Im Land der Vergangenheit: Der Heilige Weg
Eine Reise in die Steinzeit der französischen Dordogne, Teil 4
Netzfund
«Wer malte diese Bilder? Männer oder Frauen? Waren es Künstler? Waren es Priester?» Bild: Netzfund

Was bisher geschah: Die Hauptstadt der Steinzeit - Der Neandertaler - Das Hotel Cro Magnon - Die Grotte des Zauberers - Der Handwerker aus der Steinzeit - Die Höhle der 100 Mammute


Der kleine Zug hält erneut – wir haben die Endstation erreicht, weiter kommt man nur noch zu Fuss. Nachdem unser Begleiter eine im Fels verborgene Lichtquelle herbeigezaubert hat, geht er voraus. Der Höhlenpfad führt leicht abwärts, und wir gelangen nach kurzer Zeit zu einem niedrigen, schwach beleuchteten Raum. Hinter seinen zerklüfteten Wänden ist das Rauschen eines unterirdischen Baches zu hören.

Die Decke über uns, die so tief herabhängt, dass man sie fast berühren kann, ist mit Tierzeichnungen geradezu übersät. Doch während der jüngere Mann auf weitere Beispiele aufmerksam macht, hier ein Mammut, dort die Umrisse eines Steinbockes zeigt - drängt in mir diese eine Frage, die mich, seitdem wir uns in der Grotte befinden, nicht mehr in Ruhe lässt: Warum unternahmen die Steinzeitmenschen den beschwerlichen, düsteren Gang in das Dunkel der Höhle? Warum wagten sie sich so tief hinein, wie sie nur konnten? Und warum malten sie diese Bilder?

«Der Weg, den wir gekommen sind, wird der Heilige Weg genannt», höre ich die Stimme des Fremdenführers.

Hier in diesem Raum, so versuche ich zu begreifen, im tiefsten Innern der Grotte, wo das Ende des Heiligen Weges und zugleich sein Anfang ist, standen vor 12‘000 Jahren die Menschen von Crô-Magnon, horchten in dieselbe Dunkelheit, hörten dasselbe beschwörende Rauschen des Baches und fühlten dieselbe Unruhe, denselben Erkenntnishunger in ihrer Seele. Sie hatten wohl keine Worte dafür. In reiner Ehrfurcht standen sie da, während das flackernde Öllicht in ihren Händen ruhelose Schatten über den Fels warf und Gesichter und Fratzen hervortreten liess.

An diesem Ort, so ahnten die Menschen, wo der Bach aus dem Nichts quoll, musste der Ursprung sein: Hier verweilten die Seelen der Verstorbenen, um für die Wiederkehr in das Leben neue Kräfte zu schöpfen, hier ruhte der Tag, solange draussen die Nacht war, und hier schlief der Mond, wenn am Horizont die Sonne aufging. Die Menschen von Crô-Magnon kamen wieder und wieder an diesen Ort, hinterliessen ihre Zeichen und Bilder, bemalten die Decke des Raumes mit all dem, was für sie von Bedeutung, was für sie heilig war: Sie malten die Tiere - und vor allem das Mammut.

Malten sie es, weil das Mammut so mächtig war, so viel stärker als der unbewaffnete Mensch? Stellten sie es so häufig dar, weil es bereits immer seltener wurde zu jener Zeit? Waren die Bilder ein Ausdruck von Wünschen, von der Hoffnung auf glücklichere Jagd?

Oder zeigten sie der Tiere Wanderung durch das Totenreich?

Wer malte diese Bilder: Männer oder Frauen? Waren es Künstler? Waren es Priester, waren sie beides zugleich? Und wer durfte die Bilder sehen? War die Höhle der hundert Mammute eine steinzeitliche Pilgerstätte - oder blieb sie das Mysterium von einigen Wenigen, Ort der Zwiesprache mit dem Jenseits?

«Man weiss es nicht.»

Der Einheimische kann meine Fragen nicht beantworten, und vielleicht will er auch nicht. Ich sehe ihm an, dass er sich zu all diesen Dingen mehr überlegt hat, als er uns preisgibt. Er winkt nun, wir sollen ihm folgen, und wir begeben uns in den hintersten Winkel des Raumes. Ein schmaler Gang führt weiter ins Erdinnere, wir können uns kaum noch vorwärtsbewegen.

«Früher war es noch enger hier!» ruft uns der Fremdenführer zu. Er muss seine Stimme erheben, denn das Rauschen des Wassers wird immer lauter und mächtiger. Unvermittelt mündet der Gang in eine kleine, kabinettartige Nische. Direkt vor uns, verborgen im Fels, tost der unterirdische Bach. Hier ist kein Weiterkommen.

Auch in diesem hintersten und geheimsten Zimmer der grossen Höhle finden wir weitere Bilder von Tieren der Steinzeit. Aber da ist noch etwas: In ihrer Mitte, gleichsam umrahmt von ihnen, lassen sich die Umrisse eines Kopfes erkennen.

