Mit meinen eigenen Augen
Als Tourist am Roten Meer. Ein Blick in die Menschheitsgeschichte. Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben» (Teil 2/Schluss)
Die Statue des Pharao Amenophis III. bei Luxor (Bild NL)
Die Statue des Pharao Amenophis III. bei Luxor (Bild NL)

In der Stadt - als ich ein Kind war - gab es ein Kino Luxor. Das war meine erste Begegnung mit diesem Namen. Warum das Lichtspieltheater so hiess, verstand ich allerdings erst, als ich von Luxor in der Geschichtsstunde hörte. Ich lernte, dass in Luxor Tempel und Statuen aus dem Altertum stehen. Der Name bekam für mich einen magischen Klang. Luxor wurde zu einem Ort der Vergangenheit, der mit unserer Gegenwart nichts zu tun hatte. Luxor in einem Atlas zu suchen, wäre mir nie in den Sinn gekommen.

Nun fahre ich im Bus durch die Wüste hinter dem Roten Meer und sehe am Strassenrand ein Schild, auf dem Luxor steht und einen Pfeil, der die Richtung weist. Aber noch immer kann ich nicht glauben, dass ich nach Luxor fahre. Die Wüste ist gross und leer, und sie reicht so gross und so leer bis zum Horizont. Nur die Strasse erinnert an das Wirken des Menschen. Vollbepackte, überladene Lastwagen kreuzen uns, Autowracks gleissen unter der Sonne, struppige Büschel Wüstengras kämpfen ums Überleben, und alle zehn oder zwanzig Kilometer passieren wir einen Checkpoint, wo ein paar Männer herumstehen und dem Verkehr auf der Strasse teilnahmslos zusehen. Ich glaube, sie warten auf etwas. Überall in Ägypten stehen Männer herum und warten. Sie warten vielleicht auf das Paradies, das Mohammed ihnen versprochen hat. Sie leben im Diesseits und harren dem Jenseits entgegen.  


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Lesen Sie von Nicolas Lindt auch Teil 1: Szenen in Hurghada

 


Neben der Strasse führt eine Pipeline vorbei, und sie kündet von einem Segen, der hier, mitten im Wüstenstaub, kostbarer ist als arabisches Öl. Sie ist die Lebensader Hurghadas. In der Pipeline fliesst Wasser, und woher kommt das Wasser? Es stammt aus dem Nil. Erst unterwegs wird mir bewusst, dass unser Ausflug nach Luxor auch eine Reise zum Nil ist.

Nach mehreren Stunden Fahrt durch Sand und Fels und flimmernde Öde entdeckt das schläfrig gewordene Auge auf einmal Grün. Ein bewässertes grünes Feld - ein zweites, ein drittes, und bald sind wir mittendrin, in der satten, saftigen Fruchtbarkeit, die der Nil in das Wüstenland trägt, die Menschen auf beiden Seiten mit vollen Händen beschenkend.

In der Schule hätte ich weitergeschlafen, aber hier bin ich wach, auf einmal hellwach, denn ich weiss: Ich werde ihn sehen. Ich werde den Nil sehen. Eine letzte Biegung, dann hält der Bus, und wir steigen aus. Durch die Bäume schimmert das Blau, es blinkt und schillert im Sonnenlicht - nur ein paar Schritte noch, und ich stehe am Nil.

Breit ist der Fluss, der kein Fluss ist, sondern ein Strom, unendlich breit, so kommt er mir vor. Vielleicht gibt es Wasserwege, die breiter sind, doch keiner kommt an den Nil heran. Der Nil ist nicht nur Natur. Er gehört zu uns, zur Geschichte der Menschheit. Er ist ein biblischer Fluss. Ich erlebe in diesen Momenten eine Geografiestunde, wie sie mir bisher noch nie vergönnt war. Wir mussten den Fluss in der Schule zeichnen, von der Quelle zur Mündung, aber die Zeichnung, die ich ins Heft einklebte, hatte mit dem Nil nichts zu tun. Auch die Bilder im Fernsehen, die Bilder in einer Zeitschrift – sie haben mir nie den Nil gezeigt.

Das Sichtbare ist gemacht, damit wir es sehen. Damit wir es selber sehen. Dieser Strom hier, vor dem ich stehe: Das ist der Nil. Meine eigenen Augen erblicken ihn. Ruhig und lautlos zieht er an mir vorüber.

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Hieroglyphen in Luxor (Bild NL)

Und ich darf hier stehen  

Die Mutter aller Ströme auf dieser Erde hinter uns lassend, erreichen wir endlich die Stadt, von der ich glaubte, es gebe sie gar nicht. Wir fahren durchs Zentrum von Luxor, wo sich uns das übliche Strassenbild öffnet: Verstaubte, schäbige Häuserblöcke neben glänzenden Businesskomplexen, Strassenstände, Cafés, Werkstätten, Läden, Menschen, Autos und Eselkarren und über allem das hochaufragende Minarett einer Kirche Allahs. Wir durchqueren eine arabische Stadt, die wie alle arabischen Städte versucht, den Anschluss an die Moderne zu finden, obwohl sie im Grunde zu arm ist dafür.

Doch dann kommt eine langgezogene leere Allee in Sicht, gesäumt auf beiden Seiten von Sphinx-Figuren. Diese Fabelwesen mitten in der pulsierenden Stadt, eines hinter dem andern, mehrere hundert müssen es sein, sind ein Bild, das irgendwie unwirklich scheint. Obwohl die Bautätigkeit ihnen kaum noch Raum lässt, sind die Fabeltiere immer noch da – und sie weisen, seit bald 4'000 Jahren, den Weg zum Tempel.

Das Luxor von heute beginnt zu entschwinden aus meinem Blickfeld. Die Busse, die Händler, die Fremdenführer, die Reisegruppen, das ganze Touristengewimmel der Gegenwart wird zu Staub – von dem Augenblick an, als ich den Tempel von Karnak betrete.

Ich war schon in Rom, in Athen, in Heraklion und auf Delos, ich stand schon vor der Akropolis, besuchte das Kolosseum, spazierte durch römische Tempel, berührte antike Steine, ich habe den Petersdom schon betreten, den Markusdom in Venedig, die Notre-Dame in Paris, ich war schon in Versailles – dennoch muss ich gestehen, dass mich all diese Orte zwar interessiert, aber innerlich unbeteiligt gelassen haben.

Dieser ägyptische Tempel jedoch hat eine Wirkung auf mich. Er ist so monumental, als ob er nicht für uns Menschen, sondern für höhere Wesen erbaut worden wäre. Ich betrete den ersten Innenhof, blicke nach oben und finde alles einfach nur riesenhaft. Ich wandere weiter, vorbei an der Statue von Ramses II., vorbei an steinernen Tempelwächtern, vorbei an Wänden und Mauern, die mit zahllosen Bildergeschichten beschriftet sind, vorbei an den 134 Säulen des Säulensaals, die so kolossal sind, dass drei Besucher mit ausgestreckten Armen notwendig wären, um eine Säule umfassen zu können. Ich wandere weiter zum Obelisken, den die Königin Hatschepsut den Göttern zu Ehren errichten liess, weiter zum Heiligen See, in welchem die Priester sich badeten, und erreiche endlich das Ende des Tempels. Fast einen halben Kilometer bin ich gegangen. So gross ist Karnak.

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Die Statue des Pharao Ramses II., einer der bekanntesten Herrscher des Alten Ägypten (Bild NL)

Ich blicke zurück auf das weite Gelände und bin noch immer ergriffen von dem, was ich sehe. Warum aber ist das so, frage ich mich. Warum beeindruckt mich dieser Tempel mehr als alle historischen Stätten, die ich bisher besichtigt habe?  

Ich muss nicht lange darüber nachdenken, um die Antwort zu wissen. Das antike Griechenland und das alte Rom – beide glaube ich zu verstehen. Sie gehören zu der Welt, die ich kenne. Ägypten jedoch liegt im Dunkeln. Seine Göttergestalten, die Pharaonen, die Hieroglyphen, die Pyramiden, die Sphinx, die Gräber, all diese Dinge entziehen sich dem Verständnis der Welt, das mich die Schule gelehrt hat. Das alte Ägypten gründet in einem Brunnen, in dessen Tiefe ich nicht hinabsehen kann.

Ich möchte weinen vor Ehrfurcht. Hier ist der Ursprung der Menschheitsgeschichte, und ich darf hier stehen. Die Wände darf ich sogar berühren, darf mit behutsamen Fingern über die Inschriften streichen, die vor so langer Zeit in den Stein geritzt worden sind. An manchen, von der Sonne verschonten Stellen sind die Farben noch immer erhalten. Unentwegt staunend wandere ich umher.

Da erklärt, in einem seitlich gelegenen Tempelraum, ein Guide seiner Gruppe, dass der Raum in späterer Zeit als Kirche umgenutzt worden sei. Er weist auf christliche Ornamente hin, und er zeigt auf die Umrisse eines Marienbildes. Das Bild ist verblasst, doch es war einmal da – und ich merke, wie sehr mich das freut, gerade hier dem Bild von Maria begegnen zu dürfen.

Denn das Bild ist mir vertraut. 
 

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

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Alle weiteren Informationen: www.nicolaslindt.ch


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