Das vergessene Volk
Tibet - das war einmal ein Land, anders alle andern. Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben».
Tibetische Gebetsfahnen: «Eine so schlichte, gelebte Gläubigkeit findet sich nirgends sonst auf der Welt» (Bild Netzfund)
Tibetische Gebetsfahnen: «Eine so schlichte, gelebte Gläubigkeit findet sich nirgends sonst auf der Welt» (Bild Netzfund)

Manchmal, mitten im Drama des Weltgeschehens, fällt mir ein Volk ein, das es eigentlich gar nicht mehr gibt. Die Welt hat für das tibetische Volk keine Zeit mehr. Niemand spricht noch vom Land hinter dem Himalaya. Denn im Grunde ist Tibet kein Land. Es ist bloss eine «autonome Region» und gehört zu China, auch wenn die Tibeter das nie gewollt haben.

Bereits in den Fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts besetzten die chinesischen Kommunisten auch Tibet, und im September dieses Jahres hat China den 60. Jahrestag der Machtübernahme in Tibet gefeiert. Staatschef Xi Jinping persönlich besuchte Lhasa, die tibetische Hauptstadt, und wohnte einer folkloristischen Darbietung bei, die zu seinen Ehren veranstaltet wurde.

Die Parade fand auf dem Platz vor dem Potala-Palast statt, der einst vom Dalai Lama bewohnt worden war. Doch der Dalai Lama, die höchste tibetische Autorität, ergriff schon 1959 die Flucht ins Exil, und China würde ihm niemals erlauben, in seine Heimat zurückzukehren. Im Tibet von heute ist nur schon das Aussprechen seines Namens verboten. Einen grausameren Ort als den Platz vor der Potala-Residenz hätten die chinesischen Behörden in Tibet für die Feierlichkeiten nicht auswählen können.

Schon auf dem Fluglatz war Xi Jinping mit Folklore empfangen worden. Wie freiwillig ihm die Tibeter in ihren Trachten zuwinkten, lassen die Bilder von seiner Ankunft nicht erkennen. Doch was mir sofort in die Augen stach, ist ein Detail, das scheinbar keine Bedeutung hat. Der chinesische Autokrat trägt nicht nur wie gewohnt Anzug und rote Krawatte. Er trägt einen weissen Schal.

Das tut weh. Auch mir tut es weh. Denn der weisse Schal war das erste, was ich von Tibet wusste.

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Der chinesische Staatschef Xi Jinping im August dieses Jahres bei seinem Besuch in Tibet (Bild savetiberet.org)

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Im gleichen Jahr 1959, als der Dalai Lama seine Heimat fluchtartig hatte verlassen müssen, erschien in Europa ein Comicband mit dem Titel «Tim in Tibet». Einige Jahre später entdeckte auch ich die Abenteuer von Tim und Struppi. Das Buch über Tibet las ich mehr als nur einmal. Die darin illustrierte Welt faszinierte mich. Und ich werde nie die Szene vergessen, als der Abt des tibetischen Klosters dem jungen Tim einen weissen Schal umlegt. Er tut es, weil er in Tim einen Menschen mit reinem Herzen sieht.

Der weisse Schal und die fröhlichen bunten Gebetswimpel, die Mönche in ihren Sandalen und weinroten Roben, ihre mystisch klingenden Hörner, ihre Zimbeln und die entrückte, schwindelerregende Bergwelt des Himalaya: Das war Tibet für mich.

Dass das Land militärisch besetzt war und ein tibetischer Aufstand gegen die chinesischen Kommunisten Zehntausende Tote gefordert hatte, wusste ich damals nicht. Tibet blieb ein Traumbild für mich - auch dann noch, als ich erwachsen wurde.

