Einen Monat lang dauerte die Überfahrt über den Indischen Ozean, dann übergab der Kapitän des koreanischen Frachters mich im Hafen von Singapur dem Müllschiff. 22 Jahre alt war ich und hatte nach meinem Philosophiestudium in München begonnen, als Backpacker Asien zu erkunden. Zu meinem Erstaunen empfing mich auf dem kleinen Müllschiff ein enthusiastisch strahlender Malaie, der nicht davon abliess, mich aufzufordern: «You have to ask yourself who you are!» (Du musst dich selbst fragen, wer du bist.)
Was für eine unsinnige Frage. Schliesslich hatte ich an einer renommierten Universität acht Semester Wissenschaftstheorie und Logik studiert, und nun wollte dieser Malaie, dass ich ihm diese Frage beantworte, die doch überhaupt keinen Sinn ergab? Ludwig Wittgensteins «Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen», hatte mein Studium geprägt, und überhaupt … warum genügte es ihm nicht einfach, den Müll zu entsorgen?
Die einzig wesentliche Frage
Der Malaie jedoch war so überschwänglich nett, dass ich ihm nichts übelnehmen konnte. Er nahm mich bei sich und seiner Familie auf, wo ich dann ein paar Tage blieb. Erst ein Jahr später, nach einem viermonatigen Aufenthalt in einem buddhistischen Kloster, der Lektüre von Idries Shahs Sufi-Geschichten und dem Wissen um die Lehre des südindischen Weisen Ramana Maharshi, begann ich zu verstehen: Die Frage nach sich selbst, nach der eigenen individuellen Identität, ist die einzige wesentliche Frage. Für uns alle, die wir da irgendwie vom Himmel auf die Erde gefallen sind und uns dort fragen, was es denn heissen soll, ein Mensch zu sein. Keine andere Frage geht tiefer. Wer sie sich stellt, dem erscheint bald alles andere als vergleichsweise unwesentlich. Auf dem Müllschiff im Hafen von Singapur war ich wohl einem Sufi begegnet, einem dieser legendären Weisen aus dem islamischen Kulturraum.
Das hinderliche Ego
Viele Jahre später, wieder zurück in Deutschland, gab ich eine Zeitschrift heraus, die ich Connection, und im Untertitel: «das Magazin fürs Wesentliche» nannte. Mit ihr hatte ich mich der Erforschung der spirituellen Wege aller Weltkulturen verschrieben. Ganz zu werden, eins zu werden mit allem, war das höchste Bestreben der Leser dieser Zeitschrift. Das kleine Ich, oft als Ego gescholten, schien für sie dabei das grösste Hindernis auf dem Weg zur Erleuchtung, der Freiheit, der bedingungslosen Liebe, zur Rückkehr in den Schoss der Natur, zu Gott, zum Ursprung von allem. Hatten sie damit Recht?
Abtrünnige auf Linie bringen
Ich bezweifelte es. Denn im Einzelnen erlebte ich, wie das vermaledeite Ego benutzt wurde, um in spirituellen Gruppen und Sekten Abtrünnige auf Linie zu bringen. Wer aus der dort jeweils gerade üblichen Praxis oder die Fokussierung auf den jeweiligen Guru ausscherte, galt als «im Ego» und noch nicht angekommen im Reich der Demut, Dankbarkeit und Hingabe an das große Ganze. Dort angekommen, wo wir mit Erich Fried sagen konnten: «Es ist, was es ist, sagt die Liebe».
Auch die Umstände sind wesentlich
Im Lauf der Jahre als Verleger dieser Zeitschrift, der ich mich als Unternehmer gleichermassen um meine Mitarbeiter und Lieferanten kümmern musste wie um meine Anzeigenkunden und Leser, wurde ich immer politischer. Die Suche des Menschen nach sich selbst mag ja spirituell-philosophisch das einzig Wesentliche sein. Aber in welchen Umständen wir lebten und inwieweit wir uns dort dieser tiefen Frage und der Entwicklung unserer Persönlichkeit stellen konnten, auch das war wesentlich.
Das Ich in seiner beleidigbaren Form
Die Verstrickung in Konflikte, seien sie persönliche oder kollektive, schafft uns Menschen vermeidbare Leiden. Bei allen diesen Verstrickungen spielt das so genannte Ego eine Rolle. Also das Ich in seiner beleidigbaren Form, das wetteifert, leicht reizbar ist, je nachdem aggressiv oder feige, gierig, unruhig oder schuldzuweisend, wenn etwas sich den eigenen Wünschen in den Weg stellt.
Wann fällt der Tropfen in den Ozean?
Also hatte es doch etwas auf sich, wenn wir dem kleinen, persönlichen Ich die Schuld gaben an der Misere der conditio humana? Sollten wir vielleicht doch besser hoffen, warten und geduldig meditieren, bis «der Tropfen in den Ozean gefallen» war, wie die sich ausbreitende Satsang-Szene es predigte, im Glauben, damit die Essenz transkultureller Mystik erfasst zu haben?
Ego, Ich, Atman
Ego ist ja nur das lateinische Wort für das Ich. Bei Sigmund Freud ist das Ich ein Zeichen für die erwachsene Persönlichkeit, die zwischen dem Über-Ich der gesellschaftlichen Anforderungen und dem Es der Triebe den Ausgleich zu finden hat. In den indischen Philosophien und Religionen hingegen ist vom Atman die Rede, dem Selbst. Dieses Ich, Ego oder Selbst wird in den Upanishaden als identisch mit dem grossen Ganzen bezeichnet: Aham Brahmasmi – ich bin das Ganze. Ähnlich dem Tat tvam asi – auch das bin ich, das ebenfalls in Indien und ausserhalb davon als Formulierung höchsten Weisheit gilt.