Unser Begleiter versucht mit lauter Stimme das tosende Wasser zu übertönen: «Was Sie hier sehen, ist ein menschliches Profil! Es ist absolut einmalig in dieser Höhle. Man taufte es das Grosse Wesen.»

Der unförmige Kopf, die knollige Nase, das riesige Auge, das nur ein leerer Kreis ist: Dies soll ein Mensch sein? Eher gleicht die Zeichnung dem Kopf eines Embryos. Es ist eine geisterhafte Darstellung - geisterhaft, unfassbar wie das Bild des «Zauberers» in der Grotte von Saint-Cirq. Ich muss daran denken, was uns der Verwalter jener Grotte prophezeit hat. Er behauptete, wir würden nirgends auf richtige Menschenbilder stossen. Der Fremdenführer von Rouffignac bestätigt mir dies. Auch er weiss keine Erklärung dafür; aber ich glaube, es gefällt ihm, uns zu sagen, er wisse es nicht.

Wir treten den Rückweg an. An uns vorbei wandern die Tiere, unzählige, kein einziger Mensch unter ihnen. Haben sich die Menschen minderwertig gefühlt? Haben sie eine solche Achtung vor den Tieren gehabt? - Nach kurzer Zeit erreichen wir die Elektrobahn, und die lange, fast halbstündige Fahrt zum Ausgang beginnt. Wieder bewegt sich der kleine Zug mit den zwölf Passagieren im Schrittempo und fast lautlos dahin; wieder streifen die Lichtkegel über die Höhlenwand, und die heiligen Tiere der Steinzeit säumen den Weg.

Sie sind das einzige Zeugnis dessen, was die Menschen von Crô-Magnon fühlten und dachten - doch die Bilder bleiben uns rätselhaft: Wir, die Menschen der Aufklärung, finden für sie keinen Platz in unserem Weltbild. Ungreifbar, unentschlüsselbar ziehen sie an unserem Staunen vorüber,
zeigen sich uns noch einmal so nackt und so stumm, wie sie sind - und tauchen zurück in ihre ewige unterirdische Nacht.

*

Die Grotte der hundert Mammute hinter uns lassend, begeben wir uns spät am Nachmittag mit den Fahrrädern auf den Rückweg. Wieder führt unsere Route durch stille Gefilde, über wenig befahrene Strassen und Wege, durch steinalte Dörfchen mit verwitterten Kirchlein, deren Uhren alle kaputt sind. Jeder Ort hat seine eigene, stehengebliebene Zeit: 12 Uhr mittags vermeldet die eine Uhr, während eine zweite 15 Uhr sagt und die dritte 15 Uhr 15; und jedesmal bleibt der Eindruck, als hätten sich die Zeiger schon seit Jahren nicht mehr von der Stelle bewegt.

In Wirklichkeit - in Wirklichkeit? - ist es bald sechs Uhr abends, und über die sonnige, warme Landschaft legen sich die ersten wohltuenden Schatten. Ein grosser Sommerabend macht sich auf, uns zu empfangen.

Wir gelangen wieder an den Lauf des Flusses, der das Tal gemächlich und versponnen durchzieht, als nähme er sich die Zeit, es in aller Ruhe betrachten zu können. Zunächst verwehrt uns dichtes Ufergebüsch den Blick auf die andere Seite, doch auf einmal lichtet sich das Schilf, und die Sicht wird frei. Benetzt von den Strahlen der späten Sonne fliesst uns zu Füssen, wie ein wunderbar schimmerndes, blitzendes Band, das Wasser vorüber. Von seinem Licht geblendet, fällt unsere Aufmerksamkeit erst jetzt auf die Burg am gegenüberliegenden Ufer. Sie erhebt sich, standhaft und wuchtig, auf einem steil abfallenden Felsenkamm; und so wie sie da steht, unter dem dunklen Blau des Himmels, von Tannen umgeben, umspült von den glitzernden Juwelen des Flusses, wirkt sie märchenhaft. Vor uns liegt die aufgeschlagene Seite eines jener alten Bilderbücher, die heute niemand mehr zu zeichnen vermöchte.

Auf den Zinnen der Burg tut sich nichts, nur ein Fähnchen flattert im Wind. Wieviele Wanderer haben wohl hier schon gestanden und respektvoll hinübergeschaut, im Lauf der Jahrhunderte? – Es scheint, als sei die Burg ein Teil dieser Landschaft, wie der Fluss, der so beschaulich vorübergleitet, wie das leise im Wind sich berührende Schilf. Alles, was uns hier in die Augen fällt, ist schon immer gewesen und wird immer sein. Dieses Bild lässt mich vergessen, dass es Veränderung gibt.

Nur wenig später - wir haben den Weg wieder fortgesetzt - erfüllt uns neuer Entdeckungsdrang. Eine hohe Mauer zieht sich der Strasse entlang; sie scheint nicht enden zu wollen, offensichtlich verbirgt sie etwas vor unseren Blicken, und es reizt uns zu wissen, was sich hinter der hohen Brüstung befindet.

