Der Fakir von Winterthur

Der Fakir scheint aus einer fernen Welt zu kommen, aus Agasul. Er trägt exotische, selbst verzierte Kleidung, betont die Augen mit einem Kajalstift und wohnt in einem Garten, der sich im Laufe der Jahre zu einem phantastischen Hüttendorf namens «Morgenland» entwickelt hat. Seine Wohnbaracke steht inmitten einer Wunderwelt aus Unterständen, Terrassen, und verwinkelten Nischen, bevölkert von Fabelwesen, Naturgöttinnen und Krafttieren, die, wenn sie lebendig wären, ein wildes und freies Leben führen würden.
Aber Agasul liegt im Zürcher Oberland, und Erwin Schatzmann wohnt und arbeitet im Industriegebiet von Winterthur. Er ist einer von uns – mit dem kleinen Unterschied, dass er nicht nur Kunst macht, sondern sie auch lebt. Er stellt, wie es sich für die Bauvorschriften eines Industriegebietes gehört, etwas her und lebt auch davon. Aber: «Kunst heisst nicht nur Gegenstände, sondern Zustände und ‹Verstände› herstellen», sagt er – das Sinnvolle dem Rentablen vorziehen. Kunst ist für ihn «nicht Dekoration, sondern eine friedliche Waffe», «Politik mit anderen Mitteln».

Politik mit herkömmlichen Mitteln hat er auch schon gemacht und 1996 eine Initiative für einen See in Winterthur lanciert. Der See wurde an der Urne zwar versenkt, aber die Idee geistert noch immer in Winterthur herum und man darf davon ausgehen, dass sie irgendwann einmal realisiert wird. Denn der 60-jährige Erwin Schatzmann hat zwar keinen Computer, aber Disziplin und Ausdauer. Seine Erfahrung: «Um phantastische Ideen zu realisieren, braucht es ein seriöses Leben.» Nach seiner KV-Lehre reiste der junge Mann ein paar Jahre durch Europa, Asien und Amerika und beschloss 1979, als Autodidakt Künstler zu werden. Er begann mit Ölbildern und Keramik und verlegte seinen Schwerpunkt zunehmend auf bemalte Holzskulpturen. In ihnen versucht er, philosophischen, religiösen und mythologischen Inhalten eine Form zu geben. Dazu verwendet er Elemente der europäischen Volkskunst, eine Formensprache, die er als «phantastischen Heimatstil» bezeichnet.
Das «Morgenland» ist gleichzeitig Garten, Wohn-, Arbeits-, Ausstellungs- und Begegnungsort. Man kann sich dort tageweise Arbeitsräume mieten (und dem Meister über die Schultern schauen) oder Anlässe durchführen, wie zum Beispiel den Zeitpunkt-Apero vom 3. Juli. Allein schon still dazusitzen und sich zu freuen, dass ein solcher Ort existiert, ist ein Erlebnis mit Tiefenwirkung.

Mindestens so bemerkenswert wie die Kunst, die mittlerweile auch bei Kirchen und Schulhäusern ausstrahlt, ist der Mensch dahinter, der Philosoph und seine Lebenspraxis – ein Gesamtkunstwerk im besten Sinn. Erwin Schatzmann sieht mit seinem Zopfbart zwar aus wie ein Freak, dem die persönliche Freiheit alles und alles andere nichts ist. Aber im Grunde ist er ein Fakir, ein Mensch, der den unvermeidlichen Schmerz des Lebens  überwunden hat. «Dein Leiden interessiert niemanden – nur deine Antwort darauf» lautet einer der vielen Aphorismen, auf die man in seinem «Morgenland» immer wieder stösst. Sein Ziel ist es, Freude zu verbreiten und Bewusstsein für die Geheimnisse dieser Welt zu schaffen. Wer sich nur schon einen Augenblick Zeit für eine Begegnung nimmt, vergisst den Freak des ersten Eindrucks und erkennt den Menschenfreund, den Sozialplastiker und den phantasievollen Visionär. Ganz alleine scheint Erwin Schatzmann bei seiner Arbeit nicht zu sein: «Gott hilft mir vielleicht, auf jeden Fall aber muss ich Gott helfen.»   

    
Kontakt: Erwin Schatzmann, Hegibergstr. 16, 8409 Winterthur, Tel. 079 672 59 63. www.erwinschatzmann.ch

Am 3. Juli, 17.30 bis 20.00 Uhr, findet im Morgenland von Erwin Schatzmann der Zeitpunkt-Apéro statt. Leserinnen und Leser sind herzlich eingeladen. Programmdetails.
20. Juni 2014
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Christoph Pfluger

Submitted by admin on Do, 07/13/2017 - 08:33

Christoph Pfluger ist seit 1992 der Herausgeber des Zeitpunkt. "Als Herausgeber einer Zeitschrift, deren Abobeitrag von den Leserinnen und Lesern frei bestimmt wird, erfahre ich täglich die Kraft der Selbstbestimmung. Und als Journalist, der visionären Projekten und mutigen Menschen nachspürt weiss ich: Es gibt viel mehr positive Kräfte im Land als uns die Massenmedien glauben lassen".

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