Innere und äussere Armut

Die Armut ist ein Spiegelbild des Menschen in einer rein materialistisch orientierten Welt. In diesem Artikel möchte ich die Armut aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachten: erstens aus ihrer Unvermeidbarkeit im Kontext des menschlichen Bewusstseins und zweitens als Chance für Veränderungen.

Bild: Mathieu Stern
«So absurd es auch ist: Wir verehren die Reichen und Mächtigen, sie sind unsere Vorbilder.» Bild: Mathieu Stern

Es geht mir nicht darum, unser kollektives Bewusstsein als falsch oder pathologisch darzustellen oder gar Schuldige zu benennen, sondern ich möchte eine nüchterne Analyse erstellen, warum Armut ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft war und ist. Diese Analyse geht von der Annahme aus, dass die Gesellschaft die Menschen widerspiegelt, die in ihr leben.

Die Erkenntnis, dass Armut unserem kollektiven Bewusstsein entspricht, eröffnet Möglichkeiten, sie zu lindern oder sogar ganz zu beseitigen.

Die Auffassung, dass allein die Eliten an der Armut schuld sind, ist meiner Meinung nach historisch unhaltbar und degradiert uns zu machtlosen Opfern, was auch nicht zur Beseitigung von Armut beitragen würde. Natürlich haben die Mächtigen ihren Anteil daran, aber wenn wir, das Volk, ein wenig reifer wären, würden wir nicht auf die kindischen Manipulationen der Eliten hereinfallen und die Verantwortung für den Status quo übernehmen. Das wiederum würde eine Machtverschiebung bedeuten, diesmal von oben nach unten.

Meine These ist, dass unser kollektives Bewusstsein so strukturiert ist, dass es unweigerlich zu Armut führen muss. Es ist eigentlich ganz einfach: Wir denken in erster Linie an uns selbst, unsere Familie, unseren Stamm oder unsere Nation. Alles darüber hinaus wird auf der Skala der Wichtigkeit als zweitrangig eingestuft. Ich spreche natürlich von den Grundzügen des kollektiven Bewusstseins, und ich bin mir bewusst, dass Armut ein sehr vielschichtiges und komplexes Thema darstellt, welches umfassend zu erörtern selbstverständlich den Rahmen eines Artikels sprengen würde. Was es zu erkennen gilt, ist das innere Wesen der Armut, und diesem auf den Grund zu gehen.

Es gibt kein wirklich ganzheitliches Bewusstsein, das die Armut beseitigen könnte.

Wenn es ans «Eingemachte» geht, sind wir nur an unserer eigenen Armut interessiert. Die Armut der anderen muss hintanstehen. Das sind harte Worte, und sie widersprechen unserer humanistischen Einstellung. Aber es klafft eine Lücke zwischen dem, was wir uns wünschen, und der Realität. Anspruch und Wirklichkeit. An dieser Stelle möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass es nicht darum geht, unser kollektives Bewusstsein als falsch oder pathologisch darzustellen. Es ist absolut folgerichtig, dass wir zuerst an uns selbst und unsere unmittelbare Gemeinschaft denken, wenn wir auf den ersten beiden Bewusstseinsebenen leben. Diese sind präpersonal und personal.

Ich werde meine These mit einigen Beispielfragen und -anregungen unterfüttern, welche symbolisieren, dass wir eine selektive und begrenzte Perspektive haben, wenn es um Armut geht:

  • Warum ist die wachsende Armut in Deutschland heute ein Topthema und die Tatsache, dass täglich 25.000 Menschen verhungern, nicht?
  • Warum geben wir nicht 10 Prozent unseres Einkommens an die Bedürftigen?
  • Anstatt alle vier Jahre ein neues Auto zu kaufen oder ständig neue Dinge zu «brauchen», könnten wir dieses Geld auch an die geben, die es nötig haben.
  • Anstatt in den Urlaub zu fahren oder zu fliegen, könnten wir zu Hause bleiben und das Geld spenden.

Natürlich werden wir jetzt alle möglichen Gründe finden, warum wir das eben nicht tun können, und sie werden uns völlig logisch erscheinen. Und aus der Perspektive des präpersonalen und personalen Bewusstseins macht es auch Sinn. Dieses Bewusstsein ist lokal und nicht ganzheitlich.

