Die Zerreissprobe

Wie die Digitalisierung die Arbeitsbeziehungen auflöst

Die «schöpferische Zerstörung» hat es schon immer gegeben, nicht erst seit der grosse Ökonom Joseph Schumpeter den Begriff vor 75 Jahren in die Diskussion gebracht hat. Aber wie sich die Wirtschaft seit einigen Jahren unter dem Schlagwort «Disruption» – (Zer)Störung – verändert hat, übertrifft an Tempo und Gründlichkeit alles bisher Dagewesene. Im Silicon Valley sind Dutzende von Start-ups unterwegs, die nichts anderes tun, als die Geschäftsmodelle etablierter Firmen digital zu unterlaufen und zu beerben. Role model ist der cholerische Steve Jobs selig, der mit der Plattform iTunes die Musikindustrie total umgekrempelt hat.
Die Digitalisierung bringt uns nicht nur alle Produkte zum vermeintlich besten Preis nach Hause, sie verändert buchstäblich alles, auch die Arbeits- und Sozialverhältnisse, die uns jahrzehntelange Sicherheit geboten haben.

Die Digitalisierung kommt, trotz Massenarbeitslosigkeit
Liberalisierung und Globalisierung haben das «Normalarbeitsverhältnis», auf dem die alten Konzepte beruhen, schon lange in Frage gestellt und viele Menschen in den Industrieländern ins Prekariat getrieben. Jetzt geht es in die nächste Runde. Bis Mitte des Jahrhunderts sollen zwischen 30 und 40 Prozent aller Tätigkeiten digitalisiert sein. Experten hoffen, dass im gleichen Zeitraum in ähnlicher Grössenordnung neue Arbeitsplätze entstehen. Aber wer weiss das schon?
Dass trotz Massenarbeitslosigkeit in vielen Ländern digitalisiert werden wird, was digitalisiert werden kann, daran haben die Experten kaum Zweifel. Global agierende Konzerne und sehr viel Risikokapital treiben den Wandel voran. Computer, Automaten und Roboter haben aus Sicht des Kapitals viele Vorzüge: Sie machen keine Fehler, sie haben keine kranken Kinder oder pflegebedürftige Eltern, sie geben keine Widerworte, sie streiken nicht, sie stellen keine Fragen, sie wollen keinen Nachtzuschlag, sie brauchen keinen Urlaub.
Unterbeschäftigung und Unterbezahlung haben heute viele Gesichter. Eines ist die «Selbständigkeit». Sicher, es gibt sie: «Entrepreneure», die als Start-up ihren Business Case mit Leidenschaft verfolgen, entwickeln und Erfolg haben. Aber auch das ist zu beobachten: eine seit Jahren schnell wachsende Schar von Menschen, die sich und ihre Familien als Freiberufler und ernähren müssen und manchmal auch wollen. Darunter auch viele Handwerker1. Was für die «digitale Bohème» als Freiheit daherkommt, selbstbestimmt zu arbeiten und zu leben und die Welt mit neuen Geschäftsmodellen zu beglücken, ist für die anderen der Einstieg in einen wirtschaftlichen Existenzkampf. Dieser Kampf hat weder die Vorzüge des Unternehmertums (Selbstbestimmung, gehobenes Einkommen, Gestaltungskompetenz) noch die relative Sicherheit, die in der Vergangenheit mit festen Anstellungen verbunden war. Als Einzelkämpfer stehen sie im Wettbewerb mit immer mehr «crowdworkern» aus aller Welt. Diese schöne neue Arbeitswelt hat viele Gesichter:

