«Fremde in Malix»
Meine Reportage von 1987 könnte fast Wort für Wort auch heute geschrieben sein. Der Blick zurück aus dem Podcast «Mitten im Leben» (1.Teil)
Die ersten Asylbewerber in Malix 1987: «Jetzt sind sie halt da.» (Bild Willy Spiller)
Die ersten Asylbewerber in Malix 1987 bestaunen die Schweizer Kühe. (Bild www.willyspiller.com)

Auf dem Gelände des Campingplatzes Buosingen zwischen Lauerz und Arth im Kanton Schwyz will der Bund ein Zentrum für hauptsächlich bereits abgelehnte Asylbewerber erstellen. Doch während die kantonale Regierung das Projekt unterstützt, haben Informationsanlässe gezeigt, dass die Haltung der Bevölkerung klar ist: Die Schwyzer wollen dieses Zentrum nicht – auch nicht an einem anderen Standort.

Der jüngste Widerstand gegen eine geplante Asylunterkunft zeigt, dass das Problem auch Jahrzehnte nach seiner Entstehung ungelöst ist. 1987, vor bald 40 Jahren, reiste ich, damals noch als Autor für die «Schweizer Illustrierte», ins Bündner Bergdorf Malix, wo die 476 Einheimischen von einem Tag auf den anderen 45 Asylbewerber beherbergen mussten – fast zehn Prozent der Einwohnerzahl. Kein anderes Dorf hatte damals so viele Migranten wie die Berggemeinde oberhalb Chur.

Beim Wiederlesen meines Berichts stelle ich fest: Die Reportage von 1987 könnte heute geschrieben sein. So wie damals ist es noch immer: Wir akzeptieren die vielen Migranten, öffnen ihnen unser Sozialsystem, ermöglichen ihnen die Integration – doch ihre Zahl ist zu gross. Was umso mehr dazu führt, dass sie uns fremd bleiben.

Mein Text als Zeitdokument, leicht bearbeitet, hier im Wortlaut:


I

«Das Asylantenheim? – Kommen Sie.»

Der ältere Mann, der mit mir im Postauto von Chur heraufgekommen ist, weist den Weg. Wir schreiten bergan, durch das Dorf, Malix, dessen Häuser über den Hang verstreut fest im Boden verwachsen sind, Häuser aus starkem Gemäuer und Holz – keines, das nicht hineinpassen würde in diese Bergwelt, mitten im Hang die Kirche im Dorf, weiss und rein vor dem Blau des Himmels: ein Bild aus der Schweiz. Wir durchschreiten das Bild, und auf meine entsprechende Frage erwidert der Einheimische:

«Solange sie uns in Frieden lassen, sollen sie bleiben, von mir aus.»

Das Heim, sagt der Mann, liegt etwas oberhalb und abseits, das ist gut so. Nur wenn sie ins Dorf kommen, sieht man wieder ein paar von ihnen. Sie stehen vor dem Konsum herum, oder sie warten aufs Postauto nach Chur. Sie sind immer nett und sagen Grüezi, wenn man ihnen begegnet.

Wir haben die Kirche erreicht, linkerhand führt ein Fussweg zum Heim hinauf. Zehn Minuten, hat der Mann gesagt. Die Häuser von Malix bleiben zurück, ich wandere bergwärts.

Dann folgt die nächste Seite des Bilderbuchs: Etwas oberhalb steht ein grosses, schmuckes Chalethaus, schön gelegen, prächtige Aussicht – wie ein Ferienheim sieht es aus, das Flüchtlingsheim. Ein vertrauter Anblick, ich erinnere mich an die Ferienlager in meiner Kindheit. Einzig die Schweizerfahne, das leuchtende, rotweisse Banner des Wohlgeordneten und Intakten – sie fehlt auf dem Bild.

Aus dem Eingang tritt Marc, der junge Heimleiter, er hat mich erwartet. Das Haus war früher ein Kinderheim, erklärt er mir beim Hineingehen. Dann führt er mich zum Gemeinschaftsraum, er öffnet die Tür – und hier endet das Bilderbuch. In der niedrigen Stube sitzen die Flüchtlinge. Es sind Männer, fremde Männer. Sie sitzen um Tische herum, sie rauchen, spielen Karten, spielen Eile mit Weile, unterhalten sich mit gedämpften Stimmen und scheinen auf das Mittagessen zu warten.

