Der Hunger der Welt. Die Geopolitik der Nahrungsmittel
Der Planet kann zehn Milliarden Menschen ernähren – und doch hungert fast eine Milliarde. Hunger ist kein Mangel an Nahrung, sondern zu viel Macht in zu wenigen Händen. Wer den Weizen kontrolliert, kontrolliert den Frieden. Wer den Hunger kontrolliert, kontrolliert die Welt. Aber Hunger als Waffe funktioniert nur, solange Abhängigkeit akzeptiert wird.
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Asien wird der Versorger der Welt. Foto: Pressenza

Nahrung ist die älteste strategische Ressource der Menschheit – und zugleich die wichtigste für die Zukunft. Keine Gesellschaft überlebt ohne Brot, Reis, Mais oder Wasser. Und doch sterben im 21. Jahrhundert, in einer Zeit, in der Wissenschaft und Technologie theoretisch genug Nahrung für alle bereitstellen könnten, Millionen von Menschen an Hunger oder leben in ständiger Ernährungsunsicherheit. Das Paradox ist brutal: Noch nie hat die Menschheit so viel produziert, noch nie so viel verschwendet – und noch nie sind so viele Menschen hungrig geblieben.

Hunger ist nicht das Ergebnis von Knappheit. Er ist das Resultat von Konzentration und Kontrolle. Der Planet produziert mehr Getreide als er braucht, doch die Verteilung wird von Konzernen und Regierungen gelenkt, die Lebensmittel zu einer politischen und wirtschaftlichen Waffe machen. Auf den Weltmärkten ist Getreide nicht nur Nahrung, sondern Macht. In den richtigen Händen ernährt es. In den falschen Händen lässt es hungern.

Die Grossmächte wissen das genau. Weizen, Mais, Soja und Reis sind zu Druckmitteln in Kriegen, bei Sanktionen und Handelsgesprächen geworden. Eine Hafenblockade, eine an der Börse hochgejubelte Dürre, ein ausgesetzter Exportvertrag – Millionen Menschen sind Mächten ausgeliefert, die sie nicht beeinflussen können.

Die jüngere Geschichte liefert den Beweis:

  • In der Ukraine wurde der Weizen zum globalen Faustpfand im Krieg.
  • In Afrika zieht jede Preisschwankung die Schlinge der Importabhängigkeit enger zu.
  • Und in Gaza sind Nahrungs- und Wasserblockaden zu einer Waffe geworden, die die zwischen Mauern und Luftangriffen gefangene Zivilbevölkerung bestraft.

Dort ist Hunger keine Folge des Krieges. Er ist Teil eines Plans.

Nahrung ist längst nicht mehr nur Nahrung. Sie ist Währung, Erpressung und Waffe zugleich. Weizen ist wertvoller als Kugeln – weil er lautlos töten kann.

Die globale Landkarte der Produktion

Die Erde produziert genug Getreide, um alle Menschen zu ernähren – und es gibt immer noch Überschüsse. Laut FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nation) erreichte die weltweite Getreideproduktion im Jahr 2023 einen Rekordwert von 2,819 Milliarden Tonnen – darunter Weizen, Mais, Reis und Gerste. Hinter diesen Tonnen steht jedoch die geballte Macht einiger weniger Staaten, die die Vorratskammern der Welt kontrollieren.

Die Giganten heissen USA, Brasilien, China, Indien und Russland. Gemeinsam erzeugen sie mehr als die Hälfte der globalen Getreideproduktion.

  • Die Vereinigten Staaten führen bei Mais und Soja.
  • Brasilien folgt dicht dahinter und ist inzwischen der grösste Agrarexporteur der Welt.
  • China und Indien produzieren in gewaltigen Mengen, verbrauchen jedoch fast alles selbst.
  • Russland ist zu einem zentralen Weizenlieferanten für Afrika und den Nahen Osten geworden.
  • Lateinamerika erscheint als die Kornkammer der Welt.
  • Brasilien und Argentinien dominieren bei Soja und Mais.
  • Paraguay und Uruguay folgen auf dem gleichen Kurs.
  • Mexiko, die Wiege des Mais, ist paradoxerweise abhängig von US-amerikanischen Importen.
  • Chile und Peru exportieren Obst und Gemüse – während bei weiten Teilen der Bevölkerung Ernährungsunsicherheit herrscht.
  • Afrika dagegen bleibt Nettoimporteur: Über 50 % der konsumierten Getreidemengen stammen aus dem Ausland.
  • Länder wie Ägypten oder Nigeria sind stark von russischem und ukrainischem Weizen abhängig – und damit blockade- und sanktionsanfällig.
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Das Paradox ist obszön: Die landwirtschaftlich genutzte Fläche der Erde umfasst mehr als 4,8 Milliarden Hektar – über ein Drittel der Erdoberfläche. Trotzdem, so schätzt die FAO, leiden 735 Millionen Menschen an chronischem Hunger. Das Problem ist nicht die Produktion, sondern die Kontrolle. Und wer das Korn kontrolliert, kontrolliert das Schicksal von Millionen.