Alles, was ich von Tibet las, verstärkte in mir das Bild eines Landes, das in unsere Welt nicht hineinpasst. Die meisten Staaten auf dieser Welt sind «schuldige» Länder. Auch die Schweiz ist ein Täterland. Tibet nicht. Das tibetische Volk tut der Welt nichts zuleide. Die Tibeter sind Menschen wie wir, so gut wie wir und so schlecht wie wir, und ihre Gesellschaft bedarf der Erneuerung wie alle Länder mit starker Verwurzelung. Doch in seinem Wesen ist das Volk der Tibeter etwas Besonderes. Eine so schlichte, gelebte Gläubigkeit wie in Tibet findet sich nirgends sonst auf der Welt. Und der spirituelle Weitblick des Dalai Lama – wenngleich auch er nur ein Mensch ist – inspiriert nach wie vor Millionen von Suchenden.

Auch die Lage Tibets kann kein Zufall sein. Es befindet sich auf dem «Dach der Welt». Tibet ist ein Land, das dem Himmel näher liegt als der Erde.

Doch mit jedem Jahr, das vergeht, wird das kleine Land vom grossen Land mehr verschluckt. Seit Jahrzehnten bereits fördert und belohnt der chinesische Staat ganz gezielt die Einwanderung von Chinesen in Tibet. Besonders in Lhasa und anderen Städten Tibets werden die Einheimischen bald in der Minderheit sein. Auch die Schlüsselstellen in Industrie und Verwaltung sind zumeist von Chinesen besetzt.

China meint es nicht böse. China versteht dieses Volk einfach nicht. Es versteht nicht, warum Tibet nicht modern sein will. Nicht auf die gleiche Art modern, wie China es ist, frei von den Fesseln des Gestern. Das tibetische Volk ist den Chinesen unheimlich. Deshalb will das grosse Land das kleine Land umerziehen. Es will Tibet zu seinem modernen Glück zwingen.

Und was tun die Tibeter? Was haben sie all die Jahre getan gegen die chinesische Daumenschraube? Haben sie sich gewehrt, so wie andere unterdrückte Völker und Minderheiten?

Ja, es gab diesen Widerstand. Es gab ihn seit der Machtübernahme durch China. Exiltibeter haben jahrzehntelang weltweit und unermüdlich Protestaktionen organisiert, Demonstrationen veranstaltet, Prominente für Tibet gewonnen und tausend Stellungnahmen verschickt, um so das Schicksal ihrer Brüder und Schwestern in Tibet öffentlich anzuprangern. Währenddessen haben mutige Menschen im Lande selbst trotz Repression und Verfolgung die Flamme der Rebellion immer wieder von neuem entzündet. Flugblätter wurden heimlich verteilt, spontane Kundgebungen gewagt, Videofilme und Bilder hinaus in die Welt geschmuggelt.

Doch all diese lauten und leisen Proteste schafften es nicht, die Welt so sehr aufzurütteln, dass China seine Diskriminierung von Tibet hätte aufgeben müssen. Der chinesische Staat verbat sich im Gegenteil jede Einmischung in «innerchinesische Angelegenheiten».

So wurde das jedes Mal formuliert – während die Unterdrückungsmaschinerie in Tibet ungebremst weiter wirkte und vor Jahren bereits so vollkommen war, dass selbst kleinste Proteste schon im Keim ausgelöscht wurden. Der durchwegs gewaltlose Widerstand der Tibeter wuchs nicht etwa zur lodernden Flamme, sondern schmolz zu einer da und dort bloss noch aufglimmenden Glut, die von der Welt kaum beachtet wurde.

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Irgendwann war die Aussichtslosigkeit der Proteste so gross, dass den Tibetern wie jedem geschundenem Volk nur noch eines blieb: der Weg der Gewalt. Doch wogegen richtete sich die Gewalt? Gegen die chinesischen Unterdrücker?

Die Tibeter – wir wissen es – richteten die Gewalt gegen sich selbst.

Vor 16 Jahren, im Winter 2009, übergoss sich im Nordosten Tibets ein tibetischer Mönch mit Benzin und setzte sich selber in Brand. Für kurze brutale Minuten wurde die verlöschende Glut zur lodernden Fackel, die in der Welt endlich Betroffenheit und Beachtung fand. Eine Selbstverbrennung war so etwas Schreckliches, dass niemand sie ignorieren konnte.