Es ist völlig sinnlos, darüber zu diskutieren. Das ist so, als würde man versuchen, einem Kind zu erklären, was es bedeutet, im Berufsleben zu stehen. Auf den ersten beiden Bewusstseinsebenen können wir uns keine Realität vorstellen, die darüber hinausgeht. Auf der transpersonalen Bewusstseinsebene wiederum verstehen wir sehr wohl, dass Armut ein Ausdruck von Bewusstsein ist.

Es geht nicht um Grundsicherung, sondern darum, einfach weniger oder besser nur das absolut Notwendige zu konsumieren und alles darüber hinaus zu teilen, zu verschenken oder zu spenden. Das ist es, was wir tun, wenn wir die höhere Ebene verwirklichen.

 

Reichtum basiert auf Armut

Die Unvermeidlichkeit von Armut besteht darin, dass es persönlichen Reichtum gibt. Das eine ist ohne das andere nicht möglich. Unser Wohlstand basiert auf der unvorstellbaren Armut, die wir in anderen Ländern geschaffen haben und weiterhin schaffen. Und es ist nur folgerichtig, dass sie nun auch uns erreicht hat. Honoré de Balzac hat es auf den Punkt gebracht: Hinter jedem Reichtum steht ein Verbrechen.

Es ist viel einfacher, den Eliten die Schuld zu geben – und sie sind auch schuld, aber sie können ihre Macht nur ausüben, weil wir sie lassen. Hinzu kommt das kapitalistische System, das darauf beruht, dass wenige viel und viele wenig haben.

So absurd es auch ist: Wir verehren die Reichen und Mächtigen, sie sind unsere Vorbilder, wir glauben fest an das Anführerprinzip. Und wenn wir die Möglichkeit haben, selbst materiell reich zu werden, also deutlich mehr zu haben, als wir brauchen, ergreift fast jeder die Chance.

Wir haben eine Gesellschaft geschaffen, welche den Gewinner verehrt. «The winner takes it all.» Wir bewundern Menschen, die auf unsere Kosten Reichtum anhäufen, was in einem System, in dem Geld Gott ist, nicht verwunderlich ist. Wir nennen das individuelle Freiheit. Jeder kann reich werden, aber das ist nur die Freiheit der Starken gegenüber den Schwachen.

 

Zuerst dein Glück und dann meins

Dies ist eine alte buddhistische Weisheit, und wenn wir sie in die Praxis umsetzen würden, wäre Armut unmöglich.

Um die Armut zu beseitigen oder zumindest deutlich zu verringern, ist es notwendig, transpersonal zu werden. Meiner Meinung nach gibt es keinen anderen Weg, und leider gibt mir die Geschichte recht.

Was bedeutet das? Wie kann das erreicht werden? Ist das nicht eine Utopie und unrealistisch?

 

Eine Utopie?

Utopien sind immer unrealistisch, bis wir sie verwirklichen. Derzeit ist es definitiv eine Utopie. Aber es war auch eine Utopie, dass Frauen wählen dürfen, dass die Sklaverei abgeschafft wurde, dass es gleichgeschlechtliche Ehen gibt oder dass wir eine Demokratie haben – auch wenn ich mir beim letzten Punkt nicht sicher bin. Aber das ist ein anderes Thema für einen anderen Artikel.

Was uns zu Menschen macht, ist unsere Fähigkeit, das Unmögliche möglich zu machen. Wir sind heute in der Lage, Dinge zu tun, die noch vor Kurzem als Wunder galten. Dagegen stehen der Neonihilismus und das Engineering of Sense. Sie sagen uns, dass wir machtlos sind, und viele von uns glauben an dieses Märchen. Aber um es mit den Worten von Bob Marley zu sagen: «You can fool some people some time, but you can't fool all the people all the time» (Man kann einige Leute manchmal täuschen, aber man kann nicht alle Leute immer täuschen).

 

Was bedeutet «transpersonal» im Zusammenhang mit Armut?

