«Es geht hier nicht um Leben und Tod»

Ein Gespräch mit dem Philosophen Robert Pfaller über Corona-Moralismus und Stressverminderung als Luxus-Gut. Außerdem: Der Österreicher sieht die Selbstbestimmung erwachsener Menschen bedroht.

Sie hatten vor ein paar Jahren eine Art Verein gegründet, der hieß Adults for Adults. Es ging darum, die Erwachsenen gewissermaßen wieder in ihr Recht zu setzen gegenüber einer zunehmenden Infantilisierung der Gesellschaft. Gibt es diesen Verein noch?

Robert Pfaller: Ja, heute sind wir sozusagen ein loser privater Thinktank, der sich gelegentlich trifft, um aktuelle Fragen zu besprechen. Zu Corona-Zeiten können wir das leider nur elektronisch machen. Aber ich glaube, die Entwicklungen der letzten Zeit haben uns darin bestätigt, dass es notwendig ist, die Mündigkeit von Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern zu verteidigen. Weil es offenbar relativ starke Interessenslagen gibt, die diese Mündichkeit gefährden.

Sie haben das ja in Ihren Büchern beschrieben: unter anderem, dass die Menschen der Gegenwartsgesellschaft oft sehr bereitwillig ihre Freiheiten aufgeben zugunsten von tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Sicherheiten. Beobachten Sie das auch jetzt? Was sind die Erkenntnisse aus den Corona-Wochen?

Da muss man zunächst ein paar Dinge unterscheiden: Wir haben uns damals vor ungefähr zehn Jahren zusammengefunden, weil wir den Eindruck hatten, dass die Politik gegen die großen Bedrohungen, gegen welche die Menschen sich nicht mehr individuell wehren können, nichts unternimmt. Stattdessen wird das Schutzbedürfnis der Menschen missbraucht, um ihnen Vorschriften in Bereichen zu machen, in denen sie sehr wohl selbst entscheiden können.

Ich halte es zum Beispiel nicht für notwendig, dass man erwachsene Menschen auf den Verpackungen der Tabakwaren vor den Gefahren des Rauchens warnt. Es ist völlig in Ordnung, dass man Zigaretten nicht an Minderjährige verkauft. Aber erwachsene Menschen müssen nicht von anderen erwachsenen Menschen gewarnt werden, dass das Rauchen schädlich ist – das wissen wir, und so müssen wir uns das Nikotin nicht verderben.
 
Man könnte auch auf jede Treppe Bilder von Gestürzten mit schrecklichen offenen Brüchen hängen.
Denn in dem Stil könnte und müsste man sonst konsequenterweise unendlich weitermachen: Man könnte auf die Autos Warnschilder kleben mit Bildern von Verkehrstoten, und der Aufschrift, dass der Autoverkehr gefährlich ist und töten kann. Man könnte auch auf jede Treppe Bilder von Gestürzten mit schrecklichen offenen Brüchen hängen... und so weiter – das wäre ja völlig absurd! Und dies war das, was wir damals als "Pseudo-Politik" bezeichnet haben: Der Staat und die supranationalen Institutionen reagieren dort nicht, wo sie sehr wohl eine Pflicht zu handeln hätten. Stattdessen lenken sie ab, und fangen an, die Menschen in Bereichen zu schikanieren, in denen sie nicht verloren haben.

Die Probleme bei Corona sind andere, als jene die "Adults for Adults" bearbeitet. Es ist ein anderer Typ von Situation. Eine Situation, wo der Staat sehr wohl entscheiden muss, ob er handelt und wie. Das können die Bürger nicht alleine entscheiden. Niemand von uns oder nur die allerwenigsten haben genug Expertise, um jetzt zu wissen, wie sie sich verhalten sollen. Also: Zunächst ist es richtig, dass der Staat hier die Initiative ergreift.
 
Wie erfolgt die Auswahl der Experten?
Die Frage ist nur, von welchen Experten lässt sich die Regierung beraten? Wie unabhängig sind diese Experten beispielsweise von der Pharmaindustrie oder von den Regierungen selbst? Dies sind die ersten Schwachpunkte in dieser Kette. Und man hat andererseits, glaube ich zu wenig darauf geachtet, überhaupt regierungsunabhängige Stellen mit einzubeziehen, Institutionen, die nicht selber zu sehr vom Wohlwollen der Regierungen abhängig sind, um dann wie Echokammern genau das zu sagen, was die Regierungen von ihnen hören wollten.

In erster Linie erleben wir bei Corona also eine Krise der Unabhängigkeit von Expertise. Diese Unabhängigkeit ist durch die neoliberale Umgestaltung der Universitäten und Forschungsinstitute massiv ruiniert worden. In Österreich sind beispielsweise kaum mehr Wissenschaftler verbeamtet, und insofern dann auch unabhängig vom Wohlwollen der Regierungen. Das ist ein ernsthafter Fehler, den man rückgängig machen muss, und es ist eines der ersten Dinge die man im Zuge der Aufarbeitung dieser Krise bewältigen muss.

Zweiter Punkt: Corona ist ein Folgeschaden der Finanzkrise. In Italien gibt es nur ein Fünftel der Intensivbetten von Deutschland, bei ungefähr gleicher Bevölkerungszahl. Das ist die Folge eines direkten Eingriffs der Europäischen Zentralbank während der Finanzkrise, die die italienische Regierung ausdrücklich gezwungen hat, im Gesundheitssektor zu sparen.

Dies ist ein Beispiel dafür, dass von der Europäischen Union ein Verbrecher-Tribunal eingerichtet gehört, analog zum Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Hier haben Menschen andere Menschen konkret zu Tode gebracht durch erzwungene medizinische Unterversorgung. Da gehören wirklich die Verantwortlichen kriminalpolizeilich ermittelt und vor Gericht gestellt.

Also zusammengefasst: Bei Corona zeigen sich nicht in erster Linie medizinische Probleme, sondern eine ganze Reihe von politischen Verbindungsproblemen, die man bei der Aufarbeitung dieser Krise sehr genau sich wird ansehen müssen.


Sie haben eben am Beispiel des Rauchens von Selbstverantwortung gesprochen: Erwachsene Menschen wissen selber, dass das Rauchen gefährlich ist. Kann man dieses Beispiel nicht auch auf Corona übertragen?

Ich glaube, es sind hier zwei Sachen zu beachten: Erstens gibt es eine Reihe von Fällen, in denen es die Individuen tatsächlich nicht selber entscheiden können. Ich weiß zum Beispiel nicht, ob ich mich ein oder zwei Meter von einem Anderen entfernt halten muss. Das müssen mir Experten sagen. Die zweite Frage ist, ob diese Maßnahmen, die die Regierungen uns allen hier aufgezwungen haben, wirklich verhältnismäßig geblieben sind?

Das wird man glaube ich erst in einiger Zeit wirklich sachlich beurteilen können. Mir kommt es manchmal vor, dass die Maßnahmen vielleicht unverhältnismäßig waren. Dass man nicht genug abgewogen hat, dass zum Beispiel alte Menschen, wenn sie isoliert werden, auch aus Einsamkeit, Verzweiflung oder Depressionen sterben, nur weil man sie halt zu strikt vor Infektionen schützen wollte. Und manchmal wäre es ihnen dann vielleicht wirklich lieber, sie sehen ihre Verwandten noch, bevor sie sterben, anstatt zu sterben, ohne sie zu sehen.
 
Die Frage ist lediglich, sterben wir ein bisschen früher oder ein bisschen später?
Ich glaube grundsätzlich, dass man sich vor dem Anschein schützen muss, hier ginge es um Leben und Tod. Das ist, glaube ich immer eine falsche Perspektive. Menschen sterben sowieso. Die Frage ist lediglich, sterben wir ein bisschen früher oder ein bisschen später? Und wenn ja, woran sterben wir? Oder woran wollen wir eher sterben? Und bei diesen Antworten muss man den Menschen ein gewisses Mitspracherecht einräumen. Viele alte Menschen pfeifen drauf, ob sie jetzt ein paar Tage früher sterben oder später, aber richtigerweise insistieren Sie darauf, dass sie vorher wenigstens noch etwas vom Leben haben.
 