Sie säen nicht, um zu ernähren. Sie säen, um zu spekulieren.

Die Macht der Konzerne

Hunger lässt sich nicht allein durch das Handeln von Regierungen erklären. Er ist vor allem das Ergebnis einer globalisierten Nahrungsindustrie, die von Konzernen gelenkt wird, für die Getreide kein Grundnahrungsmittel, sondern ein Spekulationsobjekt ist. Im Zentrum dieses Systems stehen vier Namen – bekannt als die «ABCD» des Welthandels: Archer Daniels Midland (ADM), Bunge, Cargill und Louis Dreyfus. Diese vier Agrarmultis kontrollieren über 70 Prozent des weltweiten Getreidehandels und beeinflussen damit Preise, Routen und Verfügbarkeit, was bedeutet: Sie säen nicht, um zu ernähren. Sie säen, um zu spekulieren.

  • Cargill erzielte 2023 einen Umsatz von 177 Milliarden US-Dollar – mehr als das Bruttoinlandsprodukt ganzer Staaten.
  • ADM verbuchte im selben Jahr rund 101 Milliarden US-Dollar Umsatz.
  • Bunge, ursprünglich niederländisch, inzwischen in den USA ansässig, fusionierte 2023 mit Viterra und wurde damit zum grössten Agrarexporteur des Planeten.
  • Louis Dreyfus, mit Sitz in Genf, komplettiert das Kartell – mit Geschäften, die weit über Getreide hinausgehen.

Aber ABCD sind nicht mehr nur Getreideunternehmen. Ihr Einfluss erstreckt sich auf gentechnisch verändertes Saatgut, Düngemittel, Transport, Versicherungen – sogar Finanzen. Sie besitzen Silos, Schiffe, Häfen und Banken. Sie können die Weltmarktpreise mit einer einzigen Exportentscheidung oder einer Wette auf dem Chicagoer Terminmarkt beeinflussen.

Der Kontrast könnte schärfer kaum sein: Während Millionen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern ihre Ernte nicht zu fairen Preisen verkaufen können, erzielen die Agrargiganten Rekordgewinne – selbst in Krisenzeiten. Als 2022 durch den Krieg in der Ukraine die Preise für Weizen und Mais explodierten, vervielfachten ABCD ihre Profite. Der Hunger in Afrika und im Nahen Osten war der Preis für ihre grünen Bilanzen.

Das Ergebnis ist ein stilles Monopol: Vier Konzerne entscheiden, was wo und zu welchem ​​Preis gegessen wird. Die Kontrolle über Lebensmittel liegt in wenigen Händen – und diese Kontrolle ist tödlicher als jede Waffe.

Die Vereinigten Staaten – das bewaffnete Kornhaus der Welt

Die Vereinigten Staaten sind nicht nur die stärkste Militärmacht – sie sind auch die führende Agrarmacht. Mit mehr als 400 Millionen Tonnen Getreide im Jahr 2023 dominieren sie die Produktion von Mais und Soja und zählen zu den grössten Weizenexportnationen der Erde. Ihre Felder sind in gleicher Weise von strategischer Bedeutung wie ihre Flugzeugträger. Jede Tonne Getreide, die Iowa oder Kansas verlässt, stärkt den amerikanischen Einfluss auf Märkten, von denen das Überleben von Millionen Menschen abhängt.

Diese Agrarmacht ist alles andere als neutral. Sie stützt sich auf ein gewaltiges Subventionssystem von über 30 Milliarden US-Dollar jährlich, das es amerikanischen Produzent:innen ermöglicht, Ernten billiger auf den Weltmarkt zu bringen als die lokalen Anbieter:innen vieler Länder. Unzählige Länder Lateinamerikas und Afrikas haben erlebt, wie deren Subsistenzlandwirtschaft durch subventionierten Mais und Weizen aus dem Norden ruiniert wurde. Was als sogenannte Nahrungsmittelhilfe ausgegeben wird, dient oft als verdecktes Dumping: US-Getreide, zu Schleuderpreisen geliefert, überschwemmt lokale Märkte und verdrängt die einheimische Produktion.

