Der Journalist (u.a. Le Monde Diplomatique und Berliner Zeitung) und Bestsellerautor (u.a. Das Ende der Megamaschine) Fabian Scheidler zeigt in seinem neuen Buch an vier gut recherchierten Beispielen auf, dass, wie und warum der Westen in seiner Kriegslogik seine Feinde selbst erschaffen hat, die er jetzt bekämpft: Der Kampf gegen den Terror, Ukraine, Gaza und Corona. Im Gespräch erläutert er Christa Dregger auf TransitionTV, dass es durchaus Chancen gibt, diese Logik zu durchbrechen.

Zeitpunkt: Was ist eigentlich mit den Politikern los heutzutage, dass eine Zeitenwende nicht mehr eine ökologisch-soziale Reform bedeutet, sondern immer nur mehr Rüstung?
Fabian Scheidler: In den letzten fünf Jahren hat sich in Europa eine Art Kriegslogik durchgesetzt durch die Reaktion auf Gewaltereignisse, auf Krisen. Der Vorläufer dazu war der Krieg gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001, wo die USA mit ihren europäischen Verbündeten mit einem globalen Krieg geantwortet haben, der ganze Weltregionen in Schutt und Asche gelegt hat und Hunderttausende von Toten hinterlassen hat. Eine verheerende Fehlreaktion auf Gewalt und Krisen. Das hat sich fortgesetzt tatsächlich in der Pandemie. Macron und andere Regierungschefs haben den Kampf gegen das Virus als Krieg gegen das Virus geframed, und so sah das dann auch aus. Lockdown, das war ein Begriff, der in der Epidemiologie früher überhaupt nicht existierte. Wir wissen heute, dass die drastischen Massnahmen kontraproduktiv waren, grosse gesellschaftliche Schäden hinterlassen und wenig genutzt haben zur Pandemiebekämpfung.
Dann ging es weiter nach dem 7. Oktober 2023. Israel hat auf die Anschläge, die etwa 1 200 Tote gefordert haben, davon die Mehrzahl Zivilisten, mit einem verheerenden Krieg, massiven Kriegsverbrechen und tatsächlich einem Genozid geantwortet, wie wir inzwischen wissen. Er hat Zehntausende von Toten gekostet, also wiederum ein Zigfaches der ursprünglichen Opfer. Und der Westen, speziell die USA und Deutschland, haben Israel bedingungslos unterstützt.
Die Ukraine ist ein ähnlicher Fall. Am 24. Februar 2022 ist die russische Armee in die Ukraine einmarschiert. Das war natürlich auch ein Verbrechen nach dem Völkerrecht, das ist überhaupt keine Frage. Aber der Westen hat mit Eskalation reagiert statt mit Verhandlungen, statt mit Diplomatie. Es gab im März und April des Jahres 2022 substanzielle Verhandlungen in Istanbul und anderswo, in denen die Ukraine einen Zehn-Punkte-Plan geführt hat, der die Neutralität der Ukraine und den Rückzug der russischen Truppen umfasste. Das war fast unterschriftsreif. Doch am 9. April 2022 kam Boris Johnson nach Kiew und sagte den Ukrainern, ihr sollt nicht verhandeln, sondern weiter kämpfen. Dafür gibt es hochkarätige westliche Zeugen, unter anderem der ukrainische Chefunterhändler und damalige Fraktionsvorsitzende der Partei Selenskyjs und der türkische Aussenminister. Der Westen hat also die Verhandlungen blockiert und dazu beigetragen, dass der Krieg Hunderttausenden von Toten gekostet hat. Das wäre vermeidbar gewesen.
Ja, was ist mit unseren Politikern los? Indem sie immer auf Eskalation setzen, schaden sie ja auch den europäischen Interessen. Es gibt eine Neigung innerhalb der europäischen Eliten, auf einen permanenten Ausnahmezustand zu setzen, mit dem man Dissens unterdrücken kann. Denn wenn ein Feind vor der Tür steht, muss sich alles auf die Bekämpfung des Feindes konzentrieren. Über Fragen wie Ökologie, Klima, soziale Gerechtigkeit brauchen sie nicht mehr diskutieren, geschweige denn über Kapitalismuskritik, es geht nur noch darum, den Feind zu bekämpfen.
Man kann diese unglaubliche Aufrüstung legitimieren, wenn man sagt, der Russe marschiert morgen ein. Dabei hat Russland gar nicht die Kapazitäten dazu, wie Geheimdienste bestätigen. Aber die Angstmache kann die Aufrüstung legitimieren, die wiederum unglaubliche Mengen von Geld in den militärisch industriellen Komplex kanalisiert.
Und der dritte Grund für diese Kriegsstrategie ist meines Erachtens der Zerfall der westlichen Hegemonie. Das löst Panik in den Eliten aus in den USA und Europa, sie versuchen, durch Aufrüstung ihre beherrschende Stellung aufrechtzuerhalten.
Im Buch erwähnst du den Zerfall der westlichen Hegemonie auch als Chance. Wie könnte das eine Chance sein?
