Heute ist Martinstag, ein ganz wichtiger Tag im Jahreslauf. An diesem Tag mussten die Bauern ihre Zehnten abliefern und die Pächter ihre Zinsen zahlen. Und weil damit alle Schulden bezahlt waren, wurde am Abend gefeiert und die sog. Martinsgans aufgetischt.
Der heilige Martin war ein Offizier, der der Legende nach in einer kalten Winternacht seinen Mantel mit einem Bettler geteilt hat, der sonst wohl erfroren wäre. Der heilige Martin ist damit eine wunderbare Symbolfigur dafür, wie die ungeschriebene Gerechtigkeit zwischen den Menschen funktioniert. Ich halte die Hunderternote aus den 1950er Jahren immer noch für die allerschönste Banknote, die jemals auf der Welt in Zirkulation war.
Aber weil der 11. November auch der traditionelle Zinstag ist, müssen wir uns auch mit der Wirkung des Zinses befassen. Der Zins ist gnadenlos. Bei einem Prozent Zins verdoppeln sich das Kapital auf der einen und die Schulden auf der anderen Seite in 70 Jahren. Bei 5 Prozent Zins – der wird von den grossen Vermögen locker erreicht, verdoppelt sich das Kapital in 14 Jahren. Die Verdoppelungszeit ist übrigens einfach zu berechnen: 70 geteilt durch den Zinssatz ergibt die Zeit in Jahren. Bei zehn Prozent sind es 7 Jahre.
Der Zins macht die Einen ärmer und die anderen reicher. Aber der daraus entstehende Reichtum ist nicht Produktion, nicht Wertschöpfung. Es ist Extraktion. Jede Zinszahlung fliesst aus der realen Wirtschaft – aus Löhnen, Mieten und Konsum – in die Taschen der Gläubiger. Die unteren 50 Prozent der Bevölkerung besitzen weniger als 1 Prozent des Vermögens weltweit gesehen –,während die oberen 1 Prozent über 40 Prozent kontrollieren. Zinseszins ist der Motor dieser Schere. Er belohnt Besitz, bestraft Arbeit. Er schafft Erben, keine Schaffer.
Martin teilte seinen Mantel. Unser System teilt anders: Es nimmt den Mantel der einen, um ihn den anderen zu vermehren. Die Zinslast der Staaten wird über Steuern und Abgaben auf alle umgelegt. Der Arbeiter finanziert den Rentier. Die junge Generation die alte. Der Mieter den Immobilienfonds.
Vielleicht ist es an der Zeit, die alte Symbolik des Martinstages neu zu lesen. Was wäre, wenn wir den Mantel der Menschlichkeit wieder ausbreiteten über eine Gesellschaft, die sich im kalten Wind der Profitlogik verloren hat? Wenn wir erkennen, dass Wohlstand kein Produkt der Zinsen, sondern der Zusammenarbeit ist? Wenn wir die Logik der Akkumulation durch die Logik des Teilens ersetzen?
Der Martinstag mahnt: Teilen ist möglich. Ein gerechtes Geldsystem bräuchte kein exponentielles Wachstum, keine Zinsspirale. Es bräuchte keine private Geldschöpfung durch die Banken – rund 90 Prozent. Die Staaten könnten selber Vollgeld schöpfen. Es bräuchte Umlaufgebühren statt Zins, Bodenreform statt Spekulation. Es bräuchte den Mut, das mathematische Unrecht beim Namen zu nennen.
Aber seit die Vollgeld-Initiative 2018 abgelehnt wurde, macht das praktisch niemand mehr, der Verein monetäre Modernisierung nicht, das Forum Geld-Politik nicht und die Initiative für eine natürliche Wirtschaftsordnung nicht. Der Jahrzehnte alte Verein, von dem die Voillgeld-Initiative ausging, gibt es nicht einmal mehr.
Am Martinstag sollten wir uns fragen: Wem gehört die Zeit? Wem gehört die Zukunft? Der Zinseszins raubt sie uns – Tag für Tag, Prozent für Prozent. Wir können mehr: Das System umkehren. Von der Umverteilung nach oben zur Rückverteilung nach unten. Von der Knechtschaft durch Zins zur Freiheit durch Gerechtigkeit. Der Mantel ist gross genug. Die ganze Menschheit hat unter ihm Platz.