Gleichzeitig betreiben die Vereinigten Staaten eine ausgefeilte Hunger-Diplomatie. Über das Welternährungsprogramm (WFP) und über Handelsabkommen nutzen sie Agrarüberschüsse, um Märkte zu öffnen und sich politische Gefolgschaft zu sichern. Mais und Soja werden nur unter Auflagen exportiert – wer Getreide bekommt, erhält gleichzeitig Druck.

Das Paradox ist offensichtlich: Amerika baut Getreide an, um die Welt zu ernähren – und nutzt es zugleich als Machtinstrument. Seine Felder produzieren nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch Abhängigkeiten. Und diese Abhängigkeit ist eine ebenso wirksame Waffe wie jedes andere Waffenarsenal.

Hunger als Waffe der Macht

Hunger ist kein Zufall. Hunger ist ein Werkzeug. Regierungen und Konzerne wissen, dass die Kontrolle über Nahrung zugleich die Kontrolle über ganze Bevölkerungen bedeutet. Von der mittelalterlichen Belagerung bis hin zur modernen Wirtschaftsblockade waren Nahrungsmittel immer die leiseste, aber effektivste Waffe. Heute, in einer global vernetzten Welt, ist dieser Mechanismus raffinierter – und genauso tödlich.

  • Der Krieg in der Ukraine hat das in seiner brutalsten Form gezeigt. Blockaden der Schwarzmeerhäfen liessen 2022 den Weizenpreis um über 40 Prozent steigen – mit verheerenden Folgen für Länder in Afrika und im Nahen Osten, die auf ukrainisches und russisches Getreide angewiesen sind.
  • Ägypten, der grösste Weizenimporteur der Welt, sah die Ernährungssicherheit von über 100 Millionen Menschen durch einen Krieg bedroht, der nicht der seine war.
  • Am Horn von Afrika verschärften Dürre, Preisexplosionen und Lieferausfälle laut WFP die Lage von über 40 Millionen Menschen, die unter akuter Ernährungsunsicherheit leiden.
  • Gaza ist der brutalste Beweis: Systematische Blockaden von Nahrungsmitteln und Wasser sind zu einer Kriegsmethode geworden, die eine eingeschlossene Zivilbevölkerung bestraft. Familien müssen mit Mindestrationen auskommen, Kinder leiden an Unterernährung, den Krankenhäusern fehlt es an der Grundversorgung, während Hilfskonvois aufgehalten oder bombardiert werden. Das ist keine spontane humanitäre Katastrophe. Es ist vorsätzlicher erzeugter Hunger, der als Mittel der Kontrolle und kollektiven Strafe eingesetzt wird.
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Doch Hunger wird auch durch Sanktionen erzeugt. Exportverbote für Düngemittel aus Russland oder Belarus erhöhen die Produktionskosten und er zwingen geringeren Ernten  in ärmeren Ländern. In Lateinamerika wiederum haben Freihandelsabkommen viele Staaten in strukturelle Abhängigkeit von subventionierten Getreideimporten getrieben – und deren Ernährungssouveränität untergraben.

Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Laut der FAO litten 735 Millionen Menschen im Jahr 2023 an chronischem Hunger – in einer Zeit, in der die weltweite Getreideproduktion einen historischen Höchststand erreichte.

Hunger ist also kein Mangel an Brot. Er ist ein Übermass an Macht. Und wer über das Getreide herrscht, entscheidet über Leben und Tod.

Die Geopolitik des Getreides

Ackerland ist zur neuen strategischen Beute geworden. China – mit seinen 1,4 Milliarden Menschen, aber nur rund 7 Prozent der globalen Ackerfläche – sucht seine Ernährungssicherheit längst jenseits der eigenen Grenzen. Chinesische Unternehmen haben inzwischen über sechs Millionen Hektar Land in Afrika und Lateinamerika gekauft oder langfristig gepachtet, insbesondere in Sambia, Mosambik, Brasilien und Argentinien. Diese Investitionen sind alles andere als harmlos: Sie sind langfristige Lieferverträge, die Soja, Mais und Reis direkt nach Peking leiten – als Absicherung für zukünftige Krisen.

