Im vergangenen Jahr haben wir uns mit unterschiedlichen Anlässen vielfältig und ausgiebig gefeiert und unsere Erfahrungen mit andern geteilt. Inzwischen sind wir 31-jährig geworden – und ein Generationenwechsel in der Führung ist im Gange.
1994 hat die Geschichte mit einem eigenwilligen Montessori-Kinderhaus in St. Gallen begonnen. Das Projekt ist kontinuierlich gewachsen, hat sich umbenannt in Monterana-Schule, aus Montessori (Pädagogin) und Maturana (Neurobiologe), ist zweimal umgezogen und hat sich seit 2009 in Degersheim etabliert. In vier gemieteten Gebäuden im Dorf begleiten wir insgesamt rund 120 Kinder und Jugendliche auf ihrem ureigenen Weg des «selbstgestalteten» Lernens. Sie spielen und lernen altersgemischt in unserer Kleinkindergruppe, der Basis-, Primar- und Oberstufe und darüber hinaus. Begleitet wird jede Gruppe täglich von mehreren Teammitgliedern, alle mit unterschiedlichen pädagogischen Grundausbildungen und anderen Berufs- und Lebenserfahrungen.
Terra-Nova-Podcast-Gespräch mit Susanne Tobler und zwei Müttern zum Hören:
Rund 300 Kinder, ihre Eltern und viele Mitarbeitende und Lernende aller Art, die bei uns kürzer oder länger ein- und ausgingen, tragen seither ihre Erfahrungen in die Orte ihres Wirkens. Es sind Erfahrungen des eigenständigen Erforschens und Erlebens, des von innen gelenkten Lernens und Wachsens, der Verbindung zu sich selber und des selbstverantworteten Entscheidens. Zentral für ihr persönliches Wachstum war das freie Tätigsein in vielfältig eingerichteten Räumen und die unbeschränkte Zeit zum Reifen auf jeder Altersstufe bis zum Wechsel in ein nächstes Lernfeld. Neben dem Erlernen von Fertigkeiten und dem Aneignen von Wissen war für sie zentral, spielerisch und gleichzeitig ernsthaft den Umgang mit sich, mit anderen, mit den Lebensumständen und den persönlichen wie kollektiven Prägungen zu finden. Sie beschäftigten sich mit dem, was sie wirklich interessierte, sie persönlich herausforderte und was sie als «Handwerkszeug» brauchen, um sich in unserer Gesellschaft zurechtzufinden.
Das nächste Zeitpunkt-Magazin hat das Thema: Bildung - und erscheint im Oktober.
Die Monterana ist zu einem Lern- und Entwicklungsort nicht nur für die Kinder, sondern in hohem Masse auch für die Eltern und die begleitenden Erwachsenen geworden. Sie ist ein unkonventioneller Lebens- und Bildungsraum, der sich mit all den Familien, die wegen der Schule nach Degersheim gezogen sind und auch über die Schulzeit hinaus ansässig bleiben, zunehmend ins Dorf hinein entfaltet und eine besondere Form einer offenen Gemeinschaft entstehen lässt. Wir sind freudig gespannt auf die weiteren Entwicklungen.
Wie begann die ganze Geschichte? 1989, als zwei der späteren Gründerinnen Ecuador bereisten und dabei auf den «Pesta» stiessen, das begeisternde Schulprojekt von Rebeca und Mauricio Wild? Mit unseren individuellen Lebens- und Lernbiografien? Mit unseren wiederkehrenden Auseinandersetzungen über Bedürfnisse, Leben und Lernen von Kindern und über reformpädagogische Ansätze? Wir, das waren Katharina Moosmann, Lehrerin und Heilpädagogin in einer Kleinklasse im öffentlichen Schulsystem, Heidi Stauffacher, eine Sozialpädagogin, die in einem Sonderschulheim auf der Wohngruppe geistig beeinträchtigte Kinder begleitete, und ich, Heilpädagogin und Klassenlehrerin im selben Schulheim.
Zweifellos war der Besuch des «Pestas» der wesentliche Impuls für unsere spätere Entscheidung, ein eigenes Projekt zu starten. Für ihren zweiten Sohn hatten Rebeca und Mauricio eine Lernumgebung gegründet, die sich an der Pädagogik von Maria Montessori orientierte. Durch die dabei gewonnenen Erfahrungen und das Studieren vieler neuer geistes- und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in der Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs der 70er Jahre entwickelten sie eine konsequente Haltung des «Respektierens von Lebensprozessen» und eines «nicht-direktiven» Begleitens von Kindern. Schliesslich boten sie eine so genannte «vorbereitete Umgebung» für über 200 Kinder und junge Erwachsene bis zum Abitur. Die Erzählungen über deren spätere unkonventionelle Lebens- und Berufserfahrungen berührten und überzeugten uns zutiefst.
Wir liessen uns anstecken, besuchten Montessori-Ausbildungen, Seminare, u.a. bei Rebeca und Mauricio Wild, saugten die empfohlenen Bücher in uns auf und versuchten immer wieder die Umsetzung an unseren damaligen Arbeitsorten.