Cloudworking: Unternehmen ziehen mit allen Daten in die Cloud um. Das macht es einfach, die Arbeit so zu organisieren, dass die Mitarbeiter nicht mehr an einem Unternehmensstandort sein müssen. Sie greifen rund um die Uhr auf alle arbeitsplatzbezogenen Daten zu.  Aufgaben werden zur Bearbeitung freigegeben oder auch unternehmensintern ausgeschrieben. Die Bezahlung kann fix sein, aber auch an den Bestbieter gehen. Manchmal werden auch Wettbewerbe organisiert, bei denen nur die Sieger gewinnen (wie heute in der Architektur üblich).
Crowdworking: Crowdworker finden ihre Kunden (Unternehmen oder private Haushalte) mit Hilfe von Plattformen wie bei Uber, My Hammer, Helpling u.v.a. mehr. Der Preis kann fix sein oder über Versteigerungen laufen (Helpling, Mein Macher). Ein Teil des Umsatzes geht an die Betreiber der Plattformen.
Crowdcreation und Open Innovation: Sie organisieren Problemlösungen oder Designprozesse über Plattformen. Dieser Arbeitsmarkt beruht auf Ausschreibungen die für jeden oder für eine ausgewählte Zahl von Anbietern offen sind. Open Innovation wird inzwischen von grossen Unternehmen bewusst eingesetzt, um umwälzende Innovationen zu forcieren oder um die Sicht der Kunden oder anderer Marktakteurinnen gezielt in die Prozesse zu integrieren.
Co-Design und kollaborative Wertschöpfungsprozesse: Immer öfter dürfen auch die Kunden «mitarbeiten». Mit ihren Anregungen, ihrer Kritik und der Ausarbeitung ihrer Wünsche helfen sie Unternehmen dabei, genau die Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, die ihnen anschliessend verkauft werden.

Vorreiter USA
Diese Digitalisierung der Arbeitswelt hat in den USA früher begonnen und ist deutlich weiter fortgeschritten als in Europa. Neben dem «Drive», mit dem die Datenbankmilliardäre und die Startup-Szene diese Entwicklung mit viel Kapital vorantreiben, sind auch die Besonderheiten des amerikanische Bildungssystem ein Grund dafür. In Ermangelung dualer Bildungsgänge können die für den Erfolg notwendigen «Skills» nur über «training on the job» erworben werden. Wer nicht zur Elite gehört, dem wird sehr viel Entrepreneurship, Pragmatismus und Kreativität abverlangt.
Insgesamt soll es in den USA heute über 2000 Crowdsourcing-Plattformen geben. Experten gehen davon aus, dass in den USA inzwischen 30 Prozent aller Berufstätigen «ihr eigener Unternehmer» sein wollen oder müssen und dass der Anteil in den nächsten Jahren auf 40 Prozent ansteigt.2 Die Plattform «Freelancer» spricht für 2013 von 8,8 Mio. Nutzern und 4,9 Mio. Projekten. Clickworker spricht von 400 000 Mitgliedern. Amazon Mechanical Turk, einer der Marktführer, macht gar keine Angaben.

Auch in Deutschland ein Trend
Auch in Deutschland ist die Zahl der Solo-Selbstständigen angestiegen3. Mit 12 Prozent liegt sie aber immer noch deutlich unter dem EU-Durchschnitt (17 Prozent). Nirgendwo sonst in Europa (von Belgien abgesehen), sind Soloselbständige so gebildet, haben einen akademischen Abschluss oder sind Meister. Ein hoher Anteil der Selbständigen gehört zur «kreativen Klasse», übt einen künstlerischen Beruf aus, ist Lehrer oder Dozentin, Dolmetscher, Publizistin, Psychologe oder in pflegerischen Berufen, als Kosmetikerin oder als Heilpraktiker tätig.4
Ihr Einkommen bleibt meist weit hinter dem anderer Selbständiger und Arbeitnehmer zurück. Da die so erzielten Einnahmen für die meisten die Haupteinnahmequelle der Familie ist, kann mehr als die Hälfte nichts fürs Alter sparen.

