«Auf dem Grunde des Ozeans», meinten einige. «Auf der Spitze des höchsten Berges», schlugen andere vor. Doch sie erkannten, dass der Mensch in seinem Ehrgeiz sie dort finden könnte, bevor er reif dafür ist. Dann kam eine neue Idee auf: «Lasst uns die Kraft dort verstecken, wo der Mensch sie als Letztes suchen wird: in seinem eigenen Herzen.» Und so geschah es. Der göttliche Funke, die unbegrenzte Schöpferkraft, wartet dort auf uns, wohin wir nicht mit stolzer Brust und gezogenem Schwert vordringen können, sondern nur mit Liebe und Güte.
Nach dieser Erzählung steht uns ein unermessliches Potenzial zur Verfügung, eine Art neutraler Baustoff, aus dem wir neue Realitäten erschaffen können. Schaut man sich die Welt heute an, so haben offensichtlich erst die allerwenigsten Menschen diese Kraft für sich gefunden.
Wir haben uns darauf spezialisiert, die Dinge auseinanderzunehmen. Nicht die Liebe ist am Werk, sondern die Angst, nicht genug zu haben und nicht genug zu sein. Angst und Liebe stehen sich gegenüber wie Tag und Nacht, oben und unten, Frau und Mann. Zwei Seiten einer Medaille: Das eine kann ohne das andere nicht sein.
Die Einheit wurde gestört, als eine Seite auf die Idee kam, sich die andere unterzuordnen. Eine Religion wurde erfunden, die das legitimiert, und eine Wissenschaft, um es zu beweisen. Aus der ursprünglichen Polarität wurde eine Dualität, in der sich Gegenteiliges nicht mehr ergänzend gegenübersteht, sondern einander ausschliesst. Mit der Unterdrückung der Frau kippte auch alles andere. Wo vorher die Dinge komplementär ineinandergriffen und eine Einheit bildeten, hatte sich nun ein Teil aus dem Ganzen gelöst. Das Gesamte war nicht mehr vollständig. Der Mangel kam ins Spiel – und mit ihm Neid, Eifersucht, Gier, Missgunst, Gemeinheit und Hass. Wir begannen zu jagen, zu erobern und zu verfolgen. Das Haben wurde wichtiger als das Sein. Mit dem Besitz schliesslich kam die Angst, ihn wieder zu verlieren. Waffen wurden erfunden und Feinde, um die Kriege zu legitimieren, die fortan geführt wurden, um maximalen Profit aus ihnen zu schlagen.
Gut und böse waren nicht von Anfang an dabei. Sie wurden im Paradigma der Trennung erfunden wie die Geschichten vom bösen Nachbarn, von der bösen Frau, vom bösen Wolf, vom bösen Indianer oder vom bösartigen Tumor. Auf der einen Seite stehen hier die Bösen, auf der anderen die Guten. Die andere Seite sieht es genauso, nur andersherum. Entweder Freund oder Feind, du oder ich. Gut und böse sind das trennende Schwert einer dualen Weltanschauung, in der das eine das andere zu vernichten sucht. Unvereinbar stehen Feinde sich in einem Kampf gegenüber, den letztlich keiner von ihnen gewinnt.
Sieger sind hingegen die Kräfte, die den Kampf provozieren. Ihre Namen sind Legion. Mephisto heissen sie, Satan, Luzifer, Ahriman, Antichrist, Sohn der Verdammnis, Prinz der Dunkelheit oder Herr der Fliegen. Diese Kräfte machen wir gross, wenn wir selbstgerecht und scheinheilig mit dem Finger auf andere zeigen – und dabei nicht merken, dass drei Finger auf uns weisen. Die wildesten Tänze führen die dunklen Kräfte auf, um uns daran zu hindern, das Geschenk zu entdecken: die in uns verborgene Schöpferkraft. Diese Kräfte wollen zerstören, allein in diese Richtung geht ihr Kalkül. Vernichtung ist ihre Logik, auch wenn sie sich dabei selbst vernichten. Denn sie wissen ja, dass sie nichts sind. Sie existieren nicht aus sich heraus, denn sie haben keine Schöpferkraft. Sie können nur kaputtmachen, was schon da ist, können nur nachmachen und kopieren.
Mit diesen vampirischen Kräften haben wir es zu tun, wenn wir uns anschauen, wie etwa Europa sich gerade selbst vernichtet und die Welt sich von einer Künstlichen Intelligenz kapern lässt. Hat diese mechanische, kalte Intelligenz erst einmal Besitz von uns genommen, ist das Tor zum Herzen verschlossen und die uns innewohnende Schöpferkraft verloren. Letztlich jedoch, das wusste Mephisto, liegt alles in Gottes Hand. Letztlich ist alles eins. So bleib ihm, die Kraft zu sein, die «stets das Böse will und stets das Gute schafft».
Im Absoluten ist alles gut. Wir hingegen leben im Relativen. Ein Ereignis, was heute schlecht ist, kann morgen gut sein – wie in der Geschichte von dem Bauern, dem ein Pferd zuläuft. «Was für ein Glück!» sagen die Leute. Der Sohn fällt vom Pferd und bricht sich ein Bein. «Was für ein Pech!» Da bricht der Krieg aus, und der Sohn kann nicht eingezogen werden...