Aufklärung, Erleuchtung, Erleichterung
Da ist Aufklärung nötig, meine ich. Aufklärung im Sinne von Enlightenment, denn dieses englische Wort bedeutet zugleich Aufklärung und Erleuchtung. Ich übersetze es auch gerne schmunzelnd als Erleichterung, weil das «light» darin zugleich Licht und leicht bedeutet und ich das Erleuchtungs-Strebertum der spirituellen Szenen für nicht förderlich halte.
Semipermeable Membranen
Nach mehr als einem halben Jahrhundert der spirituellen Suche meine ich heute, dass die individuelle Ich-Identität, egal ob sie Ich, Ego, Selbst oder Atman genannt wird, am besten mit einer Membran zu vergleichen ist, wie man sie aus der Biologie kennt. Mit der Membran um eine einzelne Zelle. Diese muss semipermeabel sein, halbdurchlässig. Einiges soll sie durchlassen, anderes nicht.
Wie gut diese Durchlässigkeit funktioniert, entscheidet nicht nur über das Leben der einzelnen Zelle, sondern auch das des Organs, dessen Teil sie ist und des Organismus, von dem wiederum das Organ ein Teil ist. Biochemisch ist die einzelne Zelle ein Fliessgleichgewicht und untrennbarer Teil ihrer Umgebung. So wie auch wir individuellen Lebewesen. Ebenso wie die Kollektive, in denen wir leben, die Familien, Stämme, Nationen und Spezies innerhalb unseres Biotops auf Planet Erde Fliessgleichgewichte sind, die nicht mehr leben könnten, wenn ihre Membranen nicht mehr durchlässig wären.
Stell dir vor, es gäbe keine Grenzen!
John Lennons Lied «Imagine there′s no countries / It isn't hard to do / Nothing to kill or die for / And no religion, too», hat mich seit je fasziniert als Vision einer friedlich vereinten Menschheit. Inzwischen denke ich jedoch, dass er es sich damit zu einfach gemacht hat. So einfach wie die Anhänger der Advaita-Lehre, die glauben, wenn der Tropfen nur endlich in den Ozean gefallen ist – das heisst, das Ego sich im Ganzen aufgelöst hat –, begänne das Paradies auf Erden. Für den Einzelnen begänne es dort, wenn er es ihm gelänge, sich den Nimbus eines Erleuchteten zu verschaffen. Für das Kollektiv begänne es, sobald ein ausreichend grosser Teil davon egofrei geworden sei.
Holarchien
Inzwischen meine ich jedoch, dass es viel besser wäre, die sozialen Kollektive von uns Menschen als Holarchien zu verstehen und sie als solche optimal zu strukturieren. Das heisst, wir verstehen alles als sowohl Teil eines grösseren Ganzen wie auch als in sich Teile enthaltend. Außerdem gestehen wir, angefangen vom Individuum, jeder Einheit dieser Holarchie so etwas wie eine Zellmembran zu. Dann dürfen Paare und Familien ein Privatleben haben. Cliquen, Stämme, Gemeinden, Regionen und Subkulturen dürfen sich voneinander abgrenzen nach dem Prinzip der Subsidiarität. Nationen öffnen oder schliessen ihre Grenzen semipermeabel mit Blick auf das, was der einzelnen Nation guttut ebenso wie dem größeren Ganzen, in das sie eingebettet sind. Globalismus und Lokalismus sind dann so wenig im Widerspruch, wie eine funktionierende Zelle dem Organismus widerspricht, dessen Teil sie ist.
Die Egos von Trump & Co.
Was resultiert hieraus für ein Ego wie das von Menschen wie Trump, Putin, Selenskyj oder Netanyahu? Oder für dein und mein Ego und das Kollektiv, dem wir jeweils anzugehören glauben?
Alle diese Egos sind aus Teilen zusammengesetzt, sind selbst Teile grösserer Einheiten und haben semipermeable Grenzen. Und da sie nicht biologische, sondern soziale, kulturelle oder politische Strukturen sind, basieren diese Einheiten und ihre Grenzen auf Narrativen. Sie gründen sich in sprachlichen Schöpfungen, die gerade so weit gelten, wie der Glaube an sie.
Die Macht des Glaubens
Das ist nicht viel anders als beim Glauben an den Wert von Geld. Weil so viele andere an den Wert eines Papierscheins oder die Ziffern eines Kontostandes glauben, erweist sich auch mein Glaube daran als realistisch. Kollektiv können wir jedoch diese Überzeugungen ändern. Das nennen wir dann Bewusstseinsentwicklung, Kultur- oder Geistesgeschichte, eng verwoben mit der Geschichte von Wirtschaft und Macht.
Die Erkenntnis dieser narrativen Strukturen würde demnach einen Weg zum Frieden weisen. Hat das eine Chance? Wer weiss das schon. Wesentlich ist, ob ich daran glaube. Wenn ich an eine solche Chance glaube, bin ich optimistisch, tatkräftig und zuversichtlich. Wenn ich nicht dran glaube, bin ich Teil des Problems und nicht mehr Teil einer Lösung.