Im Kartoffelkeller
Eine Reise in die Steinzeit der französischen Dordogne. Teil 6 der Sommerserie - und Schluss
Bild: Netzfund
«Diese Landschaft ist voller Türen. Und jede einzelne birgt ein Geheimnis» Bild: Netzfund

Was bisher geschah: Die Hauptstadt der Steinzeit - Der Neandertaler - Das Hotel Cro Magnon - Die Grotte des Zauberers - Der Handwerker aus der Steinzeit - Die Höhle der 100 Mammute - Der Heilige Weg - Das Grosse Wesen - Das Dornröschenschloss - Ein prähistorischer Park - Die falsche Höhle von Lascaux 


 

 «La Mouthe» lautet der Name der Grotte. Und die Frau im Dorf hat gesagt, der alte Bauer zeige sie nicht jedem. Er schaue sich die Leute zuerst einmal an, so habe er das immer gehalten.

Es ist der Tag vor unserer Abreise; zum letzten Mal, diesmal zu Fuss, zweigen wir von der Landstrasse ab und wandern aus dem Tal in die bewaldeten Hügel hinauf; zum letzten Mal umgeben uns die steinernen Bäume mit ihrem dichten Laubwerk, und wieder kommt schliesslich der Augenblick, wo der Wald sich lichtet.

Einige Hütten stehen am Weg, halbzerfallene Hexenhäuschen, an deren Mauern wildes Gewächs emporklettert und in alle Lücken und Löcher dringt. Die Dächer der Hütten sind eingestürzt, niemand wohnt mehr da, schon lange nicht mehr. Das alte Gemäuer lässt kaum mehr erkennen, wer es geschaffen hat, ob der Mensch daran wirklich beteiligt war.

«Hallo! Ist da jemand?»

Unser Ruf verhallt in der Stille.

Insekten spielen im Sonnenlicht - sonst regt sich nichts in dieser kleinen verwunschenen Welt. Wir stehen in ihrer Mitte, nicht ohne eine gewisse Scheu, und blicken uns andächtig um. Wieder beginnt es Abend zu werden, und auch hier, auch diesmal umgibt uns eine Stimmung voller Zauberkraft. Von sonnenversengten Wiesen und modrigen Winkeln strömen betörend Gerüche herbei, die mich an unbeschwerte ländliche Sommertage aus einer fernen Kindheit erinnern.

Aus welcher Kindheit? Woher kommen diese Erinnerungsbilder, welche Hand gibt ihnen Form und Gestalt? Ich habe so viele Fragen, seitdem ich hier bin - und erhalte doch keine Antwort.

«Hallo!»

Die Frau im Dorf hat uns erzählt, der alte Bauer sei noch der einzige, der da oben lebe, er und seine Tiere. Wir haben zwischen den Bäumen ein paar Ziegen gesehen, und eine Katze ist an uns vorübergeschlichen. Doch auf ein menschliches Lebenszeichen stossen wir nicht.

Als wir ein drittes Mal in die Stille gerufen haben, hören wir jemanden kommen. Es ist der Alte. Er geht am Stock, seine Kleider sind geflickt, und auf dem Kopf trägt er ein Beret. Unseren Gruss erwidert er kaum; aber nachdem er uns von oben bis unten gemustert hat, sagt er endlich:

«Sie wünschen die Grotte zu sehen, nehme ich an. Ich werde sie Ihnen zeigen.» Wir scheinen die Prüfung bestanden zu haben.

Bei der letzten Behausung am Weg, wo der Bauer offenbar wohnt, heisst er uns warten. Im Unterschied zu den übrigen Hütten, stellen wir fest, ist hier das Dach noch einigermassen intakt. Doch rund um das verwitterte Mauerwerk lauert bereits die Natur: Der einstige Gemüsegarten ist schon erobert, bis an die Fenster reicht das Unkraut und hangelt sich gierig empor. Das Ende des kleinen, umzingelten Hauses ist längst beschlossen.

Nach einigen Minuten stösst der alte Mann von La Mouthe wieder zu uns; er hat eine Petrollampe mitgebracht und ist begleitet von seinem Spitz, einem eifrigen, schwanzwedelnden weissen Hündchen. Der Weg, auf den er uns führt, entfernt sich von der Siedlung und verläuft dem Waldrand entlang. Während unseres Aufenthalts haben wir viele solche heimlichen Pfade beschritten. Dieser hier ist der letzte.

Der Bauer, der sich beim Gehen stark auf den Stock stützt, verliert unterwegs wenig Worte. Auf unsere Fragen gibt einsilbige, fast widerwillige Antworten; immerhin erzählt er uns aber, schon sein Grossvater habe den Fremden die Grotte gezeigt. Eines Tages sei sogar der deutsche Kronprinz Wilhelm gekommen, um die Sehenswürdigkeit zu besichtigen.

«Früher war das Interesse an den Höhlen viel grösser». fährt er fort.

Aber heute kämen doch viel mehr Leute als früher? wenden wir ein.

«Sie haben kein echtes Interesse mehr. Sie tun nur so.» Der Alte spricht darüber, als sei es unabänderlich. Dann schweigt er für den Rest des Weges.

Er führt uns an den Fuss eines kleinen, bewaldeten Hügels, wo an einer felsigen Stelle, hinter Gestrüpp zunächst noch versteckt, eine Tür ins Erdinnere sichtbar wird. Ein weiteres Mal überrascht, staunend und voller Erwartung stehen wir vor dem Eingang zur Höhle. Die Weihnachtskalender, die ich als Kind so geliebt habe, fallen mir ein. Auch die Landschaft, in der wir uns hier befinden, ist ein solcher Kalender. Sie ist voller Türen. Und jede einzelne birgt ein Geheimnis.

