Hoffnung entsteht im Handeln
Ein persönlicher Nachruf auf die Ökophilosophin, Religionswissenschaftlerin, Pionierin der Systemtheorie, die «grosse Dame der Tiefenökologie»Joanna Macy, die vor einer Woche starb.
Joanna Macy
Joanna Macy

Manchmal, wenn Menschen über die letzte grosse Schwelle gehen, wird erst im Abschied wirklich bewusst, welche immense Rolle – auch aus der Ferne – sie für das eigene Leben hatten. Diese Einsicht haben in den letzten Tagen wohl viele Tausende gehabt, als sie vom Tod der 96jährigen Joanna Macy hörten und dem Echo ihrer Weisheit in sich nachhorchten.

Denn diese grosse Seele hat Unzählige in allen Ländern der Welt mit ihrer Liebe zum Leben und zum blauen Planeten berührt und sie auf den Weg in eine lebenswerte Zukunft geschickt, die vielleicht erst Generationen nach der eigenen Lebensspanne realisiert wird. «Hoffnung», so lehrte sie «entsteht im Handeln!»

Ökophilosophin, Religionswissenschaftlerin, Pionierin der Systemtheorie, die «grosse Dame der Tiefenökologie» hat man sie genannt. Aber sie war als lebenslang Suchende auch eine der bedeutendsten buddhistischen Lehrerinnen, globale Therapeutin für die verwirrten Bewohner der industriellen Wachstumsgesellschaften, heilend Mitfühlende für unzählige Öko-Aktivisten, die ausgebrannt im Widerstand gegen die weltweite Zerstörung hoffnungslos zu ihr kamen. Eine, die der tiefen Verzweiflung über das, was Menschen dem Wunderwerk Erde antun, Raum gab, Tränen und Wut begrüsste. Und die dann das transformative Wunder vollbrachte, diese Despair in Empowerment, also Verzweiflung in Ermutigung zu verwandeln.

Und – ohne das von sich selbst zu behaupten – eine grosse spirituelle Lehrerin war, die tiefe Dankbarkeit fühlte, in diesen verwirrenden Zeiten am Leben zu sein, in denen viel zerstört, aber auch so viel zu gestalten ist und positive Zukunft geschaffen werden kann. Die vor heiliger Wut kochen konnte, und im nächsten Moment vor Lebensfreude sprühte. Eine, die forderte, «das Herz soweit aufbrechen zu lassen, dass es die ganze Welt in sich aufnehmen kann» – um dann diese Liebe und Verbundenheit in politische, soziale und ökologische Aktion zu stecken.

Als ich als junger Journalist Joanna Macy vor 35 Jahren begegnete, war ich tief deprimiert vom scheinbar folgenlosen Aufdecken ökologischer Verbrechen und der Schläfrigkeit einer Gesellschaft, die ich mit meinen Texten doch aufrütteln wollte. In den Gesprächen mit ihr begriff ich, dass kaum jemand noch mehr schlechte Nachrichten ertrug und sich die Menschheit in eine kollektive Verdrängung flüchtete – und damit dem Kollaps Raum gab, anstatt ihn zu verhindern.

In ihrer Begleitung stellte ich mich dem Schmerz über die Zerstörung des Lebensnetzes, tobte, heulte und schrie ihn raus – bis ich jenseits der Schattenreise die Liebe erreichte und hinter dem Nebel der Verdrängung das Mitgefühl für alle Wesen spüren konnte. Es war damals, als würde die Erde selbst ihren Schmerz durch uns artikulieren. Und es entstand die Vision, mit meiner Arbeit «der Erde eine Stimme zu geben»: Den Finger auf all die offenen Wunden zu legen und zugleich von den Menschen zu erzählen, die, verbunden mit der verwundeten Erde, sich aufmachten, um handelnd Hoffnung zu vermitteln. Von ihnen erzähle ich seit Jahrzehnten in jedem Artikel, jeder Radiosendung, jedem Buch: Inseln der Zukunft in einem Meer von Chaos. Geschichten der Hoffnung zu erzählen, die Mut machten. Narrative des Möglichen! Wir müssen, so hatte sie gesagt, jeder «Sterbebegleiter der alten zerstörerischen Welt und Hebammen für eine lebensfördernde Zukunft sein». Und beides war – das begriff ich – überall zu sehen! Zeitgleich!

Joanna Macy hat in ihrem Leben AktivistInnen und LiebhaberInnen des Lebens ein grossartiges Modell an die Hand gegeben, sich heute für Menschen in Jahrhunderten verantwortlich zu fühlen. Wenn es in im Jahr 2225 noch lebenswerte menschliche Zivilisationen gibt, sagte sie, dann werden deren Bewohner in Dankbarkeit auf unsGegenwärtige zurückschauen, die in Zeiten der weltweiten Zerstörung des Lebensnetzes den Grossen Wandel eingeleitet und umgesetzt hatten. Und sie machte überzeugend deutlich, dass dieser Grosse Wandel längst im Gange ist und auf vielerlei Ebenen überall auf der Welt dynamisch wächst: auf der ersten Ebene im Widerstand gegen Zerstörung, mit Sitzblockaden, Petitionen, Demos, Boykotten, zivilem Ungehorsam gegenüber einer Politik, die zum grossen Aussterben, zum Treibhaus Erde und zu immer mehr Kriegen führt. Enorm wichtiger, anstrengender Widerstand – aber nicht genug für den notwendigen Wandel!

