Fluch der Flucht

Wenn Menschen ständig vor ihren persönlichen Problemen fliehen, verschlimmern sie ihre Lage.
Psychologische Beobachtungen von Martina Degonda

«Plötzlich war mein Partner weg.» Fast mit den gleichen Worten haben zwei Klientinnen ihre Therapie begonnen. Frau A. konnte sich schon als Kind nicht gut durchsetzen. Bei Problemen zog sie sich jeweils in ihre Fantasie- und Traumwelt zurück und flüchtete so vor jeglicher Auseinandersetzung. Dieses Muster wiederholte sie auch in der Partnerschaft mit einem extrovertierten Mann, bis dieser die Beziehung abrupt abbrach.


Scheinbar ganz anders verlief die Vorgeschichte von Frau B., die sich als dominant und ehrgeizig bezeichnete. Als ihre langjährige Beziehung sich zunehmend verschlechterte, begann sie ihre Karriere mit diversen Fortbildungen auszubauen und sah ihren Partner nur noch selten. Ein harter Aufprall erfolgte, als er ihr unerwartet eröffnete, zu seiner neuen Freundin zu ziehen.


Zunächst konnten beide Frauen nicht verstehen, warum diese Trennungen so plötzlich erfolgten. Sie sahen sich als Opfer ihrer Partner, die aus der Beziehung geflohen waren. Es brauchte längere Zeit, bis sie ihre eigenen Fluchtmechanismen gleichfalls erkannten und realisierten, wie lange sie selbst ihren unangenehmen Gefühlen in der Partnerschaft ausgewichen waren.


Es ist menschlich, vor schwierigen Situationen und Problemen wegzulaufen, sei dies aus Angst oder in der Hoffnung, alles werde sich von selbst wieder regeln. Schliesslich lösen sich manche Unstimmigkeiten ohne eigenes Zutun. Bei gravierenden Konflikten ist eine vertiefte Auseinandersetzung dagegen meist unvermeidlich. Wer vor einer solchen flieht – in der Erwartung, alles könne nur in einem Desaster enden -, bewirkt oft viel Schlimmeres. So kann Flucht zu einem Fluch werden, der letzten Endes die befürchtete Katastrophe auslöst. Dabei bedeutet Katastrophe im Griechischen ursprünglich Umkehr – zu dieser ist es dann aber meist bereits zu spät.


Viele Philosophen haben sich mit der Flucht ins Aussen beschäftigt. Nach Blaise Pascal fliehen die Menschen vor jeglicher Musse, weil sie vor der Erkenntnis ihrer Situation fliehen. Er beschreibt das Grundübel des Menschen mit folgender Metapher: «Alles Unheil dieser Welt geht davon aus, dass die Menschen nicht still in ihrer Kammer sitzen können.» Auch Martin Heidegger beschreibt in seinem Hauptwerk «Sein und Zeit» die Flucht in das Gehäuse der Alltäglichkeit als Entfliehen vor der eigenen Verantwortung und der Erkenntnis der unausweichlichen Sterblichkeit.


Die Psychologie beschäftigt sich hingegen primär mit der Flucht nach innen. Mit Eskapismus wird hier die Flucht aus oder vor der realen Welt und dem Meiden derselben zugunsten einer Scheinwirklichkeit bezeichnet. Gerade Jugendliche wählen heute oft diesen Weg. Moderne Computerspiele bieten immense Möglichkeiten, um in virtuelle Welten abzudriften. In diesen gibt es – anders als im realen Leben – kaum Ohnmachtsgefühle (ausser der Computer stürzt ab). Fast alles ist machbar, und bei einem Misserfolg kann mit ein paar Klicks der frühere Zustand wieder hergestellt werden. Kein Wunder fällt es vielen dann schwer, in die äussere Welt zurückzukehren, in welcher die Regeln härter und Fehlschläge spürbar sind.


Ob wir eher in eine Fantasiewelt oder in den hektischen Alltag fliehen, ist letztlich nicht so entscheidend – die Auswirkungen können die gleichen sein. Eine daraus entstehende Krise erleben viele Menschen zunächst als hoffnungslose Situation.

«Krisis» bezeichnet ursprünglich jedoch einen Wendepunkt in einer gefährlichen Lage. Das oftmals widerwillige Innehalten und Wahrnehmen der eigenen Vermeidungsstrategien kann so zur Chance werden, dem Fluch der Flucht das nächste Mal zu entgehen. Anderen kannst du oft entfliehen, dir selbst aber nie.
01. November 2015
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