Die Geburt von Katharinas erstem Kind gab dann den definitiven Anstoss loszulegen. Heidis Hauptmotivation lag in der Gründung und der selbstverantwortlichen Führung eines eigenen Projektes. Meine tieferliegende Motivation entsprang den Nachwehen meiner Ecuadorreise. Das hautnahe Erfahren von Unterdrückung und Ausbeutung anderer Kulturen durch «uns» hatte mir keine Ruhe mehr gelassen, bis ich schliesslich zur Einsicht kam, dass sich auf der Welt nur etwas ändern kann, wenn wir uns selber ändern. Naheliegend für uns als LehrerInnen war, Kinder anders aufwachsen zu lassen, ihnen eine andere Lernumgebung zur Verfügung zu stellen und ihnen mit einer respektvollen, nicht auf Bewertung und Konkurrenz basierenden Haltung zu begegnen.
Was dies alles konkret bedeuten würde – für die Kinder, für uns persönlich, für die Familien, die sich darauf einliessen, und für das Wachsen und Erstarken des Projektes, lag jenseits unserer Vorstellungen.
Die Gründung eines Vereins und der Aufbau des Kinderhauses fielen uns leicht. Wir erhielten Unterstützung von allen Seiten, brauchten keine Bewilligung und keinen Businessplan. Für mich lief die Sache wie ein Pfadiunternehmen: mit Begeisterung, hohem Einsatz, wenig Geld, mit Gesammeltem, Geschenktem und selbst Gemachtem und mit meiner stillen Versicherung, jederzeit wieder aufhören zu können, wenn es nicht funktionieren würde.

Atelier der Monterana
Das erste Jahr war ein voller Erfolg, die Kindergruppe wuchs von 12 auf 26, sodass wir im zweiten Jahr eine zweite Gruppe eröffneten. Durch das schnelle Wachstum entwickelten sich jedoch bald persönliche Spannungen, sich reibende Ansichten und wirtschaftliche Probleme. Die Belastung wurde so gross, dass es in der Folge zur Trennung von der einen, ein Jahr später der zweiten Gründerin kam. Der Anfangszauber war dahin.
Trotz grosser Anstrengungen, uns wieder zusammen zu finden, schieden sich unsere Wege endgültig. Ich blieb sozusagen als «alleinerziehende Mutter» übrig, die mit den dazugekommenen Eltern den eingeschlagenen Weg weiterging und 1998 mit dem Aufbau der eigentlichen Schule begann. Dies war eine harte Erfahrung. Vieles zeigte sich so anders, als wir es uns ausgemalt hatten: Das Schulobligatorium und die Leistungserwartungen, die wir alle über unsere eigenen Erfahrungen tief in uns verankert hatten, übten weitgehend unbewusst einen enormen Druck auf alle aus. Zudem wurde mir eine Führungsrolle zugesprochen, zu der ich noch gar nicht bereit war.

Nachtschule in St. Gallen
Die Kinder brauchten sich gemäss unserer Idee zwar nicht, möglichst schnell viel Wissen anzueignen. Aber sie hätten still und konzentriert mit den Lernmaterialien umgehen, von sich aus Projekte verfolgen und vor allem immer glücklich sein sollen. So war es jedoch nicht. Einige Kinder fühlten sich am neuen, noch unbelebten Ort ohne direkte Anleitung und ohne Vorbilder verloren. Ängste und Unsicherheiten von Eltern und auch von uns BegleiterInnen wirkten sich lähmend auf die Kinder aus. Zweifel und Verantwortung drückten. Während einer schweren Lungenentzündung stellte sich für mich dann die Frage, ob dies wirklich meine Sache sei. Aus der Tiefe tauchte schliesslich die Gewissheit auf: Es war mein Weg. Ich entschied mich ein zweites Mal und diesmal sehr bewusst dafür, was mir für alles weitere Kraft und Ausdauer verlieh.
Durch das Verhalten und die Rückmeldungen der Kinder lernten wir BegleiterInnen nach und nach, Ideale, Konzepte und Wunschvorstellungen zu hinterfragen und teilweise loszulassen, authentischer zu werden, gemeinsam zu forschen und ganz aus den hier und jetzt gemachten Erfahrungen zu lernen. Es waren vor allem die vielen Unternehmungen im Freien und das gemeinsame Spielen, das uns langsam zu einer tragenden Gemeinschaft zusammenwachsen liess. Endlich bahnte sich die gesuchte entspannte Atmosphäre an, in der die Kinder immer tiefer in eigene Aktivitäten eintauchen konnten. Eine wichtige Rolle spielten die dazugekommenen jungen PraktikantInnen und LehrerInnen, die auf ganz natürliche Art den Umgang mit den Kindern fanden, viel Nähe mit ihnen lebten und mit ihnen über alle möglichen Facetten des Lebens diskutierten. Sie wurden zu den bis dahin vermissten direkten Vorbildern und Vertrauten.

Die «Steckenpferde» spielten eine Weile eine grosse Rolle vor allem im Leben der Mädchen.