Die Männer sind Kurden aus der Türkei. Als ich den Raum betrete, unterbrechen sie ihren Zeitvertreib. Die Köpfe wenden sich dem fremden Schweizer Besucher zu, Augenpaare mustern mich abwartend. Ich blicke in dunkle Gesichter, dunkel in ihrem Ausdruck, es liegt ein Schatten auf ihnen. Ich nicke den Männern zu, versuche ein Lächeln – und bei einigen komme ich an, ihre Züge hellen sich auf, sie lächeln zurück, vorsichtig.

Marc, der Heimleiter, führt mich in die andere Ecke der Stube, über Tausende von Kilometern hinweg – und was für ein Gegensatz: Die Tamilen lachen mir schon entgegen, helle Augen blitzen aus dunkler Haut, herzlich wird der unbekannte Europäer begrüsst. Sie müssen jünger sein als die Kurden, vor allem wirken sie jünger. Einer der Tamilen sitzt auf dem Schoss seines Kameraden, der ihn zärtlich umfasst und hin und wieder im Haar krault.

Unter jungen Schweizern habe ich dergleichen noch nie gesehen, es irritiert mich. Auch ihr ständiges Lächeln irritiert mich. Soviel Freundlichkeit bin ich mir nicht gewohnt.

Ich folge dem Heimleiter in sein Büro, das gleich neben der Stube liegt, vorbei an den aufmerksamen Blicken der Kurden, die sich zu fragen scheinen, in welchem Auftrag der fremde Schweizer gekommen ist, ob er ein Beamter oder ein Freund ist. Wir machen die Tür hinter uns zu, obwohl dies nicht nötig wäre. Aber wir möchten einen Moment unter uns sein. Unter Schweizern.

Da klopft es. Ein Kurde streckt den Kopf herein, in der Hand hält er Kleingeld bereit: «En’schuldigung, Zigaretten bitte.» Marc öffnet den Schrank, der ein kleines Sortiment Zigaretten und Schokolade enthält.

«Marlboro, bitte», sagt der Kurde.

Die meisten der Asylanten im Heim haben keine Arbeit. Entweder dürfen sie noch nicht arbeiten, weil sie erst kurze Zeit in der Schweiz sind, oder sie sind auf der Suche. Finden sie einen Job, wird ihnen vom Lohn regelmässig ein Betrag für die Kosten verrechnet, die sie dem Kanton verursacht haben. Zu diesen Unkosten gehört auch das Taschengeld, das sie im Heim bekommen: 4 Franken im Tag. Das Päckchen Marlboro kostet 2 Franken 70. Der Heimleiter nimmt das Geld entgegen und öffnet die Kassenschublade in seinem Pult. Sie ist bis an den Rand mit Noten und Münzen gefüllt. Schweizer Geld.

Der Kurde steht noch immer neben uns. Er sieht das viele Geld, hat es vermutlich schon oft gesehen – und muss es doch immer wieder betrachten, jedesmal, wenn er Zigaretten kauft.

An der Wand, schön aufgereiht, hängen Polaroidbilder von sämtlichen 45 Bewohnern – fast ausnahmslos Männer. Unter den Fotos stehen die Namen, damit die Heimleitung weiss, wer zu welchem Namen gehört. Es sind schwierige Namen für Schweizer Zungen, und man muss sich immer wieder an neue gewöhnen: Uluginar Görsel, Yigit Hüseyin, Vijayabalan, Jeyakunar, Sithamparanathan.

Neben den Fotos hängen die Koch– und Putzpläne für die laufende Woche. Da steht: «Café complet: Vasanthakumar + Sivakanthan». Das steht jetzt so da, denke ich, und scheint so ganz selbstverständlich. Aber haben sich Vasanthakumar und Sivakanthan jemals träumen lassen, dass sie eines Tages in einem Bergdorf in Europa für das Frühstück verantwortlich wären?  Zuhause, in Sri Lanka, gibt es kein «Kafi gomple». Kein «Confibrot». Keine «Ovi». Keine rot–weiss gehäuselten Tischtücher.

Die Tür öffnet sich leise, zögernd. Ein Tamile schiebt sich herein: «Letter coming?»

Der Heimleiter hat vorher die Post geholt im Dorf unten. Aber für den jungen Asylanten, der scheu und erwartungsvoll vor uns steht, ist wieder kein Brief gekommen. Er muss sich weiter gedulden, muss warten, obwohl er so jung ist,
warten auf Nachricht, warten auf Arbeit, warten auf den Asylentscheid – warten auf das Glück beim Eile mit Weile.

«Mit Warten vergeht die Zeit hier», sagt der Heimleiter. Um die vielen Stunden europäisch sinnvoll zu nutzen, wird Deutschunterricht erteilt, und geplant sind auch Kurse in Handwerk und Technik. Die Asylanten aus der Dritten Welt sollen etwas Nützliches lernen, etwas, das sie brauchen können, wenn sie eines Tages zurückkehren. Aber alles ist freiwillig. Einzige Verpflichtung: die tägliche Hausarbeit.

Viele der Heiminsassen fahren mehrmals in der Woche nach Chur hinunter, um sich die Zeit zu vertreiben. Dort, in einem zweiten Asylantenheim, sind ihre Landsleute. Man trifft sich, erzählt sich das Neueste, hängt am Bahnhof herum, in der Innenstadt, in den Beizen und vor den Schaufenstern.

Geld für ein Bier oder auch zwei ist immer vorhanden, denn die Glücklichen, die eine Stelle gefunden haben, sind grosszügig, sie behalten nicht alles für sich. Und jene, die mindestens sechs Monate gearbeitet haben, bekommen danach als Arbeitslose immerhin Stempelgeld. Auch sie können sich etwas leisten. Eine Flasche Schnaps zum Beispiel statt immer nur Bier. Dann kehren sie manchmal erst spät zurück, mit dem letzten Postauto, und bewegen sich in heiterem Zustand durchs Dorf hinauf.

Das führte schon zu Reklamationen, wegen Nachtruhestörung; und einmal hat sich die Gemeinde beschwert, dass der Weg durch das Dorf von leeren Flaschen, Büchsen und Zigarettenpäckchen gesäumt sei. Sonst aber hat das Heim in den anderthalb Jahren seines Bestehens wenig Klagen zu hören bekommen.

«Wir haben ein gutes Verhältnis zum Dorf», sagt der Heimleiter. Schon ganz am Anfang, erzählt er, wurde ein Tag der offenen Tür veranstaltet. Diesen Sommer, erfahre ich weiter, hat das Flüchtlingsheim einen Arbeitseinsatz im Malixer Wald durchgeführt. Die Asylanten stapelten Äste und lasen Abfälle auf. Allerdings glaubte die Heimleitung, der Einsatz werde entlöhnt. Doch die Gemeinde wollte nur ein Taschengeld zahlen. Eine kleine Unstimmigkeit. Sonst aber funktioniert die Zusammenarbeit.

Der Heimleiter lehnt sich zurück. Seine Zwischenbilanz darf sich sehen lassen. Das Asylantenheim von Malix ist kein Fall für die Schlagzeilen. Auch im Heim selbst ist es bisher nie zu grösseren Zwischenfällen gekommen, keine Massenschlägerei, keine Hungerstreiks, keine Blutrache. Malix beweist offenbar, dass es geht. Den Asylanten scheint es hier zu gefallen. Und das Dorf mit seinen 476 Einwohnern hat gegen die dunkelhäutigen Fremden scheinbar nichts einzuwenden. 

Malix heute

Das Bündner Bergdorf Malix heute (Bild Adrian Michael)

II

Der Posthalter von Malix blickt hinter seinem Schalter hervor und meint: «Wenn wir freundlich mit ihnen sind, dann sind auch sie freundlich. So ist es immer.»

Der Posthalter ordnet die Post. Sie kommen oft, die Tamilen, erzählt er mir, sie fragen immer, ob ein Brief für sie da ist. Mit einzelnen Worten auf Deutsch und Gebärdensprache suchen sie die Verständigung. Der Postler ist ihnen wohlgesinnt.«Ich habe nichts gegen sie. Sie machen eine ehrlichen Eindruck.»

