Auf den zerstörten Strassen, die sich vom Norden Gazas bis in den Süden erstrecken, wiederholen sich täglich dieselben düsteren Szenen. Familien stapeln das Wenige, das sie besitzen, auf Eselskarren oder kleine, stotternde Lastwagen, die gegen die lähmende Kraftstoffknappheit ankämpfen. Andere machen sich zu Fuss unter der sengenden Sonne auf den Weg, ziehen ihre Kinder hinter sich her und tragen Lebensmittel, Wasser und abgenutzte Decken mit sich.
Gleichzeitig weigern sich viele Einwohner, Gaza-Stadt zu verlassen, selbst wenn das bedeutet, inmitten von Trümmern zu leben. Sie bestehen darauf zu bleiben, weil sie befürchten, dass diese Vertreibung nicht im Süden des Gazastreifens enden, sondern sich über Gaza hinaus ausweiten könnte – eine Zwangsvertreibung aus ihrer Heimat.
Anfang August kündigte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Pläne an, die Kontrolle über Gaza-Stadt – Heimat von rund 900 000 Menschen, darunter Tausende, die bereits dort vertrieben wurden – durch eine monatelange Militäroperation zu übernehmen. Für viele Bewohner, darunter auch mich, zerstörte diese Erklärung die letzte Hoffnung auf ein Ende des 22-monatigen Krieges.
Hilfe für Gaza
Abdullah Younis hat eine kleine Selbsthilfeinitiative gestartet. Wenn Sie beitragen möchten:
Spenden Sie über diesen Link, dazu brauchen Sie eine Kreditkarte - das ist leider die einzige Möglichkeit derzeit, Geld nach Gaza zu transferieren: https://donate.stripe.com/fZe03eduN5aq8uYfZ2
Die Ankündigung weckte Erinnerungen an den Oktober 2023, als Israel mehr als eine Million Palästinenser aufforderte, den Norden Gazas innerhalb von 24 Stunden zu verlassen. Seitdem hat die Kriegsmaschinerie kaum eine Pause eingelegt und mehr als 62 000 Menschen getötet und über 156 000 verletzt. Mehr als 70 % der Infrastruktur Gazas liegen nun in Trümmern.
Vor wenigen Tagen verkaufte ich Möbel aus meiner provisorischen Unterkunft im Zentrum von Gaza und sah zu, wie Fremde Stücke wegtrugen, die ich erst wenige Monate zuvor gekauft hatte. Jeder Gegenstand war mit der kurzlebigen Hoffnung auf Stabilität verbunden, nachdem mein erstes Zuhause zu Beginn des Krieges zerstört worden war. Ich hatte gehofft, dass das Leben wieder aufgebaut werden könnte. Aber die harte Realität sieht anders aus.
Ich verkaufte, was ich konnte, für einen Spottpreis, aus Angst, dass es unter neuen Trümmern begraben oder während eines bevorstehenden Bodenangriffs geplündert werden könnte. Was mir geblieben ist, sind ein paar Decken, Schlafmatten, etwas Essen und Wasser – und mein Laptop, jetzt mein einziges Mittel, um der Welt unsere Geschichte zu erzählen.
Ich möchte Gaza nicht verlassen. Diese Stadt ist meine Kindheit, meine Erinnerungen, meine Wurzeln. Aber wenn die israelische Armee aus dem Westen vorrückt, weiss ich, dass ich keine andere Wahl haben werde, als erneut zu fliehen, nach Süden – und vielleicht ins Ungewisse.
Um mich auf diesen Moment vorzubereiten, bin ich von meiner Notunterkunft in ein Zelt gezogen, das auf den Trümmern meines ursprünglichen Hauses im Westen von Gaza-Stadt aufgestellt wurde. Jedes Mal, wenn ich meinen Laptop im Zelt öffne, um einen Bericht zu schreiben, habe ich das Gefühl, einen Teil von mir selbst, meiner Identität, meiner Stadt zu retten, die vor meinen Augen ausgelöscht wird. Mit jedem Wort werde ich mehr davon überzeugt, dass ich zwar nicht ganz Gaza mit mir nehmen kann, aber seine Stimme und seine Qualen.
Dies ist meine letzte Nacht hier.
In einer engen Gasse von Gaza-Stadt treffe ich den 45-jährigen Abu Mohammed al-Khaldi, der eine Handvoll Kleidung in einen alten Koffer stopft und sich darauf vorbereitet, mit seiner Familie in den Süden zu fliehen. Schweiss rinnt ihm in der stickigen Nachtluft über die Stirn, seine angespannten Gesichtszüge verraten, wie schwer ihm diese Entscheidung fällt.
«Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Moment erleben würde», sagt er mir mit gebrochener Stimme. «Ich dachte, ich würde eher in meinem Haus sterben, als es zu verlassen. Aber die israelische Armee wird die Stadt zerstören. Wer bleibt, wird entweder getötet oder unter den Trümmern begraben.»
Er erinnert sich an die vergangene Nacht: «Es war die schwerste Nacht meines Lebens. Die Bombardierungen hörten nie auf, Drohnen schwebten ständig über uns und warfen kleine Bomben auf die Dächer – als wollten sie uns daran erinnern, dass wir bald an der Reihe sein würden. Ich habe keine Minute geschlafen. Meine Kinder haben die ganze Nacht geweint. Mein Jüngster klammerte sich an mich und sagte: ‚Papa, ich will nicht sterben.‘»
Al-Khaldi sieht sich ein letztes Mal in seinem Haus um. «Ich habe diesen Ort mit jahrelanger harter Arbeit aufgebaut, und jetzt verlasse ich ihn, als wäre er nichts. Ich nehme nur ein paar Kleidungsstücke, zwei Decken und ein paar Flaschen Wasser mit. Der Rest bleibt zurück und wird zu Staub.»
Er schleppt seine Tasche zur Tür und fügt hinzu: «Gaza ist nicht nur ein Haus oder eine Strasse – es ist unsere Seele. Es zu verlassen ist, als würde man das Herz aus dem Körper reissen. Aber ich möchte meine Kinder schützen. Ich werde nach Süden gehen, aber ich weiss, dass ein Teil von mir nie zurückkehren wird.»
Dann hebt er den Blick zum Himmel, wo israelische Flugzeuge unerbittlich ihre Kreise ziehen, und murmelt mehr zu sich selbst als zu mir: «Dies ist meine letzte Nacht hier. Morgen werde ich ein weiterer Vertriebener ohne Zuhause sein. Aber ich werde Palästinenser bleiben, egal wie sehr sie versuchen, uns auszulöschen.»
Wir werden nicht wieder weggehen
Im Stadtteil al-Nasr in Gaza-Stadt sithe ich mit der 38-jährigen Um Khaled Azzam in ihrem zerbrochenen Haus, während eine Explosion in der Nähe die Fenster erzittern lässt. Trotz der Gefahr spricht sie mit unerschütterlicher Entschlossenheit über die Entscheidung ihrer Familie, zu bleiben.
«Dieses Mal werden wir nicht gehen», sagt sie entschlossen. «Wir haben zwischen Oktober 2023 und Januar 2024 schon einmal Vertreibung erlebt, und das war aufgrund seiner Grausamkeit unvergesslich. Wir zogen von Ort zu Ort im Süden, als wären wir Fremde in unserem eigenen Land. Kein Wasser, kein Essen, Kinder, die vor Hunger und Durst weinten. Das Schlimmste war, dass man sich immer wie ein unwillkommener Gast fühlte.»
Sie erinnert sich daran, wie sie jeden Morgen in überfüllten Notunterkünften aufwachte und sich obdachlos und ohne Adresse fühlte. «Es gab keine Stabilität, nur ständige Angst und die Demütigung des Wartens. Dieses Gefühl der Verlorenheit hat mich innerlich umgebracht.»
Heute ist die humanitäre Lage zwar genauso schlimm, aber ihre Entscheidung ist eine andere: «Nahrung ist knapp und Wasser kaum vorhanden, aber ich bleibe lieber in meinem Zuhause. Auch wenn wir wenig haben, werden wir es hier teilen. Wieder zu gehen bedeutet, Gaza selbst zu verlieren. Ich glaube, dass diejenigen, die diesmal gehen, vielleicht nie zurückkehren können, wenn die israelische Armee die Stadt einnimmt.»
Sie blickt sich um, sieht die bescheidenen Möbel und alten Fotos, die an einer rissigen Wand hingen, und flüstert: «Dieses Haus kann jeden Moment bombardiert werden, aber zumindest werden wir darin aufrecht sterben. Vertreibung bedeutet nicht nur, sein Zuhause zu verlassen – es bedeutet, seine Seele zu verlassen. Und ich werde nicht zulassen, dass sie mir meine nehmen.»