Dazu brauche es auf der zweiten Ebene, jenes, was ebenso überall geschieht: funktionierende Modelle einer Welt von Morgen zu bauen, die skaliert werden können, wenn die Titanic der globalisierten Wachstumsgesellschaft sinkt. Tausende von kleinen Rettungsbooten: funktionierende regionale Gemeinschaften, innovative Öko-Dörfer, nachhaltige Energiequellen, sozial gerechte Unternehmen, gewaltfreie Kommunikation, Kooperation statt Konkurrenz, Frieden durch Versöhnung, kulturelle Diversität und Vielfalt. Aber auch ganz klein: Waldkindergärten, alternative Schulen, Bio-Läden, Öko-Projekte, Nachbarschaftshilfen, funktionierendes Recycling, Zero Waste, alternative Währungen – und, und, und. Immer mehr davon: Zukunft JETZT! Unverzichtbar, so Joanna Macy, aber auch noch nicht genug.

Was es drittens bräuchte um den Grossen Wandel, The Great Turning zu schaffen, sei ein Wandel im Wahrnehmen und Denken auf allen Ebenen. Und auch der passiere überall – in den Millionenstädten und auf dem Land, in allen Generationen, quer durch alle Schichten in unzähligen Köpfen und Herzen: Die Einsicht in die Verbundenheit, das Wachsen des Mitgefühls, eine neue Ethik. Eine neue Wissenschaft der Verwobenheit alles Lebens. Eine Wiederentdeckung indigener Weisheit. Eine individuelle therapeutische Aufarbeitung alter Traumata. Die Entfaltung menschlicher Potentiale. Das Erdenken neuer Narrative, sinnvoller Schöpfungsgeschichten, ökologischer Weltbilder. Erdverbundener Spiritualität. Auf dieser dritten Ebene, so lockte Joanna Macy, wird der ‚Grosse Wandel‘ schliesslich umsetzbar. Im persönlichen Wandel in unzähligen Herzen!

Vielleicht erst nach globalen Phasen der Zerstörung, des Chaos und der Not. Doch sie malte, geschult von der Erforschung der Systemtheorie, das Bild von der positiven Desintegration, dem heiligen Zerfall, des kreativen Ungleichgewichts – wo aus jedem Chaos neue höhere Ordnung entsteht. Der uralten Kraft des sich entfaltenden Lebens traute sie viel mehr Kraft zu als den Trumps und Putins dieser Welt. Und sie machte Mut! Immer wieder Mut in der Verzweiflung.

Es war ein verrücktes, volles, paradoxes und langes Leben voller Krisen und kreativen Wendungen, eine «chaotische Patchworkdecke», wie sie selbst sagte: 1929 geboren, zutiefst christlich erzogen, Studium der Theologie – dann tiefe Zweifel. Ein Studium der politischen Wissenschaften in Paris und Arbeit für US-Aussenministerium mit den Diplomaten junger afrikanischer Nationen – Zweifel auch an diesem Weg. Sie begegnet und begleitet den alten Albert Schweitzer und seinem späten Motto vom «Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will»! Engagiert sich gegen Atomtests, Krieg in Vietnam. Geht nach Indien, lernt Buddhismus von tibetischen Flüchtlingen, nach Sri Lanka, lernt Mut von lokalen Aktivisten. Lebt in Deutschland, Frankreich, sonstwo in der Welt. Studiert spät Systemtheorie, promoviert, lehrt an Universitäten. Entwickelt mit anderen den Ansatz der Deep Ecology und tourt als Mutmacherin fast um die ganze Welt, selbst nach Tschernobyl in verstrahlte Gebiete der Sowjetunion. Weint mit den Menschen, tanzt mit ihnen, erklärt die Welt neu und schickt sie los, «weil Hoffnung im Handeln entsteht». Und ganz am Ende liegt sie lächelnd im heimischen Bett in Berkeley, Kalifornien – fast Hundertjährig, mit dem faltigen Gesicht einer alten Schildkröte, die das Leben kennt und den Tod annimmt. Und friedlich geht …

Eine grosse Seele, ein Bodhisattva der Erde, eine Liebhaberin des lebenden Planeten – «World as Lover, World as Self» heisst eins ihrer siebzehn Bücher. Die Welt ist ein Stück leerer nach ihrem Abschied. Die Herzen voller. Und man wird sie erinnern. Vielleicht noch Jahrhunderte, nachdem der Grosse Wandel gelungen ist. Dort, wo sie jetzt vielleicht ist, werden die Wesen der Zukunft – so denke ich in Dankbarkeit – sie applaudierend willkommen geheissen haben.

Geseko von Lüpke

Geseko von Lüpke
Geseko von Lüpke

Geseko von Lüpke ist Autor zahlreicher Bücher. Seine Recherchen führten ihn zu Begegnungen mit bedeutenden und charismatischen Menschen in aller Welt, die er in mehreren Interview-Bänden veröffentlichte. Es sind Vertreter einer neuen Wissenschaft, einer ganzheitlichen Ökologie und Kulturkritiker. Darunter der philippinische Soziologe, Umweltaktivist und Träger des Alternativen Nobelpreises Nicanor Perlas, der australische Umweltaktivist John Seed, der sich für den Erhalt des subtropischen Regenwaldes einsetzt, sowie die buddhistische Öko-Philosophin Joanna Macy aus Berkeley, dem norwegischen Philosoph und Mitbegründer der Tiefenökologie Arne Naess und dem amerikanischen Kulturkritiker Charles Eisenstein.

Seit 2000 ist Geseko von Lüpke neben seiner Arbeit als Autor und Schriftsteller auch als Seminarleiter Ökopsychologie, Ökopädagogik und Tiefenökologie tätig, als Ausbilder in den Bereichen (seit 2005) und war 2001 Mitbegründer des 'Netzwerks Visionssuche', einem Berufsverband ökopsychologisch und initiatorischer Seminarleiter.

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