch nicht ändern. Denn warum möchte Netanjahu das Regime in Teheran stürzen? Weil ein islamistisch regierter Iran der einzige Staat ist, der sich dem israelischen Grössenwahn widersetzt. Sind die Mullahs einmal entmachtet, ist der Weg für Israel frei, seinen Traum von einem Grossisrael in die Tat umzusetzen.
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Da die Hauptgefahr in der Region von Israel ausgeht, müsste im Grunde zuerst Netanjahu entmachtet werden. Denn so wie das iranische Volk unter dem Terror der Islamisten leidet, so leidet das israelische Volk unter Netanjahus Regime. Der Autokrat kämpft um sein politisches Überleben und ist dafür zu allem bereit: zum Gemetzel in Gaza, zur Preisgabe der noch lebenden israelischen Geiseln, zum Angriff auf den Iran und, damit zusammenhängend, zur Einkalkulierung von Leid und Zerstörung im eigenen Land. Indem Netanjahu sein Volk in den Luftschutzkellern versammelt, kann er es wieder hinter sich bringen. Eigentlich aber ist er eine Gefahr. Für sein Land, für die ganze Region - und im Falle einer Eskalation für die ganze Welt.
Natürlich wünsche auch ich dem iranischen Volk eine Befreiung von seinen Tyrannen. Aber die fanatischen Gotteskrieger sind im Moment nicht das Hauptproblem. Das Hauptproblem ist der Staat Israel, der gerade jetzt im Begriff ist, ein anderes, zehnmal schwächeres Land mit der Hilfe der USA zusammenzubomben, ohne von diesem Land angegriffen worden zu sein.
Meine Solidarität gilt daher nicht zuerst der iranischen Opposition. Meine Solidarität gilt dem Iran an und für sich. Würde ich jetzt eine Flagge schwenken, dann wäre es die Flagge Irans – unabhängig davon, wer in Teheran an der Macht ist. Jedes Volk muss mit seinen Despoten selber fertig werden. Aber jedes Land hat ein Recht auf seine territoriale Integrität.
Ich wünsche mir eine multipolare Welt, in der Länder wie der Iran, wie Palästina, wie Israel gleichberechtigt nebeneinander bestehen dürfen. Und das bedeutet: Wenn Israel atomare Waffen besitzt, darf das auch der Iran. Kein Land und kein Volk hat das Recht, auserwählter zu sein als das andere.
*Vor vielen Jahren – Israel unter Netanjahu drohte schon damals mit einem Angriff auf den Iran – gab es ein junges israelisches Paar, das auf Facebook mit einem anderen jungen Paar in Kontakt trat. Eines aus dem Iran. Die beiden Paare schrieben einander. Daraus entstanden zwei Gruppen auf Facebook: «Israel loves Iran» und «Iran loves Israel». Immer mehr junge Leute aus beiden Ländern kamen auf diese Weise zusammen und begegneten sich als Menschen, die Frieden wollen und keinen Krieg. Auf dem Logo der israelischen Seite standen die Worte:
Iranians, we will never bomb your country. We love you.
Seit einer Woche nun gilt das Versprechen von damals nicht mehr. Israel hat den Iran bombardiert, Iran hat zurückgeschlagen, und es herrscht Krieg. Doch eine der Facebook-Seiten von damals besteht noch. Sie heisst, leicht erweitert, «Iran loves Israel & Palestine» – und auch jetzt, mitten im tödlichen Lärm der Raketen und Bomben versichern sich Menschen aus Israel, Palästina und dem Iran gegenseitige Freundschaft. Und ich bin sicher, es ist eine Freundschaft, die den Krieg überdauern wird.