2004 begannen wir mit dem Aufbau der Oberstufe, nochmals ein holpriger Weg. Es dauerte mehrere Jahre bis zur definitiven Bewilligung durch die Behörden. Nebst einem differenzierten Konzept waren es die positiven Erfahrungen von SchulabgängerInnen, die schliesslich überzeugten.
Neben vielen aufbauenden und beglückenden Erfahrungen mit den Kindern, einem kontinuierlichen Wachstum und zunehmendem gesellschaftlichen Bewusstsein gab und gibt es weiterhin Stolpersteine, Zweifel, Widerstände und Herausforderungen auf allen erdenklichen Ebenen. Die Finanzen sind ein Dauerthema, ebenso wie immer neue Elterngenerationen mit ihren eigenen Themen und deren Auswirkungen. Intern erlebten wir die schwierigste Zeit, als einige der jungen LehrerInnen, die schon eine tragende Rolle spielten, fast gleichzeitig Familien gründeten und andere in dieser Zeit weiterzogen. Das ganze Gefüge wurde erschüttert und fand erst nach und nach neuen Boden.
Mit der Zeit kamen die Jungen zurück, schicken auch ihre eigenen Kinder zu uns und sind heute die erfahrenen, tragenden Kräfte, die die erstarkte Schule zusammen mit neu Dazugekommenen in die weitere Zukunft führen. Ich werde noch einige unterstützende administrative Aufgaben erledigen,selber kann mich in diesem Schuljahr nach und nach aus der Führungsverantwortung zurückziehen. Ich werde noch als Beirätin und Vorstandsmitglied mit Wissen und Erfahrung ein Teil der Schulgemeinschaft sein und nach aussen weiterwirken. Als Gründungsmitglied freue mich darauf, die lebendige Kindergemeinschaft weiter zu erleben, aber einen grossen Teil an Verantwortung abgeben zu dürfen.
Der Betrieb ist heute stabil, grosse Veränderungen stehen nicht an. Einzig die Löhne bleiben ein Thema. Trotz Verbesserungen werden sie weiterhin unter dem marktüblichen Ansatz bleiben. Als Gegenwert erfreuen wir uns am lebendigen Sein und Wachsen unserer Kinder und geniessen unsere Selbstwirksamkeit sowie die vielfältigen gestalterischen Freiheiten.

Das Schulhaus in St. Gallen
Gibt es Beobachtungen und Erfahrungen zum grossen Thema «Bildung», die es wert sind weiterzuerzählen? Aus meiner Sicht unbedingt! Verkürzt gibt es zwei Antworten: Kinder brauchen Vorbilder. Und: Kinder müssen spielen.
Wenn Kinder tief in sich die Erfahrung machen dürfen, nicht beschult und nicht bewertet zu werden und nicht durch ihr Verhalten und ihre Leistungen den Eltern und den Lehrpersonen gefallen zu müssen, wenn sie also ihre Energien nur wenig zum äusseren oder inneren Überleben verwenden müssen, sitzen sie niemals täglich stundenlang an einem Tisch (oder einem Tablet) und tun, was andere ihnen sagen. Sie lernen trotzdem ununterbrochen. In der Monterana erfahren wir die Diskrepanz zum gewohnten Bild von Schule am deutlichsten auf der Primarstufe. Bis dahin orientieren sich die Kinder gern an den Erwachsenen, um zu «werden wie sie». Und nach der pubertären Neuorganisation suchen sie die Erwachsenen als LehrerInnen und Vertraute. Sie entwickeln einen Blick für die Gesellschaft und ihren möglichen Platz darin und wollen aus eigener Motivation wissen und lernen.
Für die Kinder im Primarschulalter haben wir Erwachsenen eine ganz andere Funktion. Wir sind weniger LehrerInnen als vielmehr ErmöglicherInnen, MitspielerInnen, KonfliktbegleiterInnen, DiskussionspartnerInnen, GrenzsetzerInnen, Reibungsfläche und vieles mehr. Die Kinder wollen einfach, dass wir für sie da sind, wenn sie uns brauchen, aber ohne zu kontrollieren, zu dozieren oder zu erziehen. Wir sollen einen vertrauensvollen und sicheren Rahmen bieten, die Kinder sehen, authentisch und gerecht sein, uns von unseren Mustern befreien sowie die Eltern mit ins Boot holen…
Wozu? Damit sie zusammen mit anderen Kindern in kleineren oder grösseren Gruppen, im Jäger- und Sammlermodus, möglichst ohne Unterbruch, das Leben und die Welt erkunden und sie in tausenden von Miniprojekten durchspielen, verarbeiten und sich einverleiben können. Diesen Erfahrungs- und Wissenshunger, ihr Bewegungsdrang, aber auch die begleitenden Momente der Langeweile der Kinder ernst zu nehmen, wäre, unter welchen Umständen auch immer, der zentrale Ansatz für eine Weiterentwicklung von Schule, vielleicht sogar einmal für ein Überwinden des Konzeptes Schule an sich, und gleichzeitig für einen «geschenkten» Heilungsprozess auch unserer selbst und damit für das grosse Ganze.