Normopathie scheint nicht nur auf Politiker überzugreifen, sondern zunehmend auch auf Journalisten und Intellektuelle. Eine spannende, wenngleich hier nur am Rande zu erwähnende mentale Grundlage für eine solch pathologische «Empfänglichkeit» der Deutschen schufen die Nürnberger Gesetze, in denen das menschlich Abnorme (mit Begriffen wie «Rassenschande», «artverwandtes Blut», «Arier», «Deutschblütigkeit» etc.) zur gesellschaftlichen Norm erhoben und der Bevölkerung eingepeitscht wurde – was bis ins Jahr 2000 hinein mit dem Rechtsprinzip des Jus Sanquinis (des Blutrechts) in der BRD und der DDR fortgeführt wurde (mit Relikten bis heute). Auf die Übernahme von nationalsozialistischem Justizpersonal ins Rechtssystem der BRD sei nur kurz hingewiesen (Polizei, Justiz, Gefängnisaufsicht …); in der DDR gab es diesbezüglich 1952/1953 immerhin eine «Säuberung» im Justizsystem.
Das Rückgrat der Globalisierung
Nun aber endlich zum Thema. Lassen Sie uns mit der «Norm» beginnen. Zumindest eine Norm kennen wir alle: die DIN A4, das vermutlich erfolgreichste Exportprodukt Deutschlands seit 1922 und inzwischen als ISO 216 international genormt. Warum aber muss ein platt gewalztes Stück Papier aus der Kalanderwalze einer Normgrösse unterworfen werden? Die Antwort fällt leicht: damit all die relevanten und weniger relevanten Papierprodukte entstehen können. Zu den relevanten gehörten zum Beispiel die Bibel, der Koran oder das Tripitaka, noch wichtiger sind das Bürgerliche Gesetzbuch, das Strafgesetzbuch, am wichtigsten aber ist die Industrienorm ISO 9001, das druckfähige Rückgrat der Globalisierung. Weniger relevant sind all die Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbücher dieser Welt, mit denen wir uns am Baggersee auf die Decke legen.
Der Doppelcharakter der Normen
Normen sind also mentale Ordnungselemente, die häufig dem Denken, Analysieren und Beurteilen vorausgehen. Sie sind die Glaubenssätze jeder Zivilisation, ganz gleich, ob wir von einer indigenen, einer asiatischen oder einer westlichen Zivilisation sprechen. Wer denkt schon beim Ausklappen eines Zollstocks daran, dass auf ihm der Zentimeter über den Zoll triumphierte, die metrische Norm über die nicht metrische, die heute offiziell nur noch in den USA, Liberia und Myanmar Vorschrift ist? Und welcher Mohammedaner überlegt lange, bevor er bei der Begrüssung die rechte Hand ausstreckt, seit Mohammed kundtat, dass der Teufel einen mit der linken Hand begrüsst?
Zusammengefasst: Ohne Normen ist ein geregeltes – und damit gewaltfreies – Zusammenleben nicht vorstellbar. Normen sind sinnvoll, aber nicht gut. Denn «gut» ist ein Wertbegriff, der in der Regel abgrenzend oder gegenüber Fremdnormen auf einer vergleichbaren Ebene sogar abwertend klingt bzw. gemeint ist (es sei denn, es heisst: «gut für …»). Normen sind also beides: sinnvoll und bedenklich. Dieser Doppelcharakter der Norm wirkt sich besonders auf psychologischer Ebene aus.
Normen sieben die Spreu vom Weizen
Lassen Sie mich diese These illustrieren. Wer schon mal im Gebirge Wandern war, der kennt die Vorwarnung «Nur bei Trittsicherheit». Begibt man sich auf einen solchen Steig, dann gelangt man gelegentlich an stark ausgesetzte Stellen, bei denen es einem schwindelig werden kann. Für diese Wegabschnitte kann man sich an der Gefahr oft an dicken Stricken, die mit starken Eisen im Fels gesichert sind, vorüberhangeln – sehr beruhigend. Meist verfliegen dann Anflüge von Höhenangst und man ist dankbar für eine solche Wegführung. Nun, Normen haben eine diesen Stricken vergleichbare Funktion. Sie ersparen uns langes Überlegen bzw. Befürchtungen, sich möglicherweise falsch zu verhalten. Wer nicht stiehlt, folgt einer Norm, wer es dennoch tut, verstösst gegen diese Norm und wird, so hoffen wir, bestraft. Normen verschaffen also nicht nur Sicherheit, sie trennen auch die Spreu vom Weizen. Selbstverständlich sind wir der Weizen (meistens jedenfalls und öffentlich immer). Normen sind die Sicherungsstricke durch unsere komplexe Wirklichkeit. Je einfacher eine Intelligenz gestrickt und/oder je schmaler ihr Horizont ist – Intelligenz und Horizontweite sind keineswegs kongruent –, desto bedeutsamer sind diese Stricke. Würde man die Mentalitäten von Menschen auf eine Ebene projizieren, so gäbe es Ebenen mit einer übersichtlichen Anzahl von Leitstricken und solche mit einem schieren Labyrinth davon.
