Liebe, Luft und kalter Kalbsbraten

Die Geschichte des Picknicks zeigt, wie die Mayonnaise in die Tube und das Essen ins Grüne kam.

Warum heisst das Picknick eigentlich Picknick? Natürlich, sprachgeschichtlich kommt es von «piquer une nique», «eine Kleinigkeit aufpicken». Aber genauso gut hätte sich auch ein anderes Wort einbürgern können. «Le vert-jeuner» vielleicht oder der «outdoor lunch». Dass sich ausgerechnet das «Picknick» durchgesetzt hat, kann kein Zufall sein. Denn der Begriff funktioniert wie sonst nur Kinderworte. Wie Larifari, Kuddelmuddel, Tohuwabohu oder Ramba-Zamba. Genau dieses Unbekümmert-Verspielt-Kindische passt perfekt zum Picknick. Denn ein Picknick ist immer ein Spiel. Kinder spielen «Essen» ohne Lebensmittel. Erwachsene spielen es ohne Tische und Besteck.

Wir träumen selten von den Dingen, die wir haben. Wer ohnehin an der frischen Luft einfache Speisen zu sich nahm, nannte dies nicht Picknick, sondern Rast. Bauern und Knechte assen oft auf den Feldern ihren Hirsebrei, ihr Brot und die Eintopfgerichte, die die Küchenfrauschaften per Leiterwagen herankarrten. Auf vielen Bildern sieht das recht romantisch aus, es war aber weder allzu bequem noch besonders wettersicher und wenn die Rastenden nach dem Mahl ihre müden Glieder ausstreckten, träumten sie weniger vom nächsten Essen auf der nackten Erde, als vielmehr von einer opulenten Tafel in einem vornehmen Palast. Nur wer über so einen Palast verfügte, konnte auf die Idee kommen, das mühsame Landleben zu romantisieren. Die Gedichte, in denen Vergil vom schönen Hirtenleben erzählt, schrieb er nicht auf dem Feld, sondern in seiner Villa. Wie gut mussten es die Leute doch haben, die in der Natur ihr Mahl einnahmen!

Eineinhalb Jahrtausende später ging Caterina de’ Medici einen Schritt weiter. Sie beschloss, es Bauern und Bettlern gleich zu tun und ebenfalls im Freien zu essen.
Natürlich tat sie das standesgemäss und liess ihre Bediensteten jeweils ihr halbes Mobiliar in einen ihrer weitläufigen Parks räumen. Caterinas extravagante Laune wurde zur Mode des Barock. Im typisch überbordenden Stil jener Zeit wurden an den Höfen des 17. Jahrhunderts grandiose Open-Air-Bankette veranstaltet: Heerscharen von Dienern tischten erlesene Speisen und Getränke auf. Schauspieler und Tänzerinnen unterhielten die Gäste vor eigens installierten Wasserspielen und aufwändig komponiertem Feuerwerk.

Dann veränderte sich die Idee. Immer öfter trafen sich kleine Gruppen der Pariser und Londoner Noblesse in Parks zu unkomplizierten, relativ einfachen Picknicks. Bäuerinnen und Arbeiter schüttelten die Köpfe: draussen zu essen, wenn man es auch in Palästen tun konnte, das konnte auch nur der Jeunesse Dorée einfallen. Aber der jungen Elite ging es beim Picknick nicht nur ums Essen und die frische Luft, sondern auch um die Anwesenheit anderer junger Damen und Herren – bei Abwesenheit allzu rigider Regeln. Wieviel sinnlicher als das starre Sitzen an förmlichen Tafeln war doch das lockere Beisammensein im Gras. Wie sehr verleitete die ungewohnte Umgebung zu Schalk und Spässen. Wie einfach kam man sich in diesem Rahmen näher. Und wie leicht verrutschte da und dort ein Hemd oder ein Rocksaum. «Von Picknicks ist abzuraten», erklärte deshalb zum Beispiel die Baronesse de Staffe. «Es herrscht eine geradezu leichtfertige Ungezwungenheit, die nur allzu leicht zu Unschicklichkeiten führen kann.» Dessen waren sich Parisiennes und Parisiens sehr wohl bewusst. Unglücklichen und ungeschickten Damen passierte es immer wieder, dass sie im Bois de Boulogne vom rechten Weg abkamen (mais quelle horreur!), dann komplett zufällig auf versteckt lagernde Herren trafen (mais quelle surprise!), die sie zum Picknick einluden, inklusive Dessert (mais quel plaisir!).
  
Die allermeisten Picknicks waren indes profanerer Natur und so beschäftigten sich nicht nur Sittenwächter mit der Mode, sondern auch Spötter. Offenbar gebe es nichts Vergnüglicheres, als in unbequemer Position, ungeschützt vor Hitze und Regen, kalten Kalbsbraten zu essen, meinten manche. Und andere stänkerten: So viele Gäste man einlade, so viele Kalbsbraten würden mitgebracht. Die feinsinnigste Satire zum Picknick handelt jedoch von keinem Geringeren als Jesus. Immerhin verköstigte er mit fünf Broten und zwei Fischen fünftausend Menschen und sammelte anschliessend noch zwölf Körbe mit Resten ein. Wie könnte man sich besser über die Tatsache mokieren, dass man am Anfang jedes Picknicks scheinbar zu wenig zu essen hat und am Ende zu viel?

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam der nächste Wandel. Immer mehr Menschen lebten in Städten, waren täglich Rauch, Russ und schlechter Luft ausgesetzt und sehnten sich am Wochenende nach einem Ausflug in die Natur. Nebst noblen Herrschaften picknickten nun also auch Arbeiterinnen und Arbeiter. Und da sie kein Dienstpersonal hatten, das ihnen fertige Menus einpackte, rösteten und brieten sie Brot und Würste direkt über dem Feuer. Das Picknick wurde von einer kalten zu einer teilweise warmen Mahlzeit, und was früher von den Bediensteten der Oberschicht vorbereitet und oft auch serviert wurde, erhielt bei den Picknicks der Unterschicht mehr und mehr Do-It-Yourself-Charakter.

Auch der technische Fortschritt hat das Picknick verändert. Es begann mit faltbaren Messern und Gabeln, später kamen ebensolche Tische und Stühle hinzu. Clevere Küchenchefs füllten Aluminiumtuben (die bislang nur für Ölfarben verwendet worden waren) mit Mayonnaise, Senf oder Le Parfait. 1892 kam die verschliessbare Mineralwasserflasche auf den Markt und 1908 erfand ein Schweizer Chemiker die Zellophan-Folie. 1946 entwickelte ein Amerikaner namens Mr. Tupper eine verschliessbare Salatschüssel. Die lawinenhafte Verbreitung des Autos brachte in den Wirtschaftswunderjahren einen Trend zu Picknicks an Strassenrändern und auf Parkplätzen. Das Gefährt störte dabei nicht, es gehörte dazu. Ein weiterer Picknick-Impuls kam 1970 vom Patentamt: Der Schutz der Thermosflasche lief ab und das praktische Gerät wurde auch für gewöhnliche Leute erschwinglich.

Das Picknick ist heute ein globales Phänomen. Im englischen Ascot speisen Lords und Ladies mit extravaganten Hüten auf dem Rasen neben der Pferderennbahn, und das Tennisturnier von Wimbledon ist eigentlich ein einziges grosses Picknick mit Erdbeeren zum Dessert. Spanierinnen und Spanier bereiten Paella über dem Lagerfeuer und amerikanische Grillmeister sind auf der ewigen Suche nach dem perfekten Barbecue. In Japan trifft man sich jeden Frühling unter den Kirschbäumen, wenn deren prachtvolle Blütezeit wie eine rosa Welle von Südwesten her über die Inseln wandert. Auch andernorts in Asien sind Picknicks populär, wobei das Mongolische Barbecue eine besondere Sache ist. Weil gebraten wird und nicht grilliert, ist es eigentlich kein Barbecue – und erfunden wurde es von Strassenhändlern in Taiwan.

Auch bei uns nimmt die Popularität des Picknicks immer weiter zu – was auch nicht weiter verwundert in einem Land mit geschätzten acht Millionen Migranten. Die einen migrieren (also wandern) an den Wochenenden mit Sackmesser und Cervelat durch die Berge, andere tragen zur «Mediterranisierung» des Stadtlebens bei. Wie diese aussieht, kann man etwa im Berner Eichholz oder am Basler Rheinufer miterleben, wenn die Grills angeworfen werden und ganze Sippen aus aller Herren Länder bis spät nachts beisammen sitzen, Fleisch oder Vegetarisches grillieren und ausgiebig schwatzen, spielen oder musizieren. Gerade für Leute mit kleinen Wohnzimmern ist die gute Outdoor-Stube oft das beste Lokal für ein Familientreffen.  In Berlin oder Rom hat das Phänomen Picknick gar solche Ausmasse angenommen, dass die Behörden es in manchen Parks untersagt haben – ein sicherer Weg, um sich sehr unpopulär zu machen.

Bei so vielen Variationen des Essens an der frischen Luft stellt sich zum Schluss die Frage: Was ist ein gutes Picknick? Die Antwort ist überraschend einfach. Ein gutes Picknick ist eine improvisierte Spielerei, ein Heilmittel gegen den Ernst des Lebens. Es gibt eine Skizze aus dem 19. Jahrhundert, die das Innere eines Landhauses zeigt. Im Kronleuchter hängen Blätter und Zweige, vor den Fenstern prasselt feiner englischer Regen. Stühle und Tische sind beiseite geschoben und auf dem Fussboden sitzt eine vergnügte Runde, trinkt Wein und vertilgt Brot, Salat und kalten Kalbsbraten. Genau das ist ein gutes Picknick.    
25. März 2016
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