Ankommen in der Schweiz
Heimat ist nicht nur der Ort, an dem man geboren wurde, sondern der Ort, an dem man ohne Angst leben kann. Die heute in der Schweiz lebende, iranische Schriftstellerin schickt uns Eindrücke von ihrer Flucht und ihrer Ankunft.
Als ich in der Schweiz ankam, war das Erste, was ich spürte, das Fehlen von Angst. Foto: zur Verfügung gestellt
Als ich in der Schweiz ankam, war das Erste, was ich spürte, das Fehlen von Angst. Foto: zur Verfügung gestellt

Mitten im Maisfeld hätte ich nie gedacht, dass Mais wie eine Wand, wie ein Haus, auch Schutz bieten kann. In jener Nacht, als wir versuchten, die Grenze von Serbien nach  Ungarn zu überqueren, war die Luft stickig.  Nur das Rascheln der Blätter war zu hören und unsere Herzen, die  uns bis in den Hals schlugen.  Wir hatten uns mitten im Maisfeld versteckt, zwischen Stängeln, die  grösser waren als wir.

Jedes Mal, wenn das Licht eines Polizeiwagens durch die  Maispflanzen strich, schien die Zeit stillzustehen.  Unser Atem stockte, unsere Augen auf den Boden gerichtet, unsere Gebete waren stumm.  Der Mais war in jener Nacht nicht nur eine Pflanze.

Er war Grenze, er war Zuflucht, er war Hoffnung.  Zwischen mir und Europa, zwischen mir und dem Morgen, lagen nur  ein paar Schritte und ein paar Maisstängel.

Ich habe diese Nacht überlebt.

Aber viele sind immer noch dort im Feld, in der Dunkelheit, in der Angst zurückgeblieben. Wenn ich heute schreibe, dann tue ich es für all jene, die noch nicht  schreiben können. 

Ich schreibe, weil sie noch unterwegs sind oder weil es für sie keinen  Weg mehr gibt.

Ich schreibe, weil sie noch unterwegs sind oder weil es für sie keinen  Weg mehr gibt.

Für jene, die noch zwischen Stacheldraht und Baum, zwischen Angst  und Entscheidung gefangen sind.

Für jene, die jede Nacht mit offenen Augen schlafen, weil Schlafen  nicht sicher ist.

Schreiben ist nicht nur, meine eigene Geschichte zu erzählen.

Es ist wie ein Leuchtfeuer zu entzünden, mitten auf einem Weg, dernoch dunkel ist.

Vielleicht wird eines Tages jemand irgendwo diese Worte lesen und  verstehen, dass er nicht allein war.  Dass irgendwo jemand genau in jener Nacht gegangen ist.

Ich rieche immer noch den Geruch der Maisfelder in meiner Nase.

Dieses Überqueren war nicht nur eine Grenzüberschreitung.

Es war eine Wunde, die bei jedem Atemzug wieder aufbricht.

Aber ich schreibe weiter.

Für diese Nacht.

Für den Mais.

Für mich.

Und für ein Morgen, das vielleicht endlich kommen wird.

Als ich in der Schweiz ankam, war das Erste, was ich spürte, das Fehlen von Angst. Angst vor den Blicken der Menschen. Angst vor Urteilen. Angst, dass, wenn ich etwas Bestimmtes anziehe, eine Stimme hinter mir flüstert: «Warum so?» 

Hier kann ich frei in Kleidung gehen, die ich liebe, mit meiner Frisur, wie ich sie möchte, mit Farben, die mich glücklich machen, und niemand dreht auch nur den Kopf.  In einigen Teilen der Welt ist diese Freiheit ein Traum, für den die Menschen noch immer kämpfen, jeden Tag. Die Luft hier riecht nach Frieden, nicht nur wegen der Berge und Seen, sondern weil ich bei jedem Schritt weiss, dass niemand versucht, mich zum Schweigen zu bringen. 

Im Iran war ich immer bereit, mich zu verteidigen, zu reagieren, mich zu verstecken. Hier habe ich gelernt, einfach zu leben. Viele hier wissen vielleicht gar nicht, was für ein stiller Luxus das ist.