Verteilungskämpfe im Internet und auf der Strasse
Verteilungskämpfe spielen auch in dieser neuen, bunten Arbeitswelt eine grosse Rolle. Was im 19 Jh. in blutigen Kämpfen dem Kapital an Teilhabe und Sicherheit abgerungen hatte, steht jetzt heute auch in Europa auf dem Spiel. Denn jeder und jede kämpft für sich allein. Und: Mit Crowdsourcing bauen manche Unternehmen bewusst Druck auf Stammbelegschaften auf, um Gehaltsforderungen zu unterlaufen oder einfach nur billiger zu produzieren. Die individualisierten und unorganisierten Freelancer-Massen machen es möglich.
Weder in den USA – wo die Crowdsourcing-Debatte länger geführt wird – noch in Europa wurden bisher akzeptable Rahmenbedingungen für diese neuen «Arbeitsmärkte» geschaffen.
Der Handlungsbedarf ist enorm:
■    Transparenz, wen die Plattformen als Bieter akzeptieren und wie die Verfahren laufen
■    Rechtliche Fragen zur Rolle der Plattform
■    Urheberechtliche Aspekte, vor allem bei Wettbewerben, bei der Suche nach Lösungen oder wenn kreative Prozesse Bestandteil der Gebote sind
■    Transparenz und Mitsprache bei Preisbildung und Verteilung der Umsätze
■    Recht auf Selbstorganisation und Interessenvertretung
■    Anpassung der sozialen Sicherungssysteme, Alterssicherung, Absicherung von Risiken wie Krankheit, Berufsunfähigkeit, Unfall
■    Wettbewerbsneutrale Steuersysteme.

Das Kapital ist international
Digitale Arbeitsmärkte und Geschäftsmodelle machen vor nationalen Grenzen nicht Halt. Nicht nur Frauen und Kinder in Afrika und Asien müssen für Hungerlöhne arbeiten, weil es möglich ist. Auch Software-Ingenieure aus Europa, die mit ihren Kollegen auf dem indischen Subkontinent, Asien oder Afrika in einen Preiswettbewerb eintreten, haben schlechte Karten. Dass die Lebenshaltungskosten in Europas Metropolen um bis zu 1000 Prozent höher sind als in manch anderen Regionen der Erde – was soll’s?
Wen interessiert schon das Schicksal sozialversicherungspflichtiger Taxifahrer, die neuerdings mit Gelegenheitsfahrern konkurrieren sollen, die nur hin und wieder mal ein paar Euro nebenher zu verdienen oder Hoteliers, die mit Privatunterkünften im Wettbewerb stehen, die über Plattformen vermietet werden.
Das neue Proletariat findet man heute auf diesen grauen Arbeitsmärkten, für die sich bisher weder die Politik noch Gewerkschafter interessieren. Vereinzelt wie sie sind, müssen sie tagaus und tagein, auch nach getaner Arbeit – wenn sie mit Sternchen und Kommentaren «geratet» werden – die Willkür von Kunden ertragen.

Wer profitiert von der Null-Grenzkosten-Ökonomie?
Die auf Digitalisierung beruhende Null-Grenzkosten-Ökonomie hat einen Janus-Kopf. Sie kann das Wissen der Welt allen Menschen, die Zugang zum Internet haben, zu Verfügung stellen. Sie kann uns die Möglichkeit eröffnen, über Teilen und Tauschen unseren Wohlstand zu vergrössern, ohne immer mehr Ressourcen zu verbrauchen. Sie kann unseren Umgang mit Energie und Ressourcen viel effizienter gestalten. Sie erhöht die Produktivität und bietet damit neue Chancen. Sie kann dazu beitragen, dass auch die kleinsten und entferntesten Dörfer der Welt ihre Energie und alles, was es sonst noch braucht, selber herstellen und mit der Welt im Austausch sind.
Aber in erster Linie ist sie kein «Befreiungsprojekt». Für diejenigen, die diese neuen Geschäftsmodelle erfinden und für das Risikokapital, das sie finanziert, ist die Digitalisierung vor allem ein «Business». Das heisst: Sie muss Profit abwerfen, je eher und mehr, desto besser. Und der ist nicht zu knapp: Uber leitet 25 Prozent des Umsatzes in die eigene Kasse, das deutsche Start-up «helpling» für Reinigungsdienste 20 Prozent. Die Auftragnehmer sind Einzelunternehmer, «helpling» spart so Mehrwertsteuer in Millionenhöhe. Auch die auf Private ausgerichtete Dienstleistungsplattform «Zürich kocht» zieht 20 Prozent ab. Und selbst Crowdfunding-Plattformen mit sozialem Anspruch verlangen 10 Umsatzprozente für ihre Vermittlungsdienste. In der digitalen Welt lässt sich also ohne grosses Risiko viel Geld verdienen, vorausgesetzt, man ist der Erste im Geschäft.
Die Digitalisierung der Wirtschaft durchdringt immer mehr Lebensbereiche und vollstreckt das neoliberale Dogma der Effizienz des freien Marktes in aller Welt. Sie löst bewährte sozialpolitische und rechtliche Bindungen auf, ohne bisher an ihre Stelle etwas Neues zu setzen. Das Neue ist bestenfalls ein Nichts aus ungezügelten Marktkräften.
Die Proletarisierung der Arbeitswelt hat für viele Freelancer bereits begonnen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die wachsende Zahl schlecht bezahlter Taglöhner die Grundfesten sozialer Sicherheit in Europa zutiefst erschüttert.