Bald folgte die zweite, die dritte lebende Fackel, bald zündeten sich auch Tibeter an, die keine Mönche gewesen waren, bald waren es nicht nur ältere, sondern auch junge Menschen, die mit ihrer selbstzerstörerischen Aktion die Botschaft vermitteln wollten, dass das Leben unter der Knute Chinas unerträglich geworden war. Und da die Staatengemeinschaft nicht eingriff, da niemand half, sahen sie bloss noch den Ausweg, diese kalte Welt unter brennendem Schmerz zu verlassen – und auf diese Weise gehört zu werden.

Die Selbstverbrennungen wurden zum Flächenbrand. Innert weniger Jahre verbrannten sich weit über hundert Tibeterinnen und Tibeter, und die Welt, zumindest die westliche Welt, protestierte. Sie ersuchte das empfindliche Riesenreich höflich, die Menschenrechte zu respektieren. Doch der chinesische Staat dachte keinen Moment daran, seine eiserne Faust um Tibet ein wenig zu lockern. Im Gegenteil, die Behörden verschärften die Repression. Die Kommunikation mit dem Ausland wurde, so weit es nur ging, unterbunden und drakonisch bestraft. Journalisten durften Tibet nur von Chinesen begleitet bereisen. Die Welt sollte von weiteren lebenden Fackeln schon gar nicht erfahren.

Wer sich in Tibet dazu entschloss, den Flammentod zu erleiden, wusste, dass seine Angehörigen dafür büssen mussten. Gelang es der Polizei, eine Selbstverbrennung mittendrin zu vereiteln, wurden die schwer verletzt Überlebenden zwar behandelt, aber danach inhaftiert. Wie viele ihrer Landsleute verschwanden sie für Jahre in den Kerkern von Tibet.

Chinas harte Hand war erfolgreich. Immer weniger Lebenszeichen aus Tibet erreichten das Ausland. Und schaffte es doch wieder einmal eine Selbstverbrennung in die Medien der Welt, dann lieferte sie keine Schlagzeile mehr. Der Betroffenheitsbonus des Westens, was Tibet betraf, war aufgebraucht. Das blieb nicht ohne Wirkung auf die Menschen im Land hinter dem Himalaya. Sie fühlten sich schmerzlich allein gelassen und isoliert. Ihre Verzweiflung wurde zur lähmenden Ohnmacht. Und immer deutlicher wird ihnen klar, dass die Welt sie vergessen hat.

Es geschah im Februar vor drei Jahren, als sich der 81jährige Nomade Tashi Phuntsok vor einer Polizeiwache in der Nähe eines buddhistischen Klosters verbrannte. Vorher soll er noch eine Botschaft an junge Menschen in Tibet gerichtet haben: «Tibetische Millenials, verliert nicht den Mut!»

In Kyegudo, nur wenige Tage später und ebenfalls in der Nähe eines Klosters, setzte sich Tsering Samdup in Brand. Er überlebte mit schweren Verbrennungen. Vom Feuer für immer gezeichnet, wurde er von der Polizei abgeführt. Wohin er gebracht wurde, erfuhren seine Angehörigen nicht.

Tsewang Norbu, der dritte, der für Tibet zu sterben bereit war, zündete sich im gleichen Monat mitten in Lhasa und direkt vor dem Potala-Palast an. Er war erst 25 und in ganz Tibet und darüber hinaus bekannt als Popmusiker, der in Fernsehshows auftrat und vielleicht eine grosse Laufbahn vor sich gehabt hätte.

Der junge Mann war das 161. Opfer in der langen und traurigen Liste der menschlichen Fackeln von Tibet. Seither ist kein neuer Fall einer Selbstverbrennung bekannt geworden. Offenbar haben die Menschen in Tibet so sehr resigniert, dass sie die Entschlossenheit, für ihre Heimat ihr Leben zu opfern, nicht mehr aufbringen. Jede Regung inmitten des bleiernen Stillstands scheint sinnlos geworden zu sein.

