Die Mutter aller sexuellen Tabus

Geschichten über Geschwisterliebe sind so abstossend wie faszinierend.

Geschichten, wie jene von Patrick S. und Susan K. aus Leipzig, die als geschwisterliches Liebespaar vier Kinder gezeugt haben. Die beiden wuchsen getrennt voneinander auf. Mit 24 bzw. 16 lernten sie sich kennen und wurden später ein Paar. Für den ungewöhnlichen Lebensentwurf wurde Patrick S. zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Eine solche Beziehung ist in Deutschland verboten.

Warum eigentlich? In einem Land, das Homosexualität und Ehebruch legalisiert und toleriert hat und das die sexuelle Selbstbestimmung als integralen Bestandteil der individuellen Handlungsfreiheit gesetzlich garantiert? Wenigstens so lange, als dadurch niemand in seinen Rechten verletzt oder beschnitten wird.

Sicher: Einige Erbkrankheiten können beim Nachwuchs nur dann ausbrechen, wenn beide Elternteile Träger derselben kranken Veranlagung sind. Die Chance, dass Geschwister die gleiche Anlage vererben, ist mit rund 40 Prozent massiv höher als bei nichtverwandten Eltern (3 Prozent). Inzuchttabu zum Erhalt der Sippengesundheit? Mitnichten! §173 StGB (Deutschland) bzw. Art. 213 (Schweiz), auf die sich Verurteilungen wegen «Blutschande!» stützen, bestrafen keineswegs die Zeugung erbkranker Kinder. Diese ist auch für andere, medizinisch festgestellte, hochriskante Kindszeugungen klar erlaubt. Die erwähnten Paragraphen ahnden weder geschlechtliche Handlungen zwischen leiblichen Brüdern noch schützen sie Kinder vor Übergriffen durch die Eltern – Missbrauch Abhängiger wird ohnehin geahndet. Bestraft werden ausschliesslich und explizit Vaginalverkehr mit «leiblichen Abkömmlingen» oder «leiblichen Verwandten aufsteigender Linie» oder «leiblichen Geschwistern» – ausdrücklich auch dann, wenn er einvernehmlich ist und zwischen Erwachsenen stattfindet. Innige Liebe der Delinquierenden ist kein mildernder Umstand. Wenn bereits die körperliche Liebe ein Verbrechen ist, muss eine Schwangerschaft zur Tragödie werden.

Warum dieses verzweifelte Festhalten an einem Straftatbestand, der ahndet, was kaum je zum Prozess führt und längst schon obsolet ist? Die Entstehung des Inzesttabus als eines der ältesten universalen Tabus konnte bis dato nie schlüssig erklärt werden, und wo Argumente nicht stechen, wird zum probaten Mittel der Pathologierung gegriffen. So flüchten sich Behavioristen gern in die Behauptung, sexuelle Anziehung zwischen Geschwistern gebe es gar nicht. Es gebe eine angeborene Inzestscheu, sozusagen ein im Blut liegendes «Blutschutzgesetz». Inzest ist also Krankheit, nicht ein auf Entscheidung beruhendes Verhalten! Aber seit wann werden «Krankheiten» verboten?

Für Sigmund Freud ist inzestuöses Begehren das Gegenteil von «krank», nämlich vielmehr die natürlichste, früheste Neigung des Menschen, die er im Laufe seiner Erwachsenwerdung aber überwinden muss. Freuds Totem und Tabu lieferte dazu ein einleuchtendes Argument gegen die Leugnung inzestuösen Begehrens: Es gibt nur dort Verbote, wo auch der Wunsch zur Übertretung existiert. Könnte es sein, dass dieser Wunsch nach Übertretung normalerweise gar nicht so feurig, innig und ungewöhnlich ist, sondern halt eben aus Neugier entsteht und Geschwister eben schon in der Pubertät am einfachsten «verfügbar» sind? «Blutschande» als «Dökterlen» mit anderen Mitteln?


Seit ein paar Jahren wird in Deutschland und der Schweiz diskutiert, ob der freiwillige Geschlechtsakt zwischen zwei Blutsverwandten nicht mindestens zu entkriminalisieren sei. Die Möglichkeit, so der deutsche Ethikrat, dass risikobehaftete Kinder durch inzestuöse Beziehungen entstehen, reiche nicht aus, um den einvernehmlichen Geschlechtsakt zwischen Geschwistern zu verbieten. Normalen Paaren mit hoher Wahrscheinlichkeit von Nachkommen mit Erbkrankheiten würde der Geschlechtsakt ja auch nicht verboten. Das Verbot inzestuöser Beziehungen sei, so der Schweizer Strafrechtsprofessor Davis Gibor, «diskriminierend, widersprüchlich, lückenhaft und verfassungswidrig». Zudem sei bis heute unklar, wer oder was durch den Inzest überhaupt zu Schaden komme, welches Rechtsgut denn durch die Inzest-Strafnorm geschützt werden solle. Strafrechtliche Sanktionierungen seien  nur dort zulässig, wo auch definierte Rechtsgüter verletzt würden.

Das Begehren wurde im Vernehmlassungsverfahren abgelehnt, der Tatbestand «Beischlaf mit einem voll- oder halbbürtigen Geschwister» wird nach Schweizerischem Strafgesetzbuch weiterhin mit bis zu drei Jahren Freiheits- oder Geldstrafe geahndet. Nicht die juristische Logik, nicht die individuelle Freiheit hat am Ende einer hochemotional geführten Ratsdebatte gesiegt, sondern die (Doppel-)Moral.



Mehr zum Thema finden Sie im Heft 136 Berichte aus der Tabuzone
22. April 2015
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