Nachhaltigkeit braucht systemische Intelligenz

Am liebsten würden die jungen Leute einfach alles verbieten, was als Übel in der Welt zu sein scheint – Plastik, klimaschädliche Maschinen, Fleischfabriken. Aber mit Verboten allein lassen sich die wenigsten Probleme lösen.

Ein Plakat der Handelskette «Bio-Company», die derzeit in Berlin mit dieser Botschaft wirbt. (Foto zvg)

Dass es in einer pluralistischen Gesellschaft und einer globalisierten Welt nicht einfach so mit Verboten möglich ist, alle Probleme zu lösen, dass die Kunst darin besteht, in demokratischen Verfahren Rahmenbedingungen richtig zu setzen und die freie Betätigung der Menschen so in vernünftigen Bahnen zu lenken, diese Einsicht ist Ergebnis von Erfahrungen, die man 10- bis 16-Jährigen noch nicht abfordern kann. Das Modelllernen in der Familie basiert ja auch zum großen Teil auf dem Prinzip elterlicher Ge- und Verbote.

In den Schulen könnte man freilich schon etwas dafür tun, dass in Gesellschaftskunde oder politischer Bildung auch systemische Intelligenz gefördert wird. Das würde die Fähigkeit entwickeln, zu erkennen, dass unsere Gesellschaft nicht nach einem durchgehenden Prinzip organisiert ist, sondern die Resultante ganz verschiedener Vektoren ist. Dass also z.B. ein marktwirtschaftliches System nach einer anderen Logik oder Rationalität funktioniert wie ein Rechts-, Bildungs- oder Mediensystem. Freilich wissen das auch viele „Große“ noch nicht wirklich. Und daraus entsteht dann nicht selten die Idee, es müsse ein übergeordnetes Prinzip geben, dem sich alle gesellschaftlichen Bereiche unterzuordnen hätten. Derzeit ist „Nachhaltigkeit“ so eine totalitäre Idee. Dabei wird der Begriff dann nicht als das verwendet, was er ist, nämlich der Überbegriff einer Menge von Entwicklungs- und Wachstumsproblemen unserer Zivilisation, sondern er wird zur generelle Lösungs- und Heilsformel.

Wenn Bio Company diese Idee wirklich ernst meint, dann müsste in den Filialen jetzt eine große Preissteigerung einsetzen, damit die Menschen weniger kaufen.

Dass das so nicht funktionieren kann, zeigt eine Plakatkampagne, die die Bio-Handelskette Bio Company auf uns loslässt. Auf großformatigen Postern des Biosupermarkt-Filialisten kann man in U-Bahnhöfen in Berlin derzeit die Aufforderung lesen: „Kauf weniger“. Mit dem Zusatz „Weil uns Nachhaltigkeit wichtiger ist.“ Wenn Bio Company diese Idee wirklich ernst meint, dann müsste in den Filialen jetzt eine große Preissteigerung einsetzen. Denn das ist das, was der Filialist tun kann, damit die Menschen (bei ihm) weniger kaufen. Natürlich passiert das nicht. Und es ist alles nur Werbung.

Das Beispiel zeigt aber auch sehr deutlich, dass systemisches Denken über Nachhaltigkeit Not täte. Denn natürlich funktioniert Marktwirtschaft über den Preis – und nicht über moralische Appelle. Im Rahmen ihrer Aktion „Kauf weniger“ ließ die Bio Company die Kunden in einer Filiale in Berlin an einem Tag Ende September den Preis für ihren Einkauf selbst bestimmen. Die Supermarkt-Betreiber zeigen sich vom Ergebnis angeblich enttäuscht. Sie posten auf Facebook: „Das Ergebnis ist ernüchternd und offenbart Wissenslücken: 62 Prozent der Kunden schätzten den Preis für ihren Einkauf zu niedrig ein." Die Wissenslücken liegen aber in Wirklichkeit bei der Bio Company.

Denn es ist doch völlig normal, dass Käufer möglichst viel für möglichst wenig haben wollen. Wenn Bio Company es ernst meint mit „Kauft weniger“ und „Nachhaltigkeit ist wichtiger“, dann erhöhen sie ihre Preise und sorgen für weniger Absatz. Das werden sie natürlich nicht tun, weil sie genauso wie ihre Käufer marktwirtschaftliche Nutzenoptimierer sind. Das ist die Rationalität unseres Wirtschaftssystems.

Um soziale und ökologische Nachhaltigkeit zu realisieren, müssen politische Rahmenbedingungen durchgesetzt werden.

Was hinter dem kleinen Nachhaltigkeits-Experiment im Supermarkt steckt, ist auch die verbreitete Annahme, es gebe so etwas wie die „wahren“ Preise von Produkten. Preise bilden sich aber immer nur auf Märkten und sie bilden Marktverhältnisse ab. Sie werden deshalb als Teil von wirtschaftlicher Rationalität niemals z.B. die externalisierten Kosten abbilden und von sich aus so etwas wie die soziale oder ökologische Nachhaltigkeit widerspiegeln. Um soziale und ökologische Nachhaltigkeit zu realisieren, müssen politische Rahmenbedingungen gesetzt (und durchgesetzt) werden.
 
Wir müssen deshalb nicht die Marktwirtschaft abschaffen, um Nachhaltigkeit zu erreichen, sondern den politischen Prozess und die Zivilgesellschaft stärken. Die Marktwirtschaft an sich ist okay. Andreas Siemoneit hat das zusammen mit Oliver Richters in seinem Buch „Marktwirtschaft reparieren“ sehr deutlich herausgearbeitet. Dass er damit bislang relativ wenig Gehör findet, hat wohl damit zu tun, dass das systemische Denken weniger weit verbreitet ist, als man denken möchte. Sonst würden wir in der Nachhaltigkeitsdebatte nicht immer wieder versuchen, Systemen eine Rationalität aufzudrücken, die sie nicht haben können.

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Richard Häusler ist Soziologe und Geschäftsführer von «stratum», einem Beratungsunternehmen für nachhaltige Entwicklung im Non-Profit-Bereich. Der vorliegende, leicht gekürzte Text erschien erstmals im Blog von stratum.

18. Oktober 2019
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