Wir hören jetzt gerade von den Politikern und auch von manchen Experten oft in sehr hohen Ton vorgetragen den Satz: "Jedes Leben zählt!"  Wenn man bespielsweis an den Tausenden von Flüchtlingen denkt, die jedes Jahr Mittelmeer ertrinken, scheint es doch so, dass der Spruch "Jedes Leben zählt" ein heuchlerischer ist, oder?

Ja, das glaube ich auch. Und zwar deswegen, weil der Spruch vorgaukelt, als ginge es um Leben und Tod. Und das stimmt ja nicht ganz. Es geht darum, eine Todesart gegen die andere einzutauschen, und darauf zu spekulieren, dass die eine Todesart angenehmer ist als die andere, oder dass sie später eintritt. Und das alles ist nicht ganz genau zu sagen.

Wir sehen ja auch, dass die radikalen Einschließungs-Maßnahmen extreme Nebenfolgen haben, die durchaus auch das Leben einzelner Menschen berühren. Medizinische Nebenwirkungen, Menschen fallen in Arbeitslosigkeit, und dadurch in Depression. Armut ist eine der heftigsten Krankheitsursachen, die wir kennen.
 

Wenn über Corona und die Folgen geredet wird, dann gibt es jetzt gerade im grünen und linksliberalen Milieu viele Menschen, die all dem etwas Gutes abgewinnen. Diese Leute sagen: Wir kommen ein bisschen runter von dem ganzen Stress. Wir lernen die Langsamkeit kennen. Und nicht wenige argumentieren, man sollte doch die Maßnahmen der Pandemie-Bekämpfung auf die Frage der Bekämpfung der Erderwärmung anwenden. Also ist eine Gefahr doch jetzt die, dass sogar im Namen einer grünen Option der Ausnahmezustand ins Endlose verlängert wird.

Das ist richtig. Es hat natürlich schon seit Längerem in der ganzen Ökologiebewegung und in dieser Debatte um Nachhaltigkeit die Diskussion über den möglichen Ökofaschismus gegeben. Und über die Fragen, ob man überhaupt eine Klimawende wird herbeiführen können, ohne diktatorische Maßnahmen zu ergreifen. Fred Luks, der das Zentrum für Nachhaltigkeit an der Wirtschaft-Universität Wien geleitet hat, schrieb mehrere Bücher über diese Fragen. Luks war da schon lange skeptisch und wachsam, weil er den Eindruck hatte, hier werden der Fragen des Klimawandels sämtliche anderen Prinzipien von liberaler Öffentlichkeit geopfert.
 
Leute, die in der Stadt in einer kleinen Wohnung sitzen, die kommen jetzt sicher nicht runter vom Stress.
Der andere Punkt, den Sie erwähnt haben, dass die Grünen und ihre Sympathisanten sich freuen, dass wir runterkommen vom Stress – an dem sieht man, dass die Grünen eine sehr privilegierte Klientel haben, die vielleicht auf dem Land oder in Gartenhäusern wohnen. Da ist es eigentlich ganz bequem in der Krise, und man hat das angenehme Gefühl, wenn ich auf dem Land bin, versäume ich auch nichts, denn in der Stadt ist sowieso nichts los. Aber die Leute, die in der Stadt in einer kleinen Wohnung sitzen, die kommen jetzt sicher nicht runter vom Stress. Sondern die haben zu Hause viel Stress und müssen versuchen, ihre Arbeit in einen virtuellen Raum zu verlagern und dabei trotzdem am Laufen zu halten.

Selbst Universitätsangestellte müssen ständig irgendwelche blöden Videokonferenzen abhalten und ihre Studenten mit irgendwelchen fernmündlichen Aufgaben drangsalieren. Also: Runter vom Stress kommen eigentlich nur wenige, und selbst die, die im Moment eine gewisse Entschleunigung als angenehm erleben, werden genau in dem Moment, in dem der Stress der Arbeit wieder einsetzt, auch wieder starken Erholungs-Stress haben. Die werden dann auch wieder Flugreisen brauchen, um sich von der Schufterei wieder gewaltig erholen zu können.