Kalkbreite – on the bright side of life?

Die autofreie Kalkbreite in Zürich gilt als Leuchtturm im sozialen und ökologischen Siedlungsbau. Was hat es damit auf sich? Ein Bewohner erzählt.

Die Sonnerie wirkt wie ein Magnet. Die zahlreichen Schaulustigen inspizieren sie meist als erstes, auch wenn sie niemanden in der Kalkbreite kennen: Die Klingelknöpfe sind auf einem  schematischen Plan angeordnet, der die sechs Treppenhäuser sowie die «rue intérieur» darstellt. Diese «Strasse» verbindet die Treppenhäuser horizontal; darauf kann man Runden durch den Blockrandbau drehen.
«Hoi, in welcher Wohnung wohnst du?» – mit solchen Fragen enttarnen wir Schaulustige in den Fluren und Treppenhäusern und können klarstellen, dass der Innenraum im Gegensatz zum Hof nicht öffentlich ist. Ein Dreister log «Wohnung 56». Enttarnt; wir haben mehr System: Meine Einraumwohnung ist mit K1.3.1 bezeichnet – Eingeweihten ist sofort klar, wo sie sich befinden. Und schon hat man einen Ansatzpunkt für Smalltalk – zum Kennenlernen.
Längst haben sich die zahlreichen Kinder in Cliquen formiert. Und ihre Eltern tauschen sich aus und übernehmen gegenseitig die Betreuung – sie erhalten so Zeit und schonen ihre Nerven. Nichterziehende wie ich wurden ermuntert, bei Bedarf Schranken zu weisen, falls es die Cliquen zu bunt treiben.

Nicht nur die Kinder geniessen den gemeinschaftlichen Raum – in konventionellen Wohnhäusern werden lediglich die Konfliktzonen Treppenhaus und allenfalls Waschküche gemeinsam genutzt. Hier dagegen stehen den 256 Bewohnerinnen und Bewohnern zusätzlich zur Erschliessung 800m2 Innenraum zur Verfügung. Wäre diese Fläche privatisiert, hätte jeder gut 3m2 zusätzlichen Wohnraum. Doch niemals mit dem immensen Nutzen: Lounge und Tausch-Bibliothek findet sich in der Eingangshalle; dieser zentrale Ort ist belebt, dort sind alle unsere Briefkästen – aus Holz! – zu finden. Von da gelangt man in die selbstverwaltete Cafeteria, zum «Waschsalon» – die schönste Waschküche Zürichs. Durch die Halle führt die rue intérieur, auf ihr gelangt man zu Näh- und Bügelzimmer, Malatelier, den Trainingsgeräten, zur Sauna, zum Meditationsraum und auf die Terrassen.
Neben den Terrassen umfasst der Aussenraum Wäschehänge, Hochbeetgarten, vier Schuppen für unterschiedliche Nutzungen sowie den Innenhof, der Park und Spielplatz zugleich ist.
Zu günstigen Konditionen können wir kurzzeitig Gästezimmer der Pension und «Flexräume» etwa für Sitzungen – und längerfristig einen Büroplatz oder einen «Wohnjoker» dazu mieten; es gibt zwei Gemeinschaftsbüros sowie neun Zimmer mit Bad, mit denen man bei Bedarf den Wohnraum erweitern kann.

Aussergewöhnlich für einen Genossenschaftsbau ist der hohe Gewerbeanteil unterhalb des Innenhofes; die Kalkbreite ist ja eigentlich die Mantelnutzung eines Tramdepots, auf dessen Dach sich der Innenhof befindet. Auf Strassenniveau hat sich ein grosser Tante-Emma-Laden mit viel Offenverkauf und hochstehenden Produkten aus möglichst regionaler Produktion einquartiert. Dazu kommen vier unterschiedliche Gastrobetriebe und ein Kino mit fünf Sälen. In den Zwischengeschossen nisteten sich eine Hausarztpraxis, ein saisonaler Blumenladen, eine professionelle Kita, viele Ateliers, Greenpeace Schweiz und einiges mehr ein – uns liegt alles in Pantoffeldistanz zu Füssen. Wer hier wohnt und arbeitet, benötigt für den Alltag kaum mehr Mobilität.

Für mich ist die begehrte Kalkbreite Beweis, dass das weitergehende Nachbarschaftsmodell von Neustart Schweiz auch funktionieren wird: Damit lässt sich Ressourcenverbrauch und Mobilität auf ein für den Planeten erträgliches Mass reduzieren. Und dies ohne das Gefühl von Verzicht – sondern mit Gewinn an sozialem Kapital. In der Kalkbreite funktioniert die Nahversorgung auf rein kommerzieller Basis, die umfassendere Versorgung im Nachbarschaftsmodell wäre dagegen von Marktzwängen befreit, da Commons-basiert.
Sowohl die Kalkbreite als auch Neustart Schweiz entstammen den Ideen von bolo'bolo, einem wichtigen Buch der Hausbesetzerszene der 80er-Jahre; die Kalkbreite vorangetrieben haben tatsächlich ehemalige Hausbesetzer.
Doch an die Hausbesetzerszene erinnert einzig die Sonnerie: Sie wirkt etwas chaotisch. Denn wir durften die Schildchen selber gestalten. Und es ist nicht immer klar, wer überhaupt hier wohnt; im Murmelibau, in der Grossfamilie oder in der True Love-WG…

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Fred Frohofer engagiert sich unter anderem im Vorstand von Neustart Schweiz, der 150 Mitgliedern umfassenden, noch virtuellen Bau- und Wohngenossenschaft NeNa1 sowie bei DANACH.jetzt. Sein Lebensunterhalt bestreitet er mit einem Teilzeitpensum im Medienbereich. In der Kalkbreite ist er im Vorstand des Grosshaushalts aktiv (nicht zu verwechseln mit der Grossfamilie): Etwa 70 Menschen in unterschiedlichen Wohnsituationen leisten sich zusammen eine gastrotaugliche Küche und einen Essraum, beschäftigen Köchinnen, um sich werktags bekochen zu lassen. Die Mitglieder erledigen im Turnus etwa den Abwasch, arbeiten im angeschlossenen biodynamischen Gemüsebaubetrieb mit und können Küche und Essraum an Wochenenden für Feste benutzten.

Frohofer lebt in einer Einraum-Wohnung von 38 Quadratmetern (3 Quadratmeter über dem Kalkbreite-Durchschnitt), die mit acht weiteren Wohnungen zu einem Cluster gehört. Dieser Cluster teilt sich einen 24 Quadratmeter grossen Gemeinschaftsraum sowie Dinge wie Staubsauger, Blumenvasen, Internet und Stromrechnung.

Weitere Infos:
http://anleitung.kalkbreite.net     
http://neustartschweiz.ch     
www.nena1.ch
http://Danach.jetzt
27. Oktober 2014
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