Holy Shit

Dieser Text enthält Fäkalsprache. Wer sie nicht erträgt, soll bitte nicht weiterlesen.

Wir alle tragen unglaublich viel Scheisse in unseren Rucksäcken mit uns herum: Unsägliche Schicksale unserer Vorfahren mit Tiefenwirkung bis in unsere Generation, unterdrückte Trauer, verborgene Ängs­te, versteckte Lebensfehler, verdrängte Gefühle, vielleicht sogar echte Missetaten – eine geballte Ladung Scheisse, die uns auf Schritt und Tritt begleitet und unser Tun und Lassen, unser Denken und Fühlen prägt, die Nächstenliebe erschwert und letztlich wahre Menschengemeinschaft verunmöglicht. Eine Plage von biblischem Ausmass.

Ausnahmslos jeder von uns schleppt eine pralle Packung mit sich herum, und nur weil wir allesamt gebückt durchs Leben gehen, merken wir gar nicht, wie weit unter unserem Potenzial wir leben. Die Scheisse ist überall, deshalb riechen wir sie nicht.
Manche versuchen, sie mit Tüchtigkeit zu übertünchen, mit Konformität oder mit demonstrativer Überlegenheit. Andere resignieren, brechen unter dem stinkenden Gewicht zusammen oder tun Busse, weil sie sich persönlich schuldig fühlen.
Einige von uns versuchen, sich durch Meditation, Therapie oder Lebensarbeit von dieser Last zu befreien, langsam, in immer wieder neuen Anläufen, und manchmal sogar mit echten, kleinen Fortschritten. Das ist erfreulich, das weckt Hoffnung, aber ich fürchte: Es ist nicht genug. Ich glaube nicht, dass die damit zu erreichenden Ergebnisse mit der Notwendigkeit des jetzt erforderlichen Quantensprungs Schritt halten. Wir können nicht zweihundert Jahre lang warten, bis endlich alle unsere Egoismen abgearbeitet sind. Bis dahin ist das Chaos in der Scheisswelt mehrfach ausgebrochen.

Wir müssen andere Mittel finden. Der kürzeste Weg – er ist fast zu einfach –, besteht darin, endlich die Tatsache zu akzeptieren, dass wir alle eine enorme Ladung Mist durch unser Leben schleppen und in der Einsicht, dies unseren Mitmenschen nicht mehr übel zu nehmen. Es geht uns allen gleich, Vorwürfe an andere fallen ziemlich schnell auf uns zurück.
Dieses Eingeständnis hätte enorme Vorteile von geradezu gigantischem gesellschaftlichen Potenzial:
Erstens müssten wir nicht mehr perfekt sein. Oder positiv ausgedrückt: Wir sind in Ordnung, wie wir sind. Die Masken können fallen.
Zweitens dürften wir Fehler machen und deshalb könnten wir sie auch eingestehen und müssten sie nicht wiederholen.

Der Anspruch, fehlerfrei zu sein, richtet unheimlich viel Schaden an: Rechthaberei, Lüge, Festhalten an Fehlern, Verhinderung neuer Lösungen… Man stelle sich nur einmal die menschlichen und monetären Kosten vor, weil Politiker, Banker, Anleger und Bürger auch nach fünf Jahren offizieller Finanzkrise nicht auf die Idee kommen dürfen, vielleicht ein paar ziemlich gravierende Fehler begangen zu haben. Die Rechthaberei ist im Grunde unbezahlbar.Stellen Sie sich einmal vor, unsere Politiker könnten Fehler eingestehen! Wir hätten ziemlich schnell ein ziemlich perfektes Gemeinwesen. Denn nur wenn Fehler erkannt werden, lassen sie sich in Zukunft vermeiden. Je mehr, desto besser – wenigstens zu Beginn.

Vollkommenheit ist paradox, wie alle höheren Werte des Menschen. Sie ist nur erreichbar, indem man sie aufgibt und sich die Fehlerhaftigkeit eingesteht. Perfektion ist eine diabolische Illusion. Das sollten wir wissen, seit Luzifer Gott gleich sein wollte. Wir müssen aber nicht so weit in der Menschheitsgeschichte zurückkehren. Adam und Eva, die an der Unterscheidung zwischen Gut und Böse scheiterten, reichen auch.
Ähnlich paradox verhält es sich übrigens mit der Freiheit: Sie ist nur zu erreichen, wenn man sie freiwillig einschränkt. Aus ähnlichem Grund glaube ich nicht, dass wir uns vom Joch unserer Packung befreien, indem wir ihr viel Beachtung schenken. Im Gegenteil: Je tiefer wir im Mist herumstochern, desto grösser der Gestank. Natürlich wird uns immer wieder mal ein Stück vor die Füsse fallen. Und wenn wir es nicht beachten, werden wir darauf ausrutschen. Aber wir könnten den Mist auch annehmen und uns dadurch in die Lage versetzen, ihn überhaupt abzuladen, jedes Mal, wenn er uns in die Quere kommt. Holy Shit! Vielen Dank, dass ich wieder eine Erfahrung machen durfte, die ich deshalb nicht wiederholen muss! Mist, auch unser eigener, ist Dünger.
16. Oktober 2012
von:

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Christoph Pfluger

Submitted by admin on Do, 07/13/2017 - 08:33

Christoph Pfluger ist seit 1992 der Herausgeber des Zeitpunkt. "Als Herausgeber einer Zeitschrift, deren Abobeitrag von den Leserinnen und Lesern frei bestimmt wird, erfahre ich täglich die Kraft der Selbstbestimmung. Und als Journalist, der visionären Projekten und mutigen Menschen nachspürt weiss ich: Es gibt viel mehr positive Kräfte im Land als uns die Massenmedien glauben lassen".

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