Doch geht es nicht nur um China. Auch Finanzgigant wie BlackRock oder Vanguard sind zu stillen Grossgrundbesitzern geworden. Landraub ist ein globales Phänomen: In den letzten zwanzig Jahren wechselten über 30 Millionen Hektar Ackerland den Besitzer – häufig durch die Vertreibung lokaler Gemeinschaften. Die bäuerliche Wirtschaft von Gestern ist heute zu einer Zeile in einem Anlageportfolio geworden.

Die Kehrseite dieser Geopolitik: Düngemittel – ohne sie sind keine hohen Erträge möglich.

  • Russland zählt zu den grössten Produzent:innen von Stickstoff- und Kalidünger.
  • Marokko kontrolliert über 70 Prozent der weltweiten Phosphatreserven.
  • Kriege und Sanktionen liessen die Preise 2022 um mehr als 150 Prozent steigen, was die Agrarkosten in die Höhe trieb und arme Länder am härtesten traf.
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Der weltweite Agrarhandel übersteigt inzwischen einen Wert von über 2 Billionen US-Dollar pro Jahr – doch die Verteilung ist ungerecht. Getreide und Land liegen in den Händen weniger Mächte und Finanzfonds, während hunderte Millionen Menschen auf Importe angewesen sind, die in jeder Krise gekürzt werden können. Nahrung wird heute nicht einfach produziert – sie wird geopolitisch gesteuert. Und wer Saatgut, Land und Dünger kontrolliert, kontrolliert das Spielfeld.

Lateinamerika – Kornkammer und Labor zugleich

Lateinamerika ernährt die Welt und kann dennoch die eigene Bevölkerung nicht ernähren.

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Brasilien und Argentinien sind das Herzstück der globalen Agrarindustrie.

  • 2023 exportierte Brasilien 154 Millionen Tonnen Soja und 50 Millionen Tonnen Mais und etablierte sich damit als grösster Agrarlieferant.
  • Argentinien bleibt trotz seiner Krise mit Agrarexporten im Wert von über 40 Milliarden US-Dollar ein wichtiger Lieferant von Soja, Mais und Weizen.

Beide Länder fungieren als Kornkammern der Welt – während Millionen ihrer Bürger:innen von Ernährungsunsicherheit betroffen sind.

Mexiko erlebt ein anderes Paradoxon: Als Wiege des Mais ist es dennoch von US-Importen abhängig. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA und später USMCA (United States-Mexico-Canada-Agreement) haben die strukturelle Abhängigkeit des Landes verschärft. Über 40 % des mexikanischen Maisverbrauchs wird importiert – und das grösstenteils von Washington subventioniert. Die Folge: Tausende mexikanische Kleinbäuer:innen gehen bankrott und die Abhängigkeiten in der Nahrungsmittelversorgung verstärken sich.

Chile und Peru glänzen als Vorzeigemodelle im Obst- und Gemüseexport: Ihre Trauben, Blaubeeren, Avocados und Spargel füllen europäische und asiatische Supermärkte. Doch der Exportboom geht einher mit einer harten Realität: Laut FAO sind in Chile 2,2 Millionen Menschen von mittelschwerer oder schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen.

In Peru sind es über 15 Millionen. Wasser und Land werden zunehmend für den Export genutzt, während die arme Bevölkerung steigenden Preisen für Brot, Reis und Milch ausgesetzt ist.

Lateinamerika ist Labor und Kornkammer zugleich: Es exportiert Überfluss und importiert Hunger. Seine Felder versorgen weit entfernte Märkte, während seine Bevölkerung mit unberechenbarer Politik, geringen Subventionen sowie der Macht von Konzernen konfrontiert ist, die darüber entscheiden, was angebaut wird und für wen.

Afrika – Abhängigkeit und Verwundbarkeit

Afrika ist der verwundbarste Kontinent auf der globalen Nahrungsmittelkarte. Es produziert zwar Nahrungsmittel, aber nicht genug – und als Kontinent ist Afrika strukturell importabhängig. Über 50 % des verzehrten Getreides stammen aus dem Ausland, was die Länder in Geiselhaft von Preisen und Seetransportwegen bringt, die sie selbst nicht kontrollieren können.

  • Das deutlichste Beispiel ist Ägypten, der weltweit grösste Weizenimporteur. Jährlich kauft das Land 10–12 Millionen Tonnen, hauptsächlich aus Russland und der Ukraine. Der Schwarzmeerkrieg liess die Brotpreise in die Höhe schnellen und zwang den Staat zu Milliardensubventionen, um Unruhen zu verhindern.
  • Nigeria, Afrikas grösste Volkswirtschaft, importiert immer noch mehr als die Hälfte seines Weizenverbrauchs.
  • Niger, eines der ärmsten Länder der Welt, ist auf Reis- und Weizenimporte angewiesen, deren Preise durch Zwischenhändler und Zölle in die Höhe getrieben werden.

