Rebellischer Purismus: Die Lust am Verzicht

«Genuss pur», «Ferien pur», «Spass pur». «Pur» dient dann als Beschreibung, wenn es sich um einen Mix von Dingen handelt, die allein für sich eher ungeniessbar wären. Wenig ist tatsächlich pur zu konsumieren; alles will mehr sein, als es ist, hat Extras, Supplements und Zusätze: Kaufe zwei und erhalte das Dritte gratis!

Menschen, die dem wirklich Puren und Reinen frönen, sind rar, obschon der Trend zum Purismus Mode geworden ist. In vielen Jugend- und Musikszenen wird wieder freiwillig der pausenlosen Lustbefriedigung entsagt: Am Anfang war der Punk. Daraus entwickelten sich die Hardcore- und ‹Straight-Edge›-Szene, deren dicke, schwarze Kreuze auf dem Handrücken die Enthaltsamkeit von Alkohol und Drogen symbolisieren. Auch Promiskuität und Fleischkonsum lehnen die meisten von ihnen ab. Selbst die auf Punk gestylten Frontmänner der erfolgreichsten deutschen Emo-Band ‹Tokio Hotel› sind bekennende Vegetarier und Tausende ihrer Fans dürften ihnen folgen. Mittlerweile ist die Idee des freiwilligen Verzichtes über Hardcore (HC) und Krishna-Core bis zur Hip-Hop-Szene vorgedrungen. So finden sich selbst unter Rappern und Sprayern Enthaltsame, die der dumpfen Sinnesbefriedigung überdrüssig sind und sich aus politischer Haltung oder als Zeichen des Protests davon abwenden.


Purismus ist kein scharfer Begriff, sondern eine Haltung und Ausrichtung hin zu Reinheit und Askese. Ob demnach jemand ein Purist ist oder nicht, kommt auf den Kontext und die Perspektive des Betrachters an. Niemand wird als Purist geboren. Diese Lebensweise, die für viele als ‹extrem› gilt, sich jedoch einer grossen Anhängerschaft erfreut, beginnt in den meisten Fällen bei der Purifikation des Essens.
Abgesehen von denen, die wegen Krankheit (Magen-Darm-Problemen) damit beginnen, auf reinere, vegetarische oder unbehandelte Lebensmittel umzusteigen, ist diese Abkehr vom ‹normalen› Essen ein Auflehnen gegen überbordende Gesellschaftsnormen.
Wie Hans-Jürgen Wirth bereits 1984 in seinem Buch ‹Die Schärfung der Sinne. Jugendprotest als persönliche und kulturelle Chance› feststellte, schafft es die rebellierende Jugend immer wieder, den Finger auf die wunden Punkte einer Gesellschaft zu legen und durch Zelebrieren des Gegenteils einen Ausgleich zur Prüderie, Übersexualisierung oder zum überbordenden Fleischkonsum zu schaffen. Wenn also immer mehr Anhänger von Jugendszenen rebellieren, indem sie verzichten, dann können eindeutige Rückschlüsse auf die Kultur der Gesellschaft und das Establishment gezogen werden. Die vorherrschenden Normen werden konfrontiert mit ihrem Gegenteil, das die unterdrückten Sehnsüchte und Ideale der Vorgeneration, die im Laufe der Zeit vergessen wurden, beinhaltet.
Verglichen mit dem Massenkonsument geht der Purist einen beschwerlichen Weg und muss Umwege und Diskussionen in Kauf nehmen. Wer so gegen den Strom schwimmt, ist dank der ständigen Konfrontation wacher, und jeder Konsum wird bewusster und mit geschärften Sinnen wahrgenommen. Schliesslich geht es bei der puristischen Haltung erstmal um eine Reinigung, später Reinhaltung von Körper (Essen), Geist (Drogen) und Seele (Anhaftung). Es ist ein Streben zu mehr Reinheit und Authentizität oder gar Wahrheit. Egal, aus welchen Gründen jemand mit der Purifikation seines Lebens beginnt, sie führt zwangsläufig zu einer Veränderung des Bewusstseins und der Wahrnehmung der Welt.

Mehr zum Thema «Wachstumsfalle» im neuen Zeitpunkt 112 «Downsizing»:
http://www.zeitpunkt.ch/archiv/2011/112-downsizing-wege-aus-der-wachstumsfalle.html
12. März 2011
von: