Verhängnisvolle Liebe zum Süssen

Zucker – im Übermass – macht krank. Die Schweizer konsumieren zu viel davon, sagt der Gesundheitsminister. Doch zugleich unterstützt der Staat das süsse Gift, ganz offiziell, zusammen mit vielen anderen Nationen. Das macht den Kampf gegen die «Volksdroge Zucker» natürlich nicht leichter.

Natürlich liebt auch er Süsses. Alle lieben Süsses, Schokolade, Limo, Gummibärchen. Zucker versüsst den Alltag. Doch er ist damit vorsichtig. Er sagt: Zucker ist Gift. «Ein wenig ist kein Problem. Aber viel davon tötet – langsam.»
Robert Lustig ist Professor für Kinderheilkunde an der Universität von Kalifornien in San Francisco – und der weltweit wichtigste Kritiker des Zuckers. Durch seine Erfahrungen mit Kindern mit Gewichtsproblemen stiess er auf das süsse Pulver und seine weitreichenden Folgen bei vielen der sogenannten Zivilisationskrankheiten. Dabei braucht der Körper Zucker. Er ist seine wichtigste Energiequelle. Für die Muskeln, die Organe, das Gehirn. Weil der Zucker so wichtig ist, kann der Körper ihn aus fast jeder Nahrungsquelle gewinnen, die die Natur ihm bietet. Aus Erdbeeren, Kirschen, Kartoffeln und Reis. Sogar, indirekt, aus Schweinespeck und Walfischöl. Er kann Fett in Zucker verwandeln, und Zucker in Fett.

Diese Fähigkeit des Körpers, eigentlich eine Überlebensstrategie, wird ihm nun zur lebensgefährlichen Falle. Denn heute gibt es Zucker im Überfluss. Dabei kommt das weisse, süsse Pulver in der Natur nirgends vor. In der Bibel gibt es keinen Zucker, im Koran auch nicht. Kaum zu glauben, dass früher die Leute ganz ohne ihn ausgekommen sind. Für den menschlichen Körper allerdings war das über Jahrtausende der Normalzustand, dafür ist er ausgelegt. Professor Lustig sagt: «Die Natur hat es schwergemacht, Zucker zu bekommen. Der Mensch machte es einfach.» Zucker ist ein Produkt der Industrie. Erst als weisses Pulver, in Fabriken isoliert aus Zuckerrübe und Zuckerrohr, konnte er die Welt erobern – und schädigen.

Die Deutschen essen 36 Kilo Zucker im Jahr. Die Schweizer über 40 Kilo. Oft sogar, ohne es zu wissen. Nur knapp 17 Prozent des Zuckers, den die Deutschen verspeisen, kaufen sie selbst im Laden. 83,1 Prozent verzehren sie als zugesetzten, häufig auch «versteckten Zucker».  In den Corn Flakes zum Frühstück. In den Gewürzgurken. Sogar die ganz normalen Sachen enthalten plötzlich Zucker, die Dose mit Maggi Ravioli, die Pfanni Semmelknödel, die Hühnersuppe von Knorr.

Das Gehirn reagiert auf den süssen Geschmack besonders sensibel, damit der Mensch schnell zugreift. Die süssen Früchte gab es auf dieser Welt ja ganz selten, früher. Heute aber wird das Angebot immer zuckerreicher – und bietet immer weniger Alternativen, weltweit. Selbst in der Südsee ist es heute einfacher, eine Cola zu bekommen als eine Kokosnuss. In der Tankstelle an der Kasse liegen die Süssigkeiten gleich neben dem Jägermeister. Im Flughafen stehen die Cola-Automaten noch direkt am Gate. Coca-Cola ist der weltweit grösste Einzel-Emittent für Zucker, nach Branchenschätzungen für zehn Prozent des gesamten Zuckerausstosses verantwortlich – stolze 16,5 Millionen Tonnen. Coca-Cola gibt es in mehr Ländern, als die UNO Mitglieder hat.

Auch die Staaten dieser Welt fördern den Zucker schon seit Jahrhunderten. Überall auf der Welt ist die Zuckerbranche verwöhnt worden mit günstigen Gesetzen, Garantiepreisen, und Exportsubventionen. Europas Zuckerindustrie macht Milliardenumsätze und profitiert jetzt, in Zeiten liberalisierter Agrarmärkte, von preisgünstigen Produktionsbedingungen etwa auf den Zuckerrohrfeldern Südamerikas.
Die zuckerproduzierenden Staaten unterhalten sogar eine eigene internationale Einrichtung zur Zuckerförderung, die Internationale Zuckerorganisation (ISO) mit Sitz in London, mit 86 Mitgliedsstaaten, darunter alle 27 EU-Länder und auch die Schweiz. «Executive Director» ist Peter Baron, ein wohlbeleibter Deutscher. Dass Zucker krank macht, sei «Nonsens», sagt Baron: Er glaubt, dass Zucker «nichts von diesen Dingen verursacht» – wenn die Ernährung «einigermassen ausgewogen ist.»
Er mobilisiert die Zuckernationen, um Massnahmen und Empfehlungen  zu verhindern, die der Zuckerwirtschaft schaden könnten, wenn etwa die Weltgesundheitsorganisation sich aufmacht, die neuen Menschheitsgeis-seln zu bekämpfen, die in der internationalen Sprache der Experten als «nicht übertragbare Krankheiten» bezeichnet werden («Non Communicable Diseases», kurz NCD), und die schon mehr Todesopfer fordern sollen als alle bisherigen Katastrophen, Seuchen, ja sogar Kriege: 35 Millionen Menschen jedes Jahr.