Eine ganz normale Gewohnheit
Normen sind Spurrillen, auf denen unser Denken, Handeln und Reagieren, Sprechen und Kommunizieren mühelos und zuverlässig stattfindet. Das muss allein schon deshalb so sein, weil die uns allgegenwärtig umgebende Technik ohne Normen (ISO 9001 !) undenkbar wäre. Man stelle sich einmal vor, Hyundai folgte bei der Bremsenproduktion oder den Sicherheitsgurten anderen Normen als VW. Oder wir würden uns nicht an die Norm, im Strassenverkehr rechts zu fahren, halten. Haben Sie schon einmal versucht, mit dem Rauchen aufzuhören (oder einer anderen Pseudosucht) oder Ihre Ernährung auf «vegan» umzustellen? Gewohnheiten sind zwar keine Normen im eigentlichen Sinn, aber auf psychischer Ebene funktionieren sie genauso. Eine Gewohnheit zu ändern, ist verdammt schwer und umso schwerer, wenn sie den Normen oder Gewohnheiten einer sozialen Gruppe zuwiderläuft, also z. B. seine Zigarettenabstinenz in einer Gruppe von Rauchern aufrechtzuerhalten.
Angenehmer Zwang
Die meisten Menschen – ich schätze mal, mindestens 80 Prozent – bemerken die Spurrille, auf der sich ihr mentales oder emotionales Fahrzeug bewegt, gar nicht. Und wenn doch, so sind sie meistens froh um die Zuverlässigkeit, mit der sie das Gefährt via Autopilot durchs Leben manövriert. Der verbleibende Rest muss mit dem gefühlten Verhaltenszwang umgehen, der durch die Norm ausgelöst wird. Die häufigste Reaktion ist das Verwerfen einer Norm, indem man sich einer anderen Norm unterwirft, etwa wenn Jugendliche gegen die Konventionen ihrer Eltern protestieren und in die Normen einer Clubkultur oder einer Gamer-Community abtauchen; oder wenn Christen aus Protest Mohammedaner werden und, und, und … Eine weitere, häufige Reaktion auf Normenzwang besteht in einer dem Stockholm-Syndrom ähnlichen Fühlweise: Wenn ich mich gegen einen Zwang nicht wehren kann, dann entgehe ich der (ansonsten) permanenten emotionalen Spannung, indem ich zu dem, was mich zwingt (dem Entführer, dem Vater, der Mutter, den Lehrern, Vorgesetzten und Zollbeamten, dem Gesetz, der Norm) ein emotional positives Verhältnis aufbaue. Ich «frame» den Zwang als gut und sinnvoll für mich und für alle anderen. Das ist zwar noch keine Normopathie, aber doch ein entscheidender Grundstein dafür, der sich auf sexueller Ebene zum Beispiel im Masochismus äussert: Erst in der Unterwerfung werde ich lustfähig.
Die ganz normale Normopathie
Der «ganz normale» Normopath gibt seine innere Distanz zur Norm vollständig auf und überantwortet sich ihr: Sicherheit pur. Die Norm wird ihm nicht nur zum Gewissensersatz, sondern auch zum allein selig machenden Bewertungsmassstab seiner Umgebung (z. B. sind dann alle Andersdenkenden «Querdenker»). Die Individualität des Normopathen schnurrt auf die flache Dimension einer Norm zusammen. Daran musste ich denken, als ich kürzlich das Interview mit einer Bürgermeisterkandidatin der CSU verfolgte, die gefragt wurde, ob sie sich einen Lebenspartner vorstellen könne, der in einer anderen Partei Mitglied sei. Ihre impulsive und geradezu heftige Reaktion: «Nein, das wäre unmöglich.» Quod erat demonstrandum, die Fessel sitzt. Die arme Frau.
Normen sind sozusagen das Wasser, in dem der Fisch schwimmt und über das er gar nicht erst nachdenkt. Für den «Fisch Mensch» ist der Kapitalismus ein solches «Wasser», ein mehrdimensionales Normengewebe, das ihn unsichtbar in seiner Wachzeit umgibt und beinahe jede (!) seiner Handlungen reguliert, steuert oder überhaupt erst auslöst. Nun gehört es zur Pathologie der Normopathen, dass er seine Normen für wahr und wirklich nimmt, für selbstverständlich, oft sogar für «natürlich». Das Norm-Thema «Heterosexualität» war eine solche Norm, die der Durchschnitts-Hetero jahrhundertelang für «natürlich» hielt. Die Nachricht, dass auch im Tierreich Homosexualität keine Seltenheit ist, musste ihn bestürzen. Oder: Wenn die Person A einen Krieg für unmoralisch hält und deshalb bereitwillig in den Krieg zieht, um ihrer Norm konform in den kriegerischen Konflikt einzugreifen, muss sie zwangsläufig mit ihrer eigenen Norm ein Problem haben und ist deshalb zu Scheinlösungen und Heuchelei gezwungen.
Warum «zwangsläufig»? Weil sich die Wirklichkeit von A, auch wenn es sich bei ihm um ein sehr einfach gestricktes Gemüt handeln sollte, mit ihren unübersehbar vielen Variablen nur sehr eingeschränkt normieren lässt. Die Wirklichkeit ist nicht normierbar (schon die relativ einfache Ökologie eines Naturtümpels lässt sich in keinem Labor der Welt 1:1 nachbauen); jeder Normversuch muss also von der Vielfalt der Wirklichkeit und ihren täglich wechselnden Dimensionen – interessengesteuert – abweichen, was A dann aber leugnen muss. So muss A in unserem Beispiel zwangsläufig all die vergessenen (oder wohlweislich übersehenen) Kriege, momentan etwa die im Sudan oder in Mosambik, Myanmar oder West-Papua wütenden Kriege, ebenso ausblenden wie das normunabhängige Leiden jeder Kriegspartei, jedes einzelnen vom Krieg betroffenen Menschen sowie den Lustgewinn der Kriegsprofiteure. Ganz ähnlich, nur in einem global grösseren Massstab, verhält es sich mit den jährlich Millionen von Hungertoten, die wir geflissentlich übersehen, damit wir auf die Normen unseres Wohlstands pochen können. Aber das ist eben ganz – normal.
Zur Selbstüberprüfung
Den grassierenden Zustand der Normopathie habe übrigens nicht ich erfunden. Er gehört zu den psychiatrischen Analysewerkzeugen und ist festgelegt in den ICD-10, der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, einer medizinischen Klassifikationsliste der Weltgesundheitsorganisation. Normopathie wird, wie viele andere pathologische Geisteszustände, von den Befallenen in der Regel nicht wahrgenommen, sondern tendiert vielmehr dazu, auch die Menschen des persönlichen Umfeldes vereinnahmend zu affizieren. Daher hier die offizielle Definition:
Unter Normopathie wird eine Persönlichkeitsstörung des Menschen verstanden, die sich in einer zwanghaften Form von Anpassung an vermeintlich vorherrschende und normgerechte Verhaltensweisen und Regelwerke innerhalb von sozialen Beziehungen und Lebensräumen ausdrückt. Ein treibendes Moment hierbei ist das unter Aufgabe der eigenen Individualität übersteigerte Streben nach Konformität, das letztlich zu unterschiedlichen Beschwerdebildern und Symptomatiken führt und sich zu einem pathologischen Geschehen ausweiten kann; das heisst, gesellschaftliche Fehlentwicklungen werden als solche nicht mehr hinterfragt oder gar erkannt. Die unbedingte Überanpassung an sozio-kulturelle Normen wird damit zur Krankheit. Da im Prinzip der Wunsch nach Normalität nicht als krankhaft, sondern eher als eine gesunde Einstellung gilt, wird die Pathologie des Geschehens mit ihrer häufig somatoformen Symptomatik oft nicht als solche wahrgenommen. (Wikipedia)
*** Bei den Worten «Alt-Achtundsechziger», «Putin-Versteher» und «Krieg» handelt es sich um Begriffe, die sehr stark normabhängig, meist feindselig und kommunikationsstörend verwendet werden.