Natürlich ist Integration nicht einfach. Hinter dem Lächeln verbirgt sich eine Mauer aus Sprache und Kultur. Ich muss ihre Worte, ihren Tonfall und sogar ihre Schweigepausen lernen. Ich muss genug üben, um eines Tages mühelos ein Gespräch führen zu können, ohne über jedes Wort nachdenken zu müssen.

Die Menschen hier sind anders. Sie sind pünktlich, sprechen wenig und halten ihre Versprechen. Wenn sie sagen: «Wir treffen uns um fünf», dann sind sie auch um fünf da. Wenn sie sagen: «Ich werde Ihnen helfen», dann tun sie das auch wirklich. 

An Orten, an denen das Vertrauen zwischen den Menschen zerbrechlich ist, kann eine solche Gewissheit wie ein Wunder wirken. Als Frau fühlt sich diese Gleichberechtigung an wie ein kühler Schluck Wasser an einem heissen Tag. Freiheit in der Kleidung. Sicherheit in der Nacht. Zu wissen, dass deine Meinung gehört wird, auch wenn sie der Mehrheit widerspricht. Und dass es keine Last ist, eine Frau zu sein, sondern ein wertvoller Teil deiner Identität. 
Hier sind das alltägliche Erfahrungen, aber in vielen Ländern sind sie noch immer Kämpfe, die es zu gewinnen gilt.
Als ich den Bürgermeister von Breitenbach zum ersten Mal traf, hatte ich Angst. Ich wollte ihn bitten, dass ich einen Beitrag für das wöchentliche Stadtmagazin schreiben dürfte. Aber ich glaubte nicht, dass meine Stimme gehört werden würde. Zu meiner Überraschung wurde ich nur wenige Tage später, am 1. August, dem Schweizer Nationalfeiertag, eingeladen, bei der offiziellen Stadtfeier zu sprechen.

Meine Sprache war noch unvollständig, alles war noch neu und ungewohnt für mich. Aber die mir gebotene Gelegenheit war eine klare Botschaft: Auch die Stimmen von Neuankömmlingen werden hier gehört. Als ich hinter dem Mikrofon stand und die rot-weissen Fahnen im Wind wehten, fühlte ich mich als Teil von etwas Grösserem. 
Hier ist Staatsbürgerschaft nicht nur ein Wort auf dem Papier, sondern bedeutet Präsenz. Es bedeutet, dass die Meinungen und die Zufriedenheit der Menschen, auch der Migranten, geschätzt werden und in Entscheidungen einfliessen.

In meinem Land war die Kluft zwischen den Menschen und den Behörden gross; mit Beamten zu sprechen, kam mir eher wie ein Traum als wie Realität vor. Aber hier geht der Bürgermeister über den Stadtplatz, grüsst die Menschen und hört sich ihre Geschichten an. Die Bürger sind nicht nur Wähler, sondern Partner bei der Verwaltung der Stadt. An Orten, an denen ein solcher Kontakt undenkbar ist, kann man sich kaum vorstellen, wie sehr dies Vertrauen und Zusammenhalt prägt.

Diese Erfahrung hat mir ein neues Verständnis von Integration vermittelt. Integration bedeutet nicht nur, eine Sprache zu lernen oder einen Job zu finden, sondern das Gefühl zu haben, dass die eigene Stimme zählt, auch wenn man noch einen Akzent hat. Es bedeutet zu glauben, dass auch man selbst die Zukunft des Ortes, an dem man lebt, beeinflussen kann.

Ich weiss, dass ich noch einen langen Weg vor mir habe: Sprache, Arbeit, Freunde finden – all das sind Schritte, die ich bewältigen muss. Aber zum ersten Mal seit Jahren sehe ich eine Zukunft , eine Zukunft, in der ich meine Stimme erhebe, schreibe, arbeite und eine Brücke schlage zwischen Frauen, deren Stimmen in meinem Land zum Schweigen gebracht wurden, und einer Welt, die hier zuhört.

Hier habe ich gelernt, dass Heimat nicht nur der Ort ist, an dem man geboren wurde, sondern der Ort, an dem man ohne Angst leben kann. Und wenn Sie bereits an einem solchen Ort leben, vergessen Sie niemals , dass dies ein seltenes und kostbares Geschenk ist, das es wert ist, jeden Tag geschützt und geschätzt zu werden.

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