Das Böse an sich, heisst es dort, gibt es nicht.
Ein Detail ist nicht die Geschichte, ein Foto nicht der ganze Film. Was für die einen gut ist, kann für andere schlecht sein. Sich damit aufzuhalten, das Einzelne auseinanderzunehmen und zu bewerten, lenkt uns nur vom Wesentlichen ab. Wir haben keine Ahnung, warum die Dinge wirklich geschehen. Wir wissen nicht, für welche Aufgabe jemand hier ist und für was etwas letztlich gut ist – so können wir also beruhigt aufhören, uns gegenseitig zu verurteilen. Das bedeutet nicht, dass wir gut finden müssen, was andere tun. Wir können uns vor ihnen schützen, auf Abstand gehen, die Tat anklagen. Wir dürfen Wut empfinden, Ekel, sogar Hass. Wir müssen nicht einmal verzeihen. Aber es gilt zu bedenken: Wer urteilt, der nährt die zerstörerischen Kräfte und treibt die Ur-Teilung, die Vernichtung weiter voran.
Überlassen wir es doch anderen Kräften, die Dinge zu vergelten, und schauen wir besser dorthin, wo alles angefangen hat. Bevor die Frauen unterdrückt wurden und die Welt ins Ungleichgewicht fiel, gab es mythologisch eine Frau, die dem Manne ebenbürtig war. Dafür, dass sie sich ihm nicht unterlegen gemacht hat, wurde Lilith verteufelt. Jahrtausendelang galt sie als Personifikation des weiblichen Bösen. Sie hat die Leute reden lassen. Sie ist in keinen Krieg gezogen, sondern in die Wüste gegangen: ihre innere Wüste. Sie hat nicht ihre eigenen Schwächen auf andere projiziert, sondern sich mit ihrer eigenen Dunkelheit auseinandergesetzt. Anstatt sie im Aussen zu bekämpfen, hat sie sie im Innen integriert.
Sie hat das getan, was Armin Risi einen «radikalen Mittelweg» nennt. Die Mitte ist neutral. Von hier aus gelangen wir von der Dualität zur Trinität. Zwischen rechts und links kommt das Rad des Schicksals zur Ruhe, das uns zwischen den Ereignissen hin- und herwirft. Hier kann das Wunder geschehen, aus eins und eins drei werden zu lassen. Aus Mutter und Vater wird das Kind geboren und etwas Neues entsteht. Liebe braucht beide Pole. Die schöpferische Kraft, die in uns wohnt, können wir nicht alleine erschliessen. Wir brauchen dazu auch die, von denen wir zu Unrecht glauben, sie seien unsere Feinde.
So wird das Wort aus Gitta Mallasz’ Buch «Die Antwort der Engel» verständlich, das auf den ersten Blick unerhört erscheinen mag: «Das Böse an sich,» heisst es dort, «gibt es nicht. Es gibt nur noch nicht transformierte Energie.» Unser Universum besteht vor allem aus Leere. Was machen wir in diesem Raum, der uns zur Verfügung steht? Welche Informationen lassen wir hier fliessen? Lassen wir die Dämonen am Werk, die sich immer dort breitmachen, wo niemand zu Hause ist, oder werden wir Könige und Königinnen im eigenen Reich und nehmen das Geschenk an?
Laut dem Schweizer Philosophen Jean Gebser stehen wir auf der Schwelle zwischen zwei Zeitaltern. In fünf Bewusstseinsstufen teilt er die bisherige Entwicklung des Menschen ein. Im archaischen Bewusstsein war alles eins. Aus dem Einssein bildete sich die Eins: das männlich geprägte magische Bewusstsein. Danach kam die Zwei, das weiblich geprägte mythische Bewusstsein, das das Potenzial für Polarität und Dualität in sich trägt. Mit dem 15. Jahrhundert traten wir in das mentale Zeitalter, das bis heute andauert. Hier wird die Dualität auf die Spitze getrieben
Entweder das eine oder das andere, besagt das Paradigma der vierten Stufe. Entweder gut oder böse. Als böse gilt heute auch der, der nur Kontakt zu einem anderen hat, der als böse gilt. So werden ganz schnell alle infiziert. Das ist die eigentliche Epidemie. Diesen Brand aufzuhalten, ist unmöglich. Zu stark sind die geworden, die ihn entfachen. Wir können es nur anders machen. Wir können uns darauf besinnen, dass wir Menschen sind. Menschen haben einen freien Willen, den weder Gott noch Teufel anrühren. Am Ende wird jeder die Verantwortung für seine Haltung und sein Handeln tragen müssen. «Was hast du aus deinem Leben gemacht? Hast du das Geschenk angenommen oder nicht? Bist du im Mentalen steckengeblieben oder hast du das Tor deines Herzens weitgemacht?» Jeder wählt, was er für gut befindet.

Kommentare
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Danke für diesen Augenöffner. Bitte immer wieder! Und gerne auch mit konkreten Geschichten aus dem Alltag um lernen zu verstehen, wie der Weg des Herzens aussehen könnte.