Ein vorübergehender Tod in Sorrent
Plötzlich schlägt das Schicksal zu. Man überlebt. Aber damit ist nichts erledigt. Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben».
«Die Strasse hier überqueren zu wollen, wäre nicht ratsam» (Bild NL)
«Die Strasse hier überqueren zu wollen, wäre nicht ratsam» (Bild NL)

In Sorrent, auf den Tag genau vor zwölf Jahren geschah es, um 9 Uhr 30. Dann, von einer Sekunde zur nächsten, setzt die Erinnerung aus. Die Zeit zwischen 9:30 und 10:30 ist für mich unauffindbar.

In den Minuten davor verliess ich die Ferienwohnung und ging durch das Gässchen zur Strasse hinunter, um auf die andere Seite zu wechseln und so den schmalen Pfad zu erreichen, der über viele Treppenstufen zu einer Bucht hinab führte, wo ich, wie schon am Morgen davor, ein erquickendes Bad im Meer nehmen wollte.

Noch bevor ich die Strasse sah, hörte ich sie. Eine stark befahrene Küstenstrasse mit engen Kurven und wenig Raum. In der Luft, schon jetzt, ein ständiger Druck, ein dauerndes Hupen, Nervosität, eine Kampfesstimmung, ein Feilschen um Meter und Zentimeter. Verkehr in Italien. Reizvolles Spiel um das Glück des Schnelleren.  

Das Gässchen endet unmittelbar an der Fahrbahn. Die Strasse hier überqueren zu wollen, wäre nicht ratsam – zu unübersichtlich die Kurve davor, zu kurz der Bremsweg. Ich ging dem Rand der Fahrbahn entlang, um eine bessere Stelle zu finden. Da versperrte mir ein Fiat den Weg.

Wer um Himmels willen - das dachte ich noch - parkiert an dieser Stelle sein Auto?

Um Himmels willen.

Der Fiat, der so verboten im Weg stand, nötigte mich, die Strassenseite zu wechseln. Ich trat hinaus, aus dem Schutz des parkierten Autos hinaus auf die Fahrbahn – als um die Kurve ein Roller raste. Ich sehe den Rollerfahrer nicht vor mir, das Bild ist weg, aber ich weiss, um die Kurve raste der Roller, und ich erinnere mich, dass ich noch dachte: Der Roller überfährt einen Fussgänger.

Als hätte es nichts mit mir zu tun.  Das war der letzte Gedanke, bevor ich das Bewusstsein verlor. Den Aufprall erlebte ich nicht mehr.

Aber es muss diesen Aufprall gegeben haben.

Eine Stunde später kehrte ich in meinen Körper zurück. Das weiss ich, weil die Krankenschwester im Spital von Sorrent eine Uhr trug. Um 10:46 schrieb ich Julia, meiner Gefährtin, bereits die Botschaft:

Ich lebe noch.

So stand es danach in meinem kleinen digitalen Gerät, und ich kann auch zwölf Jahre später bestätigen, dass es ein schönes Gefühl ist, zu leben. Meine tapferen Glieder blieben zwar noch eine Weile lädiert, aber ich konnte das Krankenhaus von Sorrent schon nach wenigen Stunden wieder verlassen.

Die Zeit zwischen 9:30 und 10:30 jedoch bleibt ein leeres Blatt in meinem Gedächtnis. Ich begab mich an die Stelle des Unfalls – doch nichts geschah. Kein Bild wurde wach, kein Gefühl. Nicht einmal Spuren von meinem Blut sah ich am Boden. Hatte mir der Arzt nicht gesagt, wie stark ich geblutet hätte?  In den Tagen, die auf den Unfall folgten, streiften wir durch das alte Sorrent, wanderten in den Ruinen Pompeijs umher, nahmen das Schiff nach Capri – doch kein einziges Mal passierte es mir, dass ich innehielt, weil ein Bild aus tieferen Schichten heraufkam. Ein Bild vielleicht aus lichten Momenten meiner Bewusstlosigkeit.  

Immer wieder in diesen Tagen erhob sich über der kleinen Stadt die Sirene der Ambulanz, und jedesmal dachte ich, ihr gelingt es vielleicht, die Stille in meinem Innern zu brechen. Doch ihr Aufheulen, so vertraut es in meinen Ohren klang, konnte mich nicht erlösen. Nur der geprellte Rücken, die genähte Wunde am Hinterkopf und dunkle Flecken auf meinem Rucksack zeugten von der Gewalt, die das Leben mitten in meinen Ferien, für mich ausgesucht hatte.