Ein Kunde betritt das kleine Postamt. Als er hört, was das Thema ist, meint er in seinem trockenen Bündner Dialekt: «Solange wir genug für uns selber haben, können wir denen auch etwas geben.»

Der Herr wohnt in Malix, er ist Vertreter, beruflich oft unterwegs, da sieht er die Asylanten manchmal am Strassenrand stehen und Autostopp machen.

«Ich habe sie schon oft mitgenommen. Warum nicht. Es sind auch Menschen, arme Teufel. Sie haben es nötiger als wir.»

Ob die armen Teufel politisch verfolgt worden sind oder nicht, was soll’s. Für ihn, den Schweizer, ist das eher Entwicklungshilfe, wenn wir die Tamilen bei uns aufnehmen. Statt dass wir Geld spenden, dürfen sie zu uns kommen. Wir geben ihnen zu essen, sie bekommen Kleider und Unterstützung. Das machen wir gern für sie.

«Jeden Tag eine gute Tat!», meint der Vertreter und lacht. Er verabschiedet sich.

Der Posthalter ist mit dem Sortieren von Paketen beschäftigt. Über die jungen Männer aus Sri Lanka weiss er nur Gutes zu sagen. Ich bin erstaunt: Soviel Toleranz hätte ich nicht erwartet. Reden im Dorf alle so? – In einem Nebensatz gibt sich der Posthalter als gläubiger Christ zu erkennen. Das erklärt seine Haltung ein wenig. Die bei uns Gestrandeten aus dem Entwicklungsland, bedürfen sie nicht in besonderem Masse der christlichen Nächstenliebe?

Ich frage den Posthalter von Malix, ob er es gut findet, dass die Asylanten in die Schweiz kommen.

«Was soll man da sagen», entgegnet er nachdenklich. Dann, nach einer Weile: «Eigentlich gehören die Leute dorthin, wo sie aufgewachsen sind. Man kann auch nicht eine Pflanze an einen Ort verpflanzen, wo sie nicht hingehört.»

Doch er schwächt die Bedeutung seiner Worte sogleich ab, indem er hinzufügt: «Jetzt sind sie halt da, die Asylanten.» Und das heisst für ihn, den Christen: Es war Gottes Wille.

Ein Rundgang durch das Dorf und die Frage an die Malixer: Was denkt ihr über die Asylanten? – Zuerst kommen immer dieselben Antworten: Sie stören uns nicht. Wir haben keine Probleme mit ihnen. Dann aber kommen Geschichten hervor, Beobachtungen aus Schweizer Sicht:

Beim Schulhaus oben hat eine Frau drei Tamilen mitten auf der Strasse liegen sehen. Es war um die Mittagszeit, die Sonne schien, und die Tamilen dösten entspannt vor sich hin...

Eine andere, ältere Einwohnerin sah ein tamilisches Paar die Kirche verlassen. Als sie kurz danach selber ins Gotteshaus trat, brannte auf dem Taufstein ein Kerzchen.

Ein junger Einheimischer hat am Wochenende sein Sturmgewehr vor dem Haus gereinigt, als zwei Tamilen des Weges kamen. Als sie die Waffe erblickten, erschraken sie und ergriffen die Flucht.

Die Malixer schauen genau, was die dunkelhäutigen Fremden tun. Sie erzählen sich, was sie wieder gesehen haben und wundern sich über die eigenartigen Typen.

«Sie sind mir einfach ein wenig unheimlich, ich weiss nicht warum.»

Die junge Mutter sitzt vor dem Haus, strickt an einem Pullover. Jetzt lässt sie das Strickzeug für einen Augenblick sinken und überlegt. «Dieses Lächeln», sagt sie, «das ist es wahrscheinlich. Man weiss nie, was sie denken. Und ihre Sprache – man versteht ja kein Wort.» Sie wirft einen Blick zu den Kindern hinüber, die beim Brunnen am Spielen sind.