Währenddessen hat der Alte die Pforte aufgeschlossen und heisst uns eintreten. Wieder empfängt uns der feuchtkühle Hauch eines dunklen Gewölbes.

«Früher war dies ein Kartoffelkeller. Manchmal wurde er auch als Ziegenstall benützt.»

Die Erklärungen, die der Einheimische abgibt, sind vom vielen Gebrauch schon so abgewetzt wie die Steinplatten unter unseren Füssen. Nachdem er vorläufig alles gesagt hat, entzündet der wortkarge Alte die Petrollampe und winkt uns mit würdigem Ernst, ihm zu folgen. Der weisse Spitz ist draussen geblieben, wo er nach Auskunft seines Herrn auf uns wartet und den Eingang bewacht. Wir aber dringen ins Höhleninnere vor.

Der Keller verengt sich zu einem Gang, an dessen Fels die kleine Lampe ein schwaches, hin und her schwankendes Licht wirft. Nach einer Weile bleibt unser Führer zum erstenmal stehen, hält die Lampe empor und weist mit seinem Stock auf die Höhlenwand. Es tauchen Bilder auf, wie wir sie inzwischen schon kennen; wir gehen weiter, und gelegentlich zeigt uns der Alte wieder einige Stiere, einige Bisons und einmal sogar ein Nashorn. Auch in dieser Grotte sind immer nur Tiere abgebildet - keine Menschen.

Auf einmal beginnt die Petroleumlampe in der Hand des Alten unruhig zu flackern. Jetzt erlischt sie sogar. Unerwartet befinden wir uns in völliger Nacht.

Ich hatte immer ein wenig Bedenken, so etwas könnte einmal geschehen. Doch nachdem unser erstes Erschrecken sich legt, verspüre ich keine Angst. Die Gegenwart des alten Mannes beruhigt mich; und obwohl mir die Höhle fremd ist, fühle ich mich darin wie beschützt.

Wir stehen regungslos in der Finsternis und hören den Alten in seinen Taschen nach Streichhölzern graben. Dann scheint er sie gefunden zu haben, und wir bemerken im Dunkeln, wie er das Streichholz zu entfachen versucht. Endlich gelingt es ihm, zischend leuchtet das Flämmchen auf, und der alte Mann entzündet eine Kerze damit.

«Die Lampe funktioniert nicht mehr gut», erklärt er in aller Ruhe. «Aber so geht es auch.»

Unsere Führung, die nun im Kerzenschein ihre ungewöhnliche Fortsetzung findet, dauert indes nicht mehr lange. Nachdem wir einige weitere Zeichnungen zu Gesicht bekommen haben, sagt der Alte:

«Jetzt haben Sie alles gesehen. Andere Bilder hat man nicht gefunden.»

Der Tonfall in seiner Stimme ist freundlich geworden, die Geborgenheit, die das Kerzenlicht spendet, scheint auch ihn zu berühren. Wir sind in einem kleinen Raum angelangt, der gleichsam das Ende der Höhle bedeutet. Das Licht der Flamme hüpft und tanzt über die Wände hinauf zur Decke des Raumes, die mich in ihrer Zerfurchtheit an das Innere einer Hand erinnert. Mir ist, ein Riese halte seine Hand über uns. Seine andere trägt uns, zusammen formen sie eine Höhlung, und darin stehen wir nun, kleine Menschenkinder in der Obhut eines friedvollen Riesen.

Ich stelle dem alten Mann die Frage, die mich noch immer beschäftigt: Warum gibt es nur Bilder von Tieren in diesen Höhlen? Warum keine Menschenbilder?

Der Alte, da bin ich sicher, hat diese Frage auch schon gehört. Er hat ein Leben lang Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Seine Antwort ist so knapp und unverrückbar wie alle seine Erklärungen:

«Eine Grotte ist wie eine Kirche», sagt er. «In einer Kirche malt der Mensch nicht sich selbst.» Und nach einer Pause fügt er hinzu: «Die Menschen der Steinzeit waren sehr bescheidene Menschen.»

Damit hat der alte Mann von La Mouthe gesagt, was zu sagen ist, und wahrscheinlich war es bereits viel mehr, als er sagen wollte. Er fällt zurück in sein Schweigen. Es ist das Schweigen der vielen Jahrtausende, die uns umgeben.

Augenblicke später befinden wir uns bereits auf dem Rückweg. Der Schein der Kerze bleibt unser einziges Licht; doch die zerfurchten, schützenden Hände begleiten uns, und es dauert nicht lange, dann haben wir den Ausgang erreicht. Wir treten durch die Pforte, von der Helligkeit geblendet, ins Freie, wo der weisse Spitz schon mit Ungeduld auf uns wartet.

Über der abendlichen Landschaft steht leuchtend eine rotgoldene Sonne - das Zeichen der Gegenwart, die uns willkommen heisst.

 

Schluss


«Im Land der Vergangenheit» stammt aus dem Buch von Nicolas Lindt «Die Freiheit der Sternenberger - Reiseberichte und Dorfgeschichten» (4. Auflage 2019). Der Autor unternahm die Reise in die Steinzeit Ende der 80er-Jahre, aber alles, was er beschreibt, ist in der französischen Dordogne auch heute noch zu entdecken.

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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Alle weiteren Informationen: www.nicolaslindt.ch


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