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Und damit sind wir wieder beim weissen Schal angelangt, den der chinesische Staatschef im August dieses Jahres bei seiner Ankunft in Tibet getragen hat. Xi Jinping hat ihn sich nicht selbst um die Schultern gelegt. Seine tibetischen Gastgeber haben es für ihn getan. So will es der buddhistische Brauch. Ein elenderes Bild für die Demütigung des tibetischen Volkes kann es nicht geben. Tibeter mussten sich dazu erniedrigen, ihrem grössten Widersacher die Anerkennung und den Respekt zu erweisen, den die Übergabe des weissen Schals symbolisiert. Sie wünschten ihm damit Glück, Segen und Frieden.

Vielleicht war es bloss ein chinesischer Funktionär. der das tibetische Ritual vollzog. Doch die Einheimischen mussten tatenlos zusehen.

Wie das Christentum predigt auch der Buddhismus, dem Feind keinen Hass, sondern Liebe entgegenzubringen. Dann würde die Übergabe der weissen Schärpe die Hoffnung vermitteln, Xi Jinping möge dem tibetischen Volk mit Liebe begegnen. Doch aus weltlicher Sicht steht der Schal, den der Chinese so selbstbewusst trägt, für die vollkommene Unterwerfung und Selbstaufgabe des tibetischen Volkes.

Man stelle sich vor: Israels Premier Netanjahu würde durch das zerstörte Gaza schreiten, und die Palästinenser, die noch leben, würden winkend am Strassenrand stehen und ihrem Schlächter feierlich ein Palästinenser-Tuch um den Hals hängen.

Es wäre unvorstellbar.

Man stelle sich vor: Die Aussichtslosigkeit ihrer Lage hätte auch die Menschen in Gaza dazu getrieben, sich anzuzünden, um ihrer Not ein Ende zu machen und die Welt aufzurütteln.

Unvorstellbar.

Netanjahu würde sich niemals, so wie Xi Jinping in Tibet, in die Strassen von Gaza wagen. Und die Palästinenser wären niemals bereit, sich selber Gewalt anzutun. Sie haben denen Gewalt angetan, die ihnen ihr Land und die Freiheit entrissen. Sie haben zur Waffe gegriffen, damit sie nicht dasselbe Schicksal erleiden müssen wie die Tibeter. Damit die Weltöffentlichkeit die Schande von Gaza nicht ignorieren kann.

Und sie haben ihr Ziel erreicht. Die Palästinenser haben erreicht, dass inzwischen die ganze Welt eine Lösung für Palästina fordert. Sie haben erreicht, dass selbst die USA ihnen zuhören muss. Sie haben das alles erreicht, weil sie gekämpft haben.

Nicht nur mit friedlichen Mitteln. Nicht nur gewaltfrei.  

Was aber haben die Tibeter erreicht? Sie haben Xi Jinping den weissen Schal um den Hals gelegt. Nachdem er ihnen ihr Land geraubt hat, schenken sie ihm ihre Seele. Ein Zyniker würde sagen: Jetzt gehören sie ihm. Die Tibeter werden Chinesen sein. 

Vielleicht hätte das tibetische Volk etwas weniger auf sein Oberhaupt hören sollen. Vielleicht hätte es einsehen sollen, dass Gewaltlosigkeit in unserem irdischen Jammertal nicht immer die Sprache ist, die der Gegner versteht. Manchmal muss man lautere Töne anschlagen. Andere geknechtete Völker haben es vorgemacht. Sie haben den Tibetern gezeigt, was ein Volk tun muss, wenn es nicht frei ist.

Doch die Tibeter haben ihre Bestimmung ganz in die Hände des Dalai Lama gelegt. Ihm sind sie gefolgt. Sie haben keinem Chinesen ein Leid angetan, keine Schuld auf sich geladen. Sie sind immer noch unschuldig. Vielleicht ist gerade das ihr Verhängnis. Um zu überleben in dieser Welt, muss man schuldig werden.

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

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