Endlich kommt ein Tor in Sicht und gewährt uns unverhofften Einblick in ein weitläufiges Besitztum, von dem wir vorerst nicht mehr zu sehen bekommen als eine Allee, die durch einen verwilderten Park führt und sich dann verheissungsvoll hinter Bäumen verliert. Das Eingangstor ist geschlossen und völlig verrostet, man hat es wohl seit Jahren nicht mehr geöffnet; aber nach einigem Suchen finden wir ein Loch in der Mauer und steigen ein.

Wir schlagen zu Fuss den Weg der Allee ein, zu deren beiden Seiten grossgewachsene alte Buchen und Eichen stehen, während sich dahinter der frühere Park erstreckt. Wild wächst das Gras; abgebrochene Äste liegen am Boden verstreut, Moos bedeckt die Steinplatten der Spazierwege, eine mächtige Blutbuche neigt sich über den zierlichen Brunnen zu ihren Füssen, und zwischen dem Laubwerk der Bäume schimmert ein stilles Wasser hervor, ein mooriger Teich.

Doch so verwachsen und verlassen dies alles aussieht, einen abweisenden Eindruck macht es nicht. Die Abendsonne, die ihre Strahlen zu uns herübersendet, wärmt und beseelt den vergessenen Park - der sich dem Strom der Zeit längst entzogen hat.

Dann ragen hinter den Baumwipfeln spitze Türmchen wie aus dem Schachspiel hervor. Die Allee führt uns durch ein letztes kurzes Waldstück: Und auf einmal stehen wir vor dem Schloss.

Ein grandioser Anblick tritt uns entgegen, eine prunkvolle Grösse und Grosszügigkeit, die wir uns nicht gewohnt sind. Des Schlosses Flügel streben weit auseinander, und weit und säulengesäumt sind die Treppen, die zu den Portalen geleiten. Wir sehen breite Terrassen, zierliche Zinnen, Balkone und Erker; und vor der Südfront, wo der Blick sich weitet auf die Landschaft im Abendlicht, befindet sich eine kunstvoll angeordnete Gartenanlage, mit Hecken und Lauben, mit einem reich verzierten, mehrstufigen Springbrunnen, mit Palmen, Kakteen und anderen fremdländischen Gewächsen.

Wie paradiesisch muss dieser Garten Sommer für Sommer gediehen sein: Nun dorrt er vor sich hin.

Wir spazieren um das Dornröschenschloss herum, entdecken immer neue Besonderheiten und hoffen zugleich, irgendwo vielleicht einen Einstieg zu finden. Doch sämtliche Türen, Pforten und Fenster sind zu, die Läden verriegelt; alles, was wir durch einige Ritzen erkennen können, sind ins Dunkel entirrende Gänge und Umrisse von Treppengeländern, mehr gibt das Innere nicht von sich preis. Wir müssten einbrechen in das verschlossene Bauwerk, was mühelos möglich wäre, doch wir tun es nicht.

Etwas lässt uns zögern, und es ist nicht nur die Hemmung, fremdes Eigentum zu behelligen. Bald geht die Sonne unter; dann würde es dunkel werden, und die letzte Grenze zur Vergangenheit würde sich auflösen. In einer plötzlichen Eile beschliessen wir, zur Strasse zurückzukehren. Und noch während wir uns auf dem Weg durch den einsamen Schlosspark befinden, verblasst der sanfte rötliche Schimmer, der zuletzt noch auf allem gelegen hat: Die Sonne ist hinter den Hügeln verschwunden. Wir beschleunigen unseren Gang, bis wir endlich, wenig später, die Maueröffnung erreichen, hinter der auch unsere Fahrräder stehen.

In der beginnenden Abenddämmerung legen wir das letzte Stück des Weges nach Les Eyzies zurück. Wir kommen an einem weiteren Schloss vorbei, das denselben verlassenen Eindruck macht; wir sehen eine Burgruine auf einem Hügel, die Reste einer Siedlung auf einer Felsenterrasse, doch dann bricht die Nacht herein. Mit einem schwarzen Tuch deckt sie alles zu, löscht das Licht, die Farben und selbst die Geräusche.

Eine Ruhe, so gross wie der Sternenhimmel, umgibt unsere nächtliche Heimfahrt. Nur die Grillen zirpen noch ihr ewiges Lied.

Es lullt das Land der Vergangenheit in den Schlaf.


Teil 5 folgt am 7. August: Ein prähistorischer Park - Die falsche Höhle von Lascaux 

«Im Land der Vergangenheit» stammt aus dem Buch von Nicolas Lindt «Die Freiheit der Sternenberger - Reiseberichte und Dorfgeschichten» (4. Auflage 2019). Der Autor unternahm die Reise in die Steinzeit Ende der 80er-Jahre, aber alles, was er beschreibt, ist in der französischen Dordogne auch heute noch zu entdecken.

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

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Alle weiteren Informationen: www.nicolaslindt.ch


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