Was ich mit «transpersonal» meine, kann sich durchaus von anderen Ansichten unterscheiden, aber wir alle teilen die grundlegende Idee, über das Persönliche hinauszugehen. Im transpersonalen Bewusstsein kultivieren wir eine viel umfassendere Vision des Lebens. Diese Sichtweise stellt nicht den Menschen in den Mittelpunkt der Existenz, sondern das Leben selbst. Hier ist das Leben ein Netz aus unzähligen Verbindungen. Es gibt keine klare Trennung zwischen Ursache und Wirkung, es ist vielmehr ein ständiger Fluss.

Transpersonale Menschen sind mitfühlend, dialogbereit, nicht dogmatisch, extrem schwer manipulierbar, stark, fähig zur Analyse auf der Basis von Daten und nicht von Meinungen. Sie haben verinnerlicht, dass die wirklich wichtigen Dinge nur in uns selbst zu finden sind und nicht in materiellen Gütern. Sie können nicht korrumpiert werden, da sie angstfrei sind. Dies sind nur einige Highlights, was es bedeutet, transpersonal zu sein.

Es sollte jedoch klar sein, dass diese Qualitäten äusserst nützlich sind, wenn es um die Lösung von Problemen geht. Natürlich haben sie auch ihre Schattenseiten, aber das sind keine Probleme mehr und schon gar kein Drama. Negativität ist Teil der Natur, aber im transpersonalen Bewusstsein ist sie auf das natürliche Mass reduziert. Im Zusammenhang mit der Armut sehen wir sie als eine Konsequenz unseres kollektiven Bewusstseins und nicht als ein Übel, nicht als eine von den Mächtigen verursachte Ungerechtigkeit und schon gar nicht als die kindische Vorstellung vom «bösen Mann» .

Armut ist natürlich eine tragische Situation, die einer Lösung bedarf. Aber anders als das weniger entwickelte Bewusstsein fügen wir hier nicht noch mehr Negativität hinzu, indem wir ein Drama daraus machen. Das transpersonale Bewusstsein nimmt die negativen Emotionen aus der Gleichung heraus, denn sie machen eine Lösung unmöglich.

Wie das in der Praxis funktioniert, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Aber es sollte verständlich sein, dass Armut eine ganz andere Dimension bekommt, wenn wir uns nicht mehr auf unsere eigenen individuellen Interessen konzentrieren, sondern auf das Gemeinwohl.

Wenn uns das Wohlergehen unserer Brüder und Schwestern tief im Herzen berührt und wir dann entsprechend handeln, dann ist das ein «Gamechanger» , also etwas, das bisher geltende Regeln und Mechanismen grundlegend verändert.

Wie und wann sich die Gesellschaft, das kollektive Bewusstsein, darauf einstellen wird, bleibt abzuwarten. Was aber zählt, ist, dass jeder das transpersonale Bewusstsein für sich selbst verinnerlicht und umsetzt.

 

Umsetzung

Es gibt natürlich keine allgemeingültigen Rezepte, wie man das transpersonales Bewusstsein im Kontext von Armut umsetzen kann. Deshalb möchte ich einfach meine eigene Art, mit Armut umzugehen, mit Ihnen teilen.

Es ist tatsächlich für unsere Gesellschaft so, dass wir bei Armut und Reichtum automatisch an Geld denken. Für mich ist Armut jedoch vor allem eine Sache des Herzens und des Geistes, dort wohnen Frieden und Glück und nicht in der Aussenwelt.

Materielle Güter machen uns nicht glücklich. Sie bereiten uns eine kurze Freude, aber diese hält nicht lange an.

Um das klarzustellen: Ich bin kein Asket, der in der Höhle lebt und Körner isst. Ich führe ein normales Leben, gehe meiner Arbeit nach, lebe in einer festen Beziehung, habe Freunde, Fehler, Schwächen und tragische wie glückliche Momente.

Laut Statistik bin ich arm, und doch bin ich ein reicher Mann. Das ist meine Realität. Es würde mich nicht viel Mühe kosten, materiell reich zu werden, aber ich habe mich bewusst dagegen entschieden. Ich lebe mit dem Minimum und brauche nicht mehr.

Reich zu sein bedeutet, Dinge zu besitzen, was wiederum Aufmerksamkeit und Zeit verbraucht. Und da mein Ziel nicht materieller Reichtum, sondern geistige Reife ist, passt es sehr gut, wenig zu haben.