Diese Verletzlichkeit des Kontinents hat Auswirkungen bei den Menschen: Laut FAO und WFP leben über 280 Millionen Afrikaner in schwerer Ernährungsunsicherheit – fast ein Viertel des Kontinents. Im Südsudan, Somalia oder der Zentralafrikanischen Republik führt Hunger gekoppelt mit Konflikten zu chronischen Krisen.

Staatliche Subventionen können diesem Sturm kaum standhalten: 

  • Ägypten gibt jährlich über 5 Milliarden US-Dollar für Brotsubventionen aus.
  • Nigeria bringt Milliarden für Weizenimporte auf, während die lokale Landwirtschaft verkümmert.

Das Ergebnis ist ein Kontinent, der in der Falle sitzt: ohne Ernährungssouveränität, abhängig von ausländischem Getreide und mit Millionen gefährdeter Menschen, wenn für ein paar Wochen eine Blockade oder Dürre eintritt.

Bis 2050: 9,7 Milliarden Münder

Der Planet gerät in Bedrängnis: Laut UN werden bis 2050 auf der Erde 9,7 Milliarden Menschen leben – fast 2 Milliarden mehr als heute, vor allem in Afrika und Asien. Der Nahrungsbedarf wird um rund 50 % steigen. Das bedeutet: entweder muss die Effizienz verdoppelt oder es müssen Ackerflächen auf Kosten von Wäldern und Dschungeln ausgeweitet werden. Die Herausforderung besteht nicht nur darin, mehr zu produzieren. Sie besteht auch darin, dies auf einem vom Klimawandel betroffenen Planeten zu tun.

Die Auswirkungen sind bereits spürbar: lange Dürren in der Sahelzone, verheerende Überschwemmungen in Pakistan, Hitzewellen in Europa und Nordamerika, all das führt zur Vernichtung von Ernten. Der Weltklimarat (IPCC) warnt: Jedes zusätzliche Grad Erwärmung kann die Erträge von Grundnahrungsmitteln wie Weizen, Mais und Reis um bis zu 10 % verringern. Jährlich verlieren wir derzeit 24 Milliarden Tonnen fruchtbaren Boden durch Wüstenbildung.

Die Ackerfläche pro Kopf sinkt rapide – 1960 lag sie noch bei 0,5 Hektar pro Person, heute unter 0,2 und bis 2050 wird sie auf 0,15 Hektar sinken. Der Druck auf Land wird unerträglich werden. Hinzu kommt der Kampf ums Wasser: 70 % der menschlichen Wassernutzung entfallen auf die Landwirtschaft, und Wasserknappheit könnte in den kommenden Jahrzehnten Hunderte Millionen Menschen zur Flucht zwingen.

Technologiemangel ist nicht das Problem in der Zukunft – es geht vielmehr um Souveränität und Gerechtigkeit. Produzieren können wir. Die Frage ist jedoch: Wer entscheidet, was angebaut wird, für wen und zu welchem Preis. Angesichts von zukünftig fast zehn Milliarden Menschen kann Hunger zum wichtigsten Kontrollinstrument werden – oder zur Chance für einen neuen globalen Gesellschaftsvertrag.

Harte Zahlen zu Welthunger und Produktion im Jahr 2050

Die Welt des Jahres 2050 steht in Ernährungsfragen an einem Scheideweg: Rund 9,8 Milliarden Menschen müssen ernährt werden, während Ackerland schrumpft und Wasser zunehmend privatisiert wird. Die Zahlen sind keine Metapher, sondern der Puls der Zeit. Laut FAO litten 2024 bereits 735 Millionen Menschen an chronischem Hunger. Die Weltbank schätzt, dass der Nahrungsmittelbedarf zwischen 2025 und 2050 um 50 % steigen wird, die Produktion jedoch ohne technologische Revolutionen nur um 25 % steigen kann. Asien ist dann führend in der Produktion, doch Afrika könnte die Kornkammer der Zukunft werden – sofern es Infrastrukturdefizite und Klimaschocks überwindet.