Als wir an unserem letzten Abend vor einem der Hafenrestaurants, in ein Gespräch vertieft, stehenblieben, näherte sich uns der Wirt des Lokals, um uns mit den üblichen Höflichkeiten zum Essen in seine Taverne zu locken.  

Er gab nicht auf, und ich wollte gerade dankend ablehnen - da blickte er mir überrascht ins Gesicht und sagte: «Jetzt bin ich sicher. Das waren Sie. In Sie ist der Roller hineingefahren. Diese Typen fahren wie die Verrückten, es ist eine Schande!»

Zufällig, auf dem Weg an die Arbeit war der sorrentinische Wirt als Erster am Unfallort angekommen. Er alarmierte die Ambulanz, und zusammen mit anderen schaffte er mich von der Fahrbahn, bis der Rettungswagen erschien. Das erzählte er mir, jetzt, an unserem letzten Abend. Er wollte nicht damit angeben. Er sagte es einfach, damit ich es wusste.

Ich dankte ihm tausendmal, und selbstverständlich entschieden wir uns, bei ihm zu essen. Doch im Grunde wusste ich nicht, wofür ich ihm dankte. Ich hatte diesen Menschen noch nie gesehen.

*

Ein Jahr verging. Die Prellungen heilten, die Wunde am Hinterkopf schloss sich, ich schrieb mir den Schock von der Seele – das Leben nahm seinen Fortgang. Doch die Stunde des Unfalls blieb mir verschlossen, auch weiterhin. War ich die ganze Zeit so bewusstlos gewesen, dass ich nichts in mich aufnahm? Oder hatte ich alles miterlebt wie ein Traum, der beim Erwachen entschwindet?

Der Aufprall des Rollers auf meinen Körper, die Leute, die mir zu Hilfe eilten, die Ambulanz, die Fahrt zum Spital, ein Gesicht, das sich über mich beugte, ein Ausdruck voller Besorgnis – die Bilder wollten sich mir nicht zeigen. Ich musste mich damit abfinden, dass mir jene traumatische Stunde am Morgen des 24. April 2013 für immer entzogen bleibt.

Trotzdem drängten mich meine Gedanken unangenehm an den Unfall zurück, und jedesmal empfand ich in mir eine Unruhe, wie man sie spürt, wenn eine Sache noch nicht erledigt ist. Mir war klar, was ich tun musste.  

Auch im folgenden Frühling reisten wir wieder südwärts. Wieder war es Italien und wieder der Golf von Neapel – diesmal nicht mehr Sorrent, doch ein Ort in der Nähe. Und an einem der Tage, nahm ich mir vor, fahre ich nach Sorrent. Ich musste noch einmal zurück. Zurück in den Albtraum jenes dramatischen Morgens.

Dann war ich dort. Allein, das musste so sein. Ich begab mich zum Haus mit der Ferienwohnung, die wir im Vorjahr gemietet hatten, versteckte den Rucksack in einem Gebüsch und nahm nur das Badezeug mit, genau so wie damals. Auch das Wetter schien mir dasselbe zu sein. Dunst lag in der Luft, der den Sonnenschein trübte.

Dann lief ich erneut den Weg hinunter zur Strasse, hörte den Lärm des Verkehrs, bog um die Ecke – und alles erkannte ich wieder: Zu meiner Linken die unübersichtliche Kurve, zu meiner Rechten, in einigen Metern Entfernung der Fussgängerstreifen. Und wieder stand da ein Auto, derart parkiert, dass ich, um auszuweichen, die Fahrbahn an der gefährlichsten Stelle betreten musste.

Es war dieselbe trügerische Situation, und ich dachte auf einmal: Wenn es wieder geschieht? Wenn ich schlafende Hunde wecke?

Unwillkürlich klopfte mein Herz. Es pochte wie wild. Vor einem Jahr hatte es nicht geklopft. Meine Gedanken waren woanders gewesen. Das war der Unterschied, und da wusste ich: Diesmal konnte mir nichts geschehen. Wenn das Herz klopfen darf, bin ich beschützt. Ich schaute nach rechts, ich schaute nach links, ich horchte, ob ich ein Fahrzeug hörte, ich horchte erneut – und überquerte die Strasse. Das Leben, diesmal, war einverstanden. Kein Roller, der um die Ecke gejagt kam. Kein Tod in Sorrent.

Auf der anderen Strassenseite nahm ich den Pfad, der zum Strand hinab führt, und als ich am Meer unten angelangt war, ging ich schwimmen. Ich vollendete, was ich vorgehabt hatte, ein Jahr davor.

Ich hatte einfach nur baden gehen wollen. Jetzt tat ich es.
 

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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