Streng genommen habe ich nur das, was ich wirklich brauche: Unterkunft, Essen, Internetanschluss – und der einzige Luxus, den ich mir gönne, sind meine beiden Apple-Computer, beide ältere Modelle und gebraucht gekauft, und ein zwanzig Jahre alter Citroën, weil ich in Spanien auf dem Land lebe, und ohne Auto geht da nichts.

Ich verbringe meine Zeit damit, zu schreiben, Kunst zu machen und andere bei ihrer Bewusstseinsentwicklung zu unterstützen. Wenig zu haben und wenig zu konsumieren, das heisst, arm zu sein, reduziert meinen ökologischen Fussabdruck auf ein Minimum.

Mein Bewusstsein ist darauf ausgerichtet, keinen Schaden und kein Leid zu verursachen. Das gilt für alle Lebewesen und für alles Lebendige. Ich esse kein Fleisch, nicht weil ich gegen das Töten bin, sondern weil die armen Tiere unendlich leiden. Sie leben in echter Armut. Ich fahre auch nicht mehr in den Urlaub. Ich benutze keine Flugzeuge – ausser in Notfällen –, aber nicht für persönliche Zwecke.

Ich bin der festen Überzeugung, dass die wirklich wichtigen Dinge nicht materieller Natur sind, was nicht bedeutet, dass ich das Materielle vernachlässige, sondern dass ein dickes Bankkonto nicht glücklich macht – wohl aber Kontemplation. Wenn ich mehr habe als ich brauche, dann gebe ich es jemandem, der es braucht. Einfach aus dem Grund, dass wir alle eine grosse globale Familie sind und Brüder sowie Schwestern sich gegenseitig helfen.

Was mich inspiriert hat, sind die Weisen dieser Welt. Sie brauchen keinen materiellen Reichtum; ich habe mich an ihnen orientiert. Und sie lassen keinen Zweifel daran, was wirklicher Reichtum ist.

Nun kann man argumentieren, dass es die Welt nicht verändert, und das ist wohl wahr, aber es ist ein weiterer Tropfen im Ozean des Bewusstseins. Und der Ozean besteht aus Tropfen, und irgendwann gibt es vielleicht so viele Tropfen, dass Armut einfach nicht mehr möglich ist. Daran glaube ich, und wenn ich auch nur einen einzigen Menschen mit meinem Beispiel inspiriere, ist die Veränderung unaufhaltsam.

Über

Karsten Ramser

Submitted by cld on Mo, 05/13/2024 - 22:06

Karsten Ramser, Jahrgang 1963, lebt in Hamburg. Er war bis 1987 als freischaffender Künstler in West-Berlin tätig. Von 1987 bis 1995 hielt et sich auf den Kanarischen Inseln auf und war als Töpfer der alten Gaunchen-Tradition tätig. Von 1995 bis 2001 reiste er nach Indien, Afrika und Amerika. Von 2001 bis 2007 arbeitete er als Grip in der Filmindustrie in Spanien. Seit 2007 ist er wieder als freischaffender Künstler, sowie als Coach, Therapeut und Autor tätig. Er veröffentlichte die Bücher „The Tao of the 21st Century“ und „El Camino Sabio“.

Kommentare

Armut ist ein Geisteszustand und hat nichts mit Arm zu tun

von juerg.wyss
Ihre Thesen sind absolut verkehrt und basieren nicht auf Tatsachen. Sorry für die harten Worte aber es ist von Nöten, dass ich sie darauf hinweise.  Arm heisst nicht, dass ich nichts zu essen habe, arm heisst, dass ich nicht essen kann was ich will.  Ein Reicher ist arm an Mitgefühl, er ist genauso arm wie der der nicht aussuchen kann, was er essen will. Er ist arm an Freunden. Wenn wir kollektiv arm sind dann profitiert nur der Reiche an unserer Armut und wir fühlen uns nicht arm.  Warum ich dieses schreibe ist der letzte Satz im Untertitel, die Gesellschaft spiegelt nicht wider, wie wir uns fühlen sie spiegelt wieder. wider ist das Gegenteil, wieder ist das Gleiche aus anderer Sicht!