Die Krankheit wird «normal»

Denken Sie bei «Psychopath» an einen Wahnsinnigen, der in einer psychiatrischen Klinik sein Dasein fristet? Denken Sie weiter! So mancher Psychopath versteckt sich im Gewand des CEO einer transnationalen Firma, sitzt im Chefstuhl eines Unternehmens, das aus Schulden gebeutelter Entwicklungsländer Profit schlägt, oder spekuliert uns an der Börse nonchalant an den Rand des Abgrunds. «Als zur Einfühlung in andere unfähig, oberflächlich charmant, anpassungsfähig, zynisch-kalt, bindungs- und skrupellos und ausschliesslich an privater Nutzenmaximierung interessiert», so beschreiben psychiatrische Diagnosemanuale den «Psychopathen». Dies seien Eigenschaften, die in der New Economy zunehmend an der Tagesordnung seien, für den Erfolg am Markt auch nötig wären, sagt Dr. Götz Eisenberg.

Der Gefängnispsychologe, Autor des Buches «Gewalt, die aus der Kälte kommt», betont: «Es gibt eine kollektive Basisstörung, die innerhalb einer Gesellschaft keinen Krankheitswert besitzt, sondern den ihr gemässen Sozialcharakter ausmacht.» Die Krankheit wird zum Normalzustand. So soll zum Beispiel in der 2013 erscheinenden neuen Fassung des massgebenden Diagnosemanuals der American Psychiatric Association die «narzisstische Persönlichkeitsstörung» nicht mehr aufgeführt werden. Das Wechselspiel aus mangelndem Selbstbewusstsein, Suche nach Anerkennung und Bewunderung und Mangel an Empathie, das diesen Charakter ausmacht, ist im konsumistischen Zeitalter des Kapitalismus längst zur Norm geworden. Der Neoliberalismus hat seine Spuren hinterlassen. Er habe die Menschen selbst eisig werden lassen und ihre Innenwelt in eine Gletscherlandschaft eingefrorener Gefühle verwandelt, sagt Eisenberg. «Sie können gar nicht anders, als diese Kälte weiterzugeben und auf ihre Umgebung abzustrahlen.» Schwachen oder weniger leistungsfähigen Menschen lässt die gewinn- und gewinnerorientierte Gesellschaft keinen Raum. «Du Opfer» gilt unter heutigen Jugendlichen als eine der schlimmsten Beleidigungen. Die «unsichtbare Hand» des Marktes hat auch die Schulen im Griff: Wer dem wachsenden Leistungsdruck und Konkurrenzkampf nicht standhält, wird schnell Opfer von Vereinsamung, Mobbing und Feindseligkeiten.

Die entfesselte und skrupellose Geldwelt lässt die Psychopathen prächtig gedeihen. «Der Narzisst mag heute noch tonangebend sein, die Zukunft gehört dem Psychopathen», warnt Eisenberg. Von der Tyrannei der Ökonomie wird sich nur eine Gesellschaft befreien können, die soziale Integration, solidarische Kooperation und Gemeinschaft fördert. Die Psychopathen des Marktes behandeln Menschen wie Waren — wer ihnen nicht entgegenwirkt, wird mit den Konsequenzen ihres Handelns leben müssen.  


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15. März 2012
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