Für 2050 besagen die Prognosen:

  • Afrika wird nur etwa 60 % seiner Binnennachfrage decken können und den Rest importieren müssen.
  • Asien wird einen Nettoüberschuss an Reis, Weizen und Gemüse erzielen.
  • Lateinamerika wird bei Soja, Fleisch und Zucker führend sein – das jedoch bei starkem Druck auf die Wälder.
  • Ozeanien und der Pazifik werden im Vergleich zum asiatisch-pazifischen Raum nur marginale Exporteur:innen sein.
  • Europa wird aufgrund von Energiekosten und Klimapolitik seine Nettogetreideproduktion reduzieren.
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Die harten Zahlen (FAO, Weltbank, OECD 2024–2025):

  • AFRIKA: Prognostizierter Bedarf ≈ 1.200 Mt, | Produktion ≈ 720 Mt | Defizit ≈ 480 Mt | Deckung ≈ 60 %
    Nigeria → Bedarf 150 Mt | Produktion 85 Mt | Defizit 65 Mt | Deckung 57 %
    Äthiopien → Bedarf 90 Mt | Produktion 55 Mt | Defizit 35 Mt | Deckung 61 %
  • ASIEN: Bedarf ≈ 3.500 Mt | Produktion ≈ 3.950 Mt | Überschuss ≈ 450 Mt | Deckung 113 %
    Indien → Bedarf 700 Mt | Produktion 780 Mt | Überschuss 80 Mt | Deckung 112 %
    China → Bedarf 1.100 Mt | Produktion 1.250 Mt | Überschuss 150 Mt | Deckung 114 %
  • LATEINAMERIKA: Bedarf ≈ 1.000 Mt | Produktion ≈ 1.100 Mt | Überschuss ≈ 100 Mt | Deckung 110 %
    Brasilien → Bedarf 250 Mt | Produktion 300 Mt | Überschuss 50 Mt | Deckung 120 %
    Argentinien → Bedarf 80 Mt | Produktion 100 Mt | Überschuss 20 Mt | Deckung 125 %
  • EUROPA: Bedarf≈ 600 Mt | Produktion ≈ 550 Mt | Defizit ≈ 50 Mt | Deckung 92 %
    Russland → Bedarf 120 Mt | Produktion 140 Mt | Überschuss 20 Mt | Deckung 117 %
  • OZEANIEN + PAZIFIK: Bedarf ≈ 150 Mt | Produktion ≈ 160 Mt | Überschuss ≈ 10 Mt | Deckung 107 %
    Australien → Bedarf 40 Mt | Produktion 45 Mt | Überschuss 5 Mt | Deckung 112 %
  • WELT GESAMT: Bedarf ≈ 6.450 Mt | Produktion ≈ 6.580 Mt | Überschuss ≈ 130 Mt | Deckung ≈ 102 %

     

Das Spielbrett von Hunger und Macht 

Die globalen Zahlen lügen nicht – sie entlarven: Bis 2050 wird der Nahrungsmittelbedarf 12 Billionen US-Dollar pro Jahr übersteigen und das auf einem globalen Markt, der heute bereits 6,8 Billionen US-Dollar (2024) bewegt. Es geht dabei nicht nur um Hunger – es geht um Geschäft. Die Krise entsteht nicht durch Dürre, sie entsteht durch Profit. Getreide wird in Chicago gehandelt, nicht auf den Feldern der Sahelzone.

