Jetzt geht es unter die Haut

Über das Internet drängt die weite Welt in uns hinein

Er kommt uns immer näher: Der kleine Mann im Ohr, der uns rund um die Uhr einflüstert, was das Beste für uns ist. Er hat uns im Visier. Er weiss wer wir sind, wie wir heissen, wo wir wohnen, was uns interessiert, was und beim wem wir kaufen, er weiss was wir denken und wo wir uns aufhalten. Und er verrät es jedem, der bereit ist, dafür zu bezahlen.
Die digitale Businesswelt ist auf dem Sprung in den Körper. Und wir können uns immer weniger sicher sein, ob wir selber denken oder nicht schon längst gedacht werden. Was auch immer wir bei Google finden, ist speziell für uns gemacht. Wir bewegen uns im Schatten unserer Suchmaschine. Surfen auf einer Datenflut, die uns immer nur bestätigt.
Und jetzt auch noch IOT – das Internet der Dinge (internet of things): Wenn wir nicht aufpassen, erfüllt es auch die Wünsche, von denen wir bisher keine Ahnung hatten. Personalisierte Werbung, ganz gleich, wo wir uns aufhalten. Im Auto – über das GPS-System oder das Handy. In der Stadt mit Werbeplakaten, die nur für uns geschaltet werden, mit kleinen, höflichen SMS und geschmeidigen Frauenstimmen, die uns anrufen und sagen: Wie schön, dass Sie bei uns Sind, liebe Frau Ax. In unserem ersten Stock haben wir Sie einen blauen Mantel in Ihrer Grösse, Farbe und Ausführung reserviert, wie Sie ihn schon lange suchen. Wir spendieren Ihnen 20 Extrapunkte in unserem Kundenbindungsprogramm, wenn Sie jetzt die nächste Rolltreppe rechts nehmen. Unsere freundliche Kundenberaterin wartet schon auf Sie. Lassen Sie sich von ihr von ihr beraten und verwöhnen.» Und siehe da: Die freundliche Frauenstimme hat recht. Es war exakt ein Mantel (Schnitt und Farbe), wie wir ihn jüngst im Internet angeklickt hatten.
Das war kein Zufall. Alle Anzeigen, die wir sehen, beruhen ja bereits auf Analysen unseres Nutzerprofils. Nach Anprobe des Mantels können wir uns dann auch noch einscannen lassen, damit ein Avatar von uns erzeugt wird und uns freundlicherweise bei der Auswahl von Bekleidung unterstützt. Wenn der Anbieter richtig fit ist, müssen wir das Haus gar nicht mehr verlassen. Wir können uns dort ganz der Virtual Reality überlassen und uns in «echten» 3-D-Welten bewegen. Occulus Rift, die lange angekündigte 3-D-Brille macht es möglich. Sie wurde von den Gadget-Gemeinden heiss ersehnt, vor kurzem endlich ausgeliefert und war sofort ausverkauft. In Verbindung mit Handschuhen simuliert sie Erfahrungen, die wir schon immer einmal machen wollten. Freeclimbing kombiniert mit Abstürzen, die unser wahres Ich niemals überleben würde. Und auch die Pornoindustrie ist ganz vornedran. Technologisch gesehen.

Ganz problemlos scheint die neue Technik aber noch nicht zu sein. Erste Nutzer klagen über unerwünschte Nebeneffekte wie Übelkeit – manchmal auch lang anhaltend und wiederkehrend. Das menschliche Gehirn, der Gleichgewichtssinn und die Augen sind nämlich sehr empfindliche Organe. Aber keine Sorge. Auch dafür werden sich Lösungen finden. Denn der Cyborg weiss: Was unsere Sinne angeht, da ist noch viel Luft nach oben.
Nach dem Motto «Upgrade your life experience» arbeiten die Anhänger der Cyborg Foundation an einfachen Hilfsmitteln, die unseren Sinnen mit Sensoren und Implantaten kräftig nachhelfen: Farben werden zu Klängen, Chip-Implantate lassen uns Erdbeben miterleben, ganz gleich wo sie stattfinden, Infrarot, Ultraschall oder Magnetismus wahrnehmen und den Mond erfühlen. Diese Implantate verändern nicht den Körper, sie verändern den Geist. Und die Transhumanisten – die sich als internationale Bewegung sehen –, verfolgen das Ziel, das Mängelwesen Mensch zu verbessern: intellektuell, physisch und psychologisch. Keine schlechte Idee. Und nicht ganz neu. Vor allem moralisch gäbe es da noch einiges zu erbasteln. Vielleicht gelingt ja den Biohackern, wovon alle grossen Lehrmeister und Propheten und Weltverbesserer bisher geträumt haben.
Als Egon Erwin Kisch in seinem Lehrbuch für die «rasenden Reporter» noch schrieb, «nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit» ahnte er nicht, dass neue Technologien uns in Wesen verwandeln können, die sich gelangweilt von der Wirklichkeit abwenden, weil ihnen nichts mehr unter die Haut geht – als die Fiktion.
Bleibt an dieser Stelle nur noch die Geschichte von dem Affen zu erzählen, der im Labor einen Schalter bekam, mit dem er direkt sein Lustzentrum stimulieren konnte. Er vergass zu essen und zu trinken. Irgendjemand hat ihn gerettet. Aber das ist eine andere Geschichte.  



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01. Juli 2016
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