Dabei wird immer deutlicher, dass meist der Zucker im Spiel ist. Dass er dick macht, zeigte erst Anfang des Jahres wieder eine Studie im Fachblatt British Medical Journal. Er kann auch das Risiko für Herzkrankheiten erhöhen: Je mehr Zucker verzehrt wird, desto schlechter sind die Cholesterinwerte, so eine amerikanische Regierungsstudie (die «National Health and Nutrition Survey»). Bei Diabetes, der Zuckerkrankheit, ist es der Zucker im Blut, der verantwortlich ist, auch für die vielen Folgekrankheiten, die damit einhergehen.
Bei der Alzheimerkrankheit sprechen Forscher schon von der «Zuckerkrankheit des Gehirns». Und bei Krebszellen haben Wissenschaftler der Universität von Kalifornien in Los Angeles sogar eine eigene Schnittstelle für raffinierten Zucker gefunden.
So wird die Suche nach Alternativen immer drängender – doch auch die Zucker-Ersatzstoffe geraten zunehmend in Verruf.  Fruktose beispielsweise, der Fruchtzucker, war bislang der Hoffnungsträger, etwa für Diabetiker – und wurde jetzt als potenter Schadstoff enttarnt. Fruktose kann zu Nierenkrankheiten führen und sogar zu Fettleber – genau wie Alkohol. Robert Lustig und andere Wissenschaftler fordern schon, Fruktose von Gesetzes wegen auf eine Stufe zu stellen mit Tabak und Alkohol.
Den Apfel will natürlich auch er nicht von der Liste sicherer Lebensmittel streichen: Obst wirke dank seiner pflanzlichen Fasern wie ein «Gegengift» und verhindere die «Überdosierung von Fruktose im Körper.»

Auch die künstlichen Zucker-Ersatzstoffe geraten zunehmend in Verruf. Als heimliche Dickmacher, und wegen Krebsverdachts, wie der Cola-Light-Süssstoff Aspartam – auch wenn Hersteller und Behörden immer wieder die Harmlosigkeit beteuern.
Stevia rebaudiana Bertoni, entdeckt vor über 100 Jahren im Urwald von Paraguay von dem Schweizer Naturwissenschaftler, Abenteurer und Anarchisten Moisés Bertoni. Die Pflanze mit den süssen Blättern stieg zum Hoffnungsträger auf. Zunächst im Reformhausmilieu, mittlerweile bei den grossen Konzernen, allen voran Coca-Cola.
Jetzt ist Stevia auch nicht mehr das, was es einmal war. Die neue Süsse wird aufwendig hergestellt, in einem komplexen chemischen Verfahren, bei dem ein weisses Pulver entsteht, ein ganz normaler Süssstoff mit der E-Nummer 960.
Ganz unbedenklich ist das nicht. Das Schweizer Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat schon verfügt, dass Begriffe wie «mit natürlicher Süsse» oder «mit natürlichen Zutaten gesüsst» in Verbindung mit dem Süssstoff E960 als «täuschend anzusehen» seien.

Wenn der Zucker wegbleibt, schwindet auch der Speck in der Körpermitte, sagt Professor Robert Lustig: «Wir wollen beweisen: Wenn man den Zucker aus der Nahrungskette nimmt, beseitigt man das Übergewicht.»
Er selbst hat seine Konsequenzen schon gezogen. Eis jedenfalls isst er nie. Coca-Cola? «Niemals.» Schokolade? «Sehr selten.» Ein bisschen süss darf schon sein, sogar bei Professor Lustig: «Ein Dessert nach dem Essen, vielleicht zweimal im Jahr.»

Hans-Ulrich Grimm ist Nahrungskritiker und Autor vieler Bestseller («Die Suppe lügt».«Vom Verzehr wird abgeraten»). Dieser Tage erscheint im Droemer-Verlag sein neustens Buch «Garantiert gesundheitsgefährdend. Wie uns die Zuckermafia krank macht.» Den vorliegenden Text hat Grimm exklusiv für den Zeitpunkt geschrieben.