  • Afrika wird zum Epizentrum des Defizits: Die landwirtschaftliche Gesamtproduktion (geschätzter Wert: 1 Billion US-Dollar bis 2050) deckt nur 60 % der internen Nachfrage, die auf 1,7 Billionen US-Dollar geschätzt wird. Der Kontinent wird jährlich über 300 Milliarden US-Dollar für Importe ausgeben, während die Bevölkerung die Marke von zwei Milliarden überschreitet. Die Sahelzone könnte bis zu 20 % ihres Ackerlandes durch Wüstenbildung verlieren. Länder wie Nigeria werden jährlich 45 Milliarden US-Dollar für Grundnahrungsmittelimporte aufwenden. Dieser Kontinent, der einst Kolonialreiche ernährte, wird nahrungsmässig von eben diesen Reichen abhängig sein.
  • Asien wird die Versorgung dominieren: Die landwirtschaftliche Produktion übersteigt 4,5 Billionen US-Dollar, wobei China und Indien 60 % davon erwirtschaften werden. Der innerasiatische Handel erreicht 1 Billion US-Dollar. Überschüsse bei Reis, Weizen und Gemüse machen die Region zur digitalen Kornkammer des Planeten. Investitionen in Präzisionslandwirtschaft und Biotechnologie werden jährlich über 250 Milliarden US-Dollar betragen. Bis 2050 werden Peking und Neu-Delhi mehr Einfluss auf Brotpreise haben als jede westliche Hauptstadt.
  • Lateinamerika wird seine Rolle als strategischer Exporteur beibehalten: Der landwirtschaftliche Gesamtwert steigt von 800 Milliarden US-Dollar (2024) auf über 1,5 Billionen US-Dollar bis 2050 – angetrieben durch die Produktion von Soja, Fleisch, Zucker und Biokraftstoffe. Brasilien wird ein Volumen von 450 Milliarden US-Dollar erreichen, Argentinien 180 Milliarden, Mexiko 200 Milliarden. Doch 70 % des Handels werden weiterhin von den vier Agrarmultis – Cargill, ADM, Bunge und Louis Dreyfus – kontrolliert, deren Gesamtvolumen 600 Milliarden US-Dollar jährlich überschreiten wird. Lateinamerika produziert Nahrung für 1,2 Milliarden Menschen, doch jede vierte Lateinamerikaner:in wird nicht dreimal am Tag essen können.
  • Europa wird einen schmalen Grat beschreiten: Die Produktion sinkt um 8 % auf 900 Milliarden US-Dollar, während die Nachfrage bei rund 950 Milliarden liegen wird. Europa wird Weizen aus dem Schwarzmeerraum, Obst aus Marokko und Fleisch aus Südamerika importieren. Umweltauflagen werden die Lebensmittelpreise um 15 % erhöhen. Agrarsubventionen wird die EU bei rund 60 Milliarden US-Dollar jährlich halten können – ein Luxus, den sich Afrika oder Lateinamerika nicht leisten können.
  • Ozeanien und der Pazifik werden eine marginale, aber profitable Exportrolle einnehmen: Australien und Neuseeland führen die Region mit einer Produktion von 250 Milliarden US-Dollar an, darunter 30 Milliarden Überschuss an Getreide und Eiweiss. Die Region wird Asien ernähren – nicht sich selbst.
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Das globale Gleichgewicht wirkt auf dem Papier insgesamt stabil: Gesamtausstoss 8 Billionen US-Dollar, Nachfrage 7,9 Billionen – ein technischer Überschuss von 2 %. Doch diese Zahl ist eine statistische Illusion. Die reichsten 10 % werden 80 % des Agrarhandels kontrollieren. 2050 wird der Marktwert von Weizen, Mais und Soja 1,2 Billionen US-Dollar übersteigen, während mehr als 700 Millionen Menschen weiterhin chronisch hungern.

Hunger entsteht nicht durch Knappheit, sondern durch Ungleichheit. Die Kriege von morgen werden nicht um Öl geführt werden, sondern um Wasser, Weizen und fruchtbares Land.

  • Afrika und Südamerika werden die begehrten Felder sein.
  • Asien das technologische Zentrum.
  • Europa der massgebende Konsument.
  • Die Vereinigten Staaten der Finanzvermittler.

Nahrung wird Macht sein. Wer sie kontrolliert, entscheidet, wer isst – und wer kniet.

Das Brot der Welt

Das Brot der Welt wird nicht mehr im Ofen gebacken. Sein Preis wird auf Bildschirmen ermittelt. Weizen hat einen Eigentümer. Hunger nicht. Im Jahr 2025 wird mehr mit Lebensmitteln gehandelt als mit Öl, und Getreide macht mehr als 30 % des globalen Rohstoffhandels aus. Jede Tonne Weizen ist mehr wert als das Leben eines Bauers, und jede Dürre ist eine Chance für einen Hedgefonds.

Der Planet kann zehn Milliarden Menschen ernähren – und doch hungert fast eine Milliarde. Nicht wegen Mangel an Boden, sondern wegen übermässiger Profite. Die Hälfte dessen, was wir für Kriege und Verschwendung ausgeben, würde ausreichen, den Hunger bis 2050 zu beenden. Die Zahlen belegen es – unser Gewissen verweigert es.

Das 21. Jahrhundert steht vor seinem grundlegendsten Dilemma: Entweder wird Nahrung zu einem globalen Recht – oder zum neuen Gesicht politischer Kontrolle. Die Konzerne, die über Saatgut und Getreide herrschen, sind heute mehr wert als ganze Nationen. Ihre Macht liegt nicht in Traktoren, sondern in Daten. Bis 2050 werden jene, die die Felder über Satelliten und Klima-Algorithmen steuern, darüber entscheiden, wer isst – und wer flieht.