Fabian Scheidler: Die Chance ist in gewisser Weise theoretisch, denn mit unseren europäischen Führungskräften scheint das nicht zu machen zu sein. Aber es wäre der Weg der Vernunft. Denn Europa liegt zwischen den grossen Blöcken, und Russland wird nicht verschwinden. Wir haben ja auch gerade in Deutschland eine lange Tradition von Entspannungspolitik begonnen unter Willy Brandt, Egon Bahr, Olof Palme in Schweden, die extrem erfolgreich war und dazu beigetragen hat, dass der Erste Kalte Krieg friedlich beendet wurde und Deutschland sich wiedervereinigen konnte. Diese Entspannungspolitik ist leider aufgegeben worden. Man hat auf NATO-Expansion gesetzt.
Wer ist denn dieses «man»? Wo kamen diese Kriegstreiber her?
Fabian Scheidler: Es gab ja diese unglaubliche welthistorische Chance nach 1990, als Michail Gorbatschow dem Westen das gemeinsame Haus Europa angeboten hat, also eine neue Friedensordnung, die nicht auf militärischen Blöcken, sondern auf zivilen Institutionen wie der OSZE gründet, die aus der Entspannungspolitik hervorgegangen ist. Aber auch damals gab es im Hintergrund schon Kräfte, die Neokonservativen in den USA und ihre Ableger in Europa, die diesen Prozess einer neuen Friedensordnung untergraben haben. Sie wollten als Sieger der Geschichte das ganze Spielfeld abräumen und es als Chance nutzen für eine unipolare Weltordnung, um den ganzen Globus zu dominieren. Die Neokonservativen waren schon unter Bill Clinton am Werk, gleichermassen in der Demokratischen Partei wie in der Republikanischen Partei. Sie kamen dann mit George W. Bush an die Regierung und haben die Aussenpolitik bestimmt. Und Europa hat der NATO-Expansion zugestimmt, einfach aus Unterwürfigkeit gegenüber den USA, entgegen dem europäischen Interesse.
Der Untertitel deines Buches heisst: Wie wir aufhören können, unsere Feinde selbst zu schaffen. Wie können wir denn aufhören? Und wer ist dieses wir, das du ansprichst? Von wem könnte dieser Sinneswandel kommen?
Fabian Scheidler: Er kann nur aus der Bevölkerung kommen. Unsere politischen Eliten leiden unter einem vollkommenen Realitätsverlust. Es gibt aber grosse Teile der Bevölkerung, die kriegsskeptisch ist. Es gibt bei jungen Menschen auch keine grosse Bereitschaft, sich für die Bundeswehr rekrutieren zu lassen und in einen endzeitlichen apokalyptischen Kampf mit den angeblichen Barbaren im Osten schicken zu lassen. Da gibt es also ein Potenzial.
In Deutschland ist es allerdings auch sehr schwierig, weil die Partei, die vor 50 Jahren aus der ökologischen Bewegung und der Friedensbewegung entstanden ist, die Grüne Partei, heute das Gegenteil vertritt. Aber ich denke, wenn wir eine Chance haben, dann muss sie aus der Bevölkerung kommen.
Hast du eigentlich Gegenwind bekommen, weil du in diese Reihe politischer Schauplätze auch den Krieg gegen Corona eingefügt hast?
Fabian Scheidler: Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass ich Ärger bekomme. Bisher ist es allerdings ausgeblieben, zu meiner eigenen Überraschung. Allerdings muss ich auch sagen, dass die großen deutschen Medien über mein Buch überhaupt nicht berichten. Sie haben tatsächlich über kein einziges meiner Bücher je berichtet, auch wenn ich davon sehr viele verkauft habe und es internationale Bestseller geworden sind, wie «Das Ende der Megamaschine», gab es nie auch nur eine einzige Rezension in der Süddeutschen Zeitung, in der Zeit, in der FAZ. Ich bin nicht so eitel, dass ich denke, jeder müsste mein Buch rezensieren, aber dass grundsätzlich nie irgendwas rezensiert wird, das finde ich schon etwas beschämend. Die wollen offenbar unter sich bleiben und nur Bücher, die ihrer Meinung sind, rezensieren.
Nächste Woche gibst du in Österreich in der GEA Akademie ein Seminar, worum geht es da?
Fabian Scheider: Ja, ich werde also im österreichischen Waldviertel ein dreitägiges Seminar, beginnend am 14. November geben, was sich um die Themen des Buches «Friedenstüchtig» dreht. Da gehen wir in die Tiefe zu diesen Konflikten, aber auch zu Lösungsmöglichkeiten. Es gibt auch einen gemeinsamen Waldspaziergang, damit wir in der Natur auch so etwas wie Frieden erfahren und nicht nur im Kopf bedenken. Also alle sind eingeladen, man kann sich dort noch anmelden.
Herzlichen Dank, ich wünsche dem Buch, dass es auf den Nachttischen einiger Politiker landet.
Fabian Scheidler: Das wäre schön.
Mehr zu Fabian Scheidler und seinem neuen Buch: https://fabian-scheidler.deRezension auf dem Zeitpunkt: https://www.zeitpunkt.ch/fabian-scheidler-friedenstuechtig
14. - 16. November: Seminar mit Fabian Scheidler im Waldviertel: https://gea-waldviertler.at/akademie/seminare/friedenstuechtig-621/