«Ich kenne Mütter», erzählt sie, «die lassen ihre Töchter nicht mehr allein nach Chur, seit es dort so viele Asylanten hat.» Schon zweimal hätten Asylbewerber  in Chur Frauen missbraucht – aber beide Male sei in der Presse nichts darüber erschienen. «Wenn ein Schweizer eine Frau vergewaltigt, kommt es sofort in der Zeitung, aber bei den Asylanten verschweigt man es, weil man keine Fremdenfeindlichkeit will.» Ein Bekannter von ihr arbeite bei einer Zeitung in Chur, von ihm habe sie das erfahren.

«Manchmal hat man das Gefühl, die Asylanten dürfen sich alles erlauben», fährt sie fort. Die junge Frau ist Präsidentin des Kindergartenvereins im Dorf. Zwei Asylantenkinder, erzählt sie, durften den Kindergarten besuchen. Das ging gar nicht gut. Einmal kamen sie, einmal nicht, und wenn sie kamen, waren sie aggressiv und schlugen die einheimischen Kinder. Aber dann hiess es immer: Man muss Verständnis haben, das sind Flüchtlingskinder.

«Ich war überhaupt nicht dieser Meinung. Wenn ich in ein fremdes Land gehe, kann ich auch nicht erwarten, dass sich alle nach mir richten.»

Die Frau hat ihr Strickzeug vergessen, ihr Bündner Temperament ist in Fahrt geraten, sie weiss noch mehr zu berichten: Von einem Afrikaner erzählt sie, der auch eine Zeitlang im Heim oben war. Hin und wieder kam er zu ihrem Mann in die Werkstatt, um zu plaudern mit ihm.

«Und wissen Sie, was er meinen Mann gefragt hat: Warum arbeiten Sie eigentlich?»

Die Malixerin schaut mich an, belustigt, entrüstet, beides zugleich. «Er glaubte, weil wir ein eigenes Haus haben und ein Geschäft, müssten wir unendlich reich sein.»

Der junge Afrikaner habe eine Weile gearbeitet, bis er das gesetzliche Soll erfüllt hatte. Dann bezog er das Arbeitslosengeld, das ihm zustand: ‚Warum ich arbeiten, wenn Geld kommt ohne Arbeit?‘ habe er jeweils gesagt. Er erzählte den Schweizern, er sei der Sohn eines hohen Politikers. Als sein Vater nach einem Umsturz verhaftet wurde, sei er, der Sohn, mit Richtung Schweiz ausgereist. Das Land in Europa sei ihm empfohlen worden, weil man da soviel Geld verdiene.

Die Malixerin will nicht den Eindruck erwecken, sie sei eine Fremdenhasserin. «Sehen Sie», sagt sie zu mir, «am Anfang meinte ich auch, man müsse Mitleid haben. Aber jetzt bekomme ich Zweifel.»

So reden manche im Dorf. Sie haben ihre Vorbehalte gegen die Asylanten, und jede neue Beobachtung, auch wenn sie aus zweiter, sogar dritter Hand stammt, gibt den Vorbehalten willkommene Nahrung.

«Gewisse Malixer sollten zuerst vor ihrer eigenen Türe wischen.»

Auch das ist ein Satz, den ich im Dorf zu hören bekomme. Doch wohin ich auch blicke, vor den Türen der Schweizer ist es überall sauber. Da müsste man schon in die Häuser hineingehen, in die Ritzen und Winkel schauen, um auch die Schattenseiten der Malixer zu finden. Ich bin aber nicht deswegen hier.

Dass auch hier oben die Gerechten nicht immer gerecht sind, wäre ein anderes Thema – eines, das überall vorkommt. Ich bin hier, weil mit Malix etwas geschehen ist: Ein Bergdorf im Bündnerland, wo 476 Menschen zuhause sind, hat auf einmal 45 Einwohner mehr. Fast zehn Prozent. Und die Neuzuzüger sind keine Bündner, keine Unterländer, nicht einmal Italiener oder andere Europäer – es sind Fremde. Fremde Männer.

Die Einwohner von Malix hat niemand gefragt, ob sie die Asylanten in ihrem Dorf wollen. Das Flüchtlingsheim gehört dem Schweizerischen Arbeiterhilfswerk. Die Malixer mussten die überraschende Neuigkeit aus der  Zeitung erfahren. 


«Sie arbeiten nur, wenn sie müssen»
Der 2. Teil  in einer Woche, am 15. Mai

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

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