Das Brot der Welt darf kein Geschäft bleiben. Es muss zu einem Pakt werden. Wenn das Jahrhundert des Wassers Krieg und das Jahrhundert des Lithiums Energie repräsentiert, dann wird das Jahrhundert der Nahrung Gerechtigkeit bedeuten – oder Barbarei. Weizen hat keine Flagge. Aber Hunger hat ein Gesicht.

Nahrung als Waffe

Nahrung ist zur leisesten und wirksamsten Waffe globaler Macht geworden. Man muss keine Rakete abfeuern, um Chaos auszulösen – es reicht, einen Hafen zu schliessen, eine Weizenladung zurückzuhalten oder den Maispreis zu erhöhen. Hunger, aus Konzernzentralen und staatlichen Büros gesteuert, unterwirft ganze Völker, ohne einen Schuss abzufeuern. Was ein Grundrecht sein sollte, ist zu einem unsichtbaren Schlachtfeld geworden, auf dem die Ärmsten immer verlieren. Gaza zeigt das in seiner brutalsten Form: Das Blockieren von Nahrung und Wasser wurde zur Kriegsmethode, die eine eingeschlossene Zivilbevölkerung bestraft – mit Hunger nicht als Konsequenz, sondern als bewusster Strategie.

Doch die Zukunft ist noch nicht verloren. Ernährungssouveränität ist möglich, wenn Menschen die Kontrolle über ihr Land, ihre Saaten und ihre Märkte zurückgewinnen. Nachhaltige Landwirtschaft – verwurzelt in Natur und bäuerlicher Arbeit – kann den Planeten ernähren, ohne ihn zu zerstören. Regionale Zusammenarbeit kann Importabhängigkeit durch solidarische Produktions- und Verteilungsnetzwerke ersetzen. Technologische Innovation, ethisch genutzt, kann Ernährungssicherheit stärken, statt sie in wenigen Händen zu konzentrieren.

Hunger als Waffe funktioniert nur, solange Abhängigkeit akzeptiert wird. Sobald Menschen erkennen, dass Nahrung keine Ware, sondern Leben ist, verliert Erpressung ihre Macht. Die Geschichte zeigt: Kein Imperium währt ewig. Und auch keine Kette hält für immer.

Die Zukunft wird im Boden entschieden, im Wasser und im Samen. Wer das Brot kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Wer Land und Saatgut verteidigt, verteidigt das Leben.

 

Quellenverzeichnis

FAO – The State of Food Security and Nutrition in the World – 2024

Weltbank – Agricultural Outlook and Food Systems Report – 2024

OECD–FAO – Global Agricultural Outlook 2023–2032

WFP – Global Hunger Report – 2024

IWF – World Economic Outlook – 2024

UNEP – Food Systems and Climate Change Report – 2023

IPCC – AR6 Climate Change and Land Use Report – 2023

SIPRI – Food Security and Geopolitical Stability – 2024

UNCTAD – Trade and Development Report – 2024

IFPRI – Global Food Policy Report – 2024

FAOSTAT – Agricultural Production and Trade Data – 2024

World Bank Data – Commodity Prices and Food Index – 2024

Oxfam – Hunger and Inequality Report – 2023

ILO – Rural Employment and Poverty Trends – 2023

WWF – Food, Land and Biodiversity Atlas – 2024

EAT–Lancet Commission – Planetary Health Diet Update – 2024

Vereinte Nationen – SDG Progress Report – Goal 2 Zero Hunger – 2024

Global Footprint Network – Agricultural Land Use Indicators – 2024

Mauricio Herrera Kahn

Mauricio Herrera Kahn
Mauricio Herrera Kahn

Der Maschinenbauingenieur schloss 1975 sein Studium an der Technischen Universität von Ecuador (UTE) ab und verfügt über mehr als 45 Jahre Erfahrung im Bergbauingenieurwesen und in der Projektentwicklung. Er bekleidete Positionen als Geschäftsführer, Projektleiter und Leiter der Ingenieurabteilung in nationalen und internationalen Unternehmen, wo er Studien und Projektabwicklung nach dem EPCM-Modell (Engineering, Procurement and Construction Management) leitete. Derzeit ist er Geschäftsführer bei HyB Ingenieros und entwickelt Studien und Analysen für neue Anlagen und Prozesse mit Fokus auf Investitions- und Betriebskosten. Seit mehreren Jahren verfasst er Artikel und Kolumnen zu nationalen und internationalen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Analysen.

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