Wir brauchen eine disruptive Sozialpolitik und wehrhafte Demokratien
Schon die erste industrielle Revolution hat bewiesen: Ganz gleich, um welche soziale Errungenschaft es sich handelt, vom Arbeitslosengeld über die Krankenversicherung bis zur Rente, nichts ist den Bürgerinnen und den Arbeitnehmern einfach so «geschenkt» worden. Jeglichem sozialem Fortschritt (und Rückschritt) gingen immer gesellschaftliche Auseinandersetzungen voraus.
Noch nie war das global agierende Kapital so übermächtig und unkontrollierbar. Und schon lange nicht mehr war Europa und seine Nationalstaaten so schwach und ihre Lage so unübersichtlich. Kein Wunder also, dass sich viele an die ökonomischen, sozialen und politischen Krisen Anfang des 19. Jh. erinnert fühlen. Selbst das Säbelrasseln und Aufrüstungsgerede passt hier erschreckend gut ins Bild.
Solange der Mut fehlt, diesen Entwicklungen eine nicht weniger entschlossene «disruptive» Politik gegenüber zu stellen, bleibt die Lage schwierig. Ideen, wie das gehen könnte, gibt es viele: von einer deutlichen Arbeitszeitverkürzung bis zum Grundeinkommen. Alle Massnahmen, die die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern stärken und die Wirtschaftsräume zu schaffen, die ausserhalb des Raubtierkapitalismus faire Tauschbeziehungen ermöglichen.
Dies kann direkt und vor Ort zwischen Menschen über die Neuorganisation ihrer Tauschbeziehungen erfolgen (Tauschbörsen, regionale Währungen, regionale Finanz- und Wirtschaftskreisläufe) und durch Veränderungen der Rahmenbedingungen wie das Grundeinkommen oder grundlegende Steuerreformen: Kapitalsteuern, Maschinensteuern, Vermögenssteuern, Ressourcensteuern.
Die Digitalisierung macht dies alles nicht unbedingt einfacher. Es sei denn, wir nutzen das Internet endlich für Selbstorganisation, Stärkung der Zivilgesellschaft, Solidarität und demokratische Prozesse. Denn wer immer nur für sich selber und alleine kämpft, hat schon verloren.


----------------------------
1 Fast 40 Prozent aller UnternehmerInnen, die in Deutschland in der Handwerksrolle eingetragen sind, sind «Ein-Personen-Unternehmen». Auch wenn Studien belegen, dass viele von Ihnen diese Lebensform einer festen Anstellung vorziehen, belegt ein Blick in die Statistik der Unternehmensgründungen, dass in Zeiten der Vollbeschäftigung die Existenzgründungen regelmässig deutlich zurückgehen.
2 https://medium.com/insanely-great/citrix-future-of-work-insights-into-the-changing-workplace-113d1cc85a2d#.h0o1yoje0
3 Solo-Selbständige, DIW Wochenbericht 7/2013
4 ebenda
--------------------------
10. Oktober 2016
von: