«Wir haben als Kirche versagt»

Während des Lockdowns durften keine Gottesdienste gehalten werden. Als die bundesrätlichen Lockerungen es wieder erlaubten, sprach der refomierte Pfarrer Andreas Gygli im bernischen Walterswil noch ein letztes Mal zu den Gläubigen – und trat aus der Kirche aus. Damit wollte er ein Zeichen setzen. Der Ze!tpunkt veröffentlicht seine flammende Predigt.

Während der Corona-Quarantäne ging Pfarrer Andreas Gygli viel spazieren, statt zu predigen. «Wir Seelensorger durften weder Gottesdienste noch Besuche in Altersheimen abhalten», sagt der 66-Jährige, heute noch empört darüber. Er habe den Lockdown als eine schwierige Zeit erlebt. «Es deprimierte mich», verdeutlicht der reformierte Pfarrer, «ich konnte feststellen, wie in dieser Zeit einsame Menschen noch einsamer wurden.»

Was ihn aber besonders betroffen gemacht hatte, war die Reaktion der Kirche auf die bundesrätlichen Entscheide. «Das ist ein historisches Versagen», sagt Gygli. «Die Kirche hat sich vom Bundesrat die Ostern verbieten lassen.» Man habe sich alles verbieten, sich mundtot machen lassen. «Die Kirche sollte aber kritisch sein und sich auch politisch äussern», so Gygli, der sich seit eh und je für die Anliegen anderer einsetzt, in seinen frühen Jahren auch gewerkschaftlich.

Im Jahr 2016 ging Gygli in Pension. Davor war er zehn Jahre als Pfarrer in der Gemeinde Elsau im Kanton Zürich tätig gewesen. Nach der Pensionierung vertrat er gelegentlich Kollegen in anderen Gemeinden, so auch in Walterswil im Kanton Bern. Die Coronazeit allerdings, genau genommen die Umstände während der Krise und der Umgang mit den Restriktionen haben vieles in ihm losgetreten.

Ende Mai verkündete der Bundesrat Lockerungen: auch Gottesdienste durften wieder durchgeführt werden. Im Rahmen seiner Vertretungen predigte Gygli am Sonntag, 7. Juni, ein letztes Mal von der Kirchenkanzel. In Walterswil. Danach trat er aus der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz unverzüglich aus. «Ich musste einfach ein Zeichen setzen», sagt der Pfarrer zu Zeitpunkt.ch. Die Abschiedspredigt von Andreas Gyglis soll hier veröffentlicht werden:


 


Jesus spricht: Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. Joh. 8,31-32.
 

Liebe Christinnen und Christen,

mit diesem Wort aus dem Johannesevangelium begrüsse ich Euch sehr herzlich zu diesem Gottesdienst.

Eines nehme ich gleich vorweg: Ich werde Euch heute einiges zumuten. Ich nehme in dieser Stunde nämlich meinen Abschied von der Kanzel.

Wir sind heute alle Corona-Geschädigte. Der Hinterste und die Letzte haben nun begriffen, dass Globalisierung kein theoretisches Konstrukt ist, sondern längstens tagtägliche Wirklichkeit geworden ist. Bis ins hinterste Gliedlein der noch kürzesten Waren-Lieferkette.

Alle sind wir Corona-Geschädigte, habe ich gerade eben gesagt. Es stimmt so aber doch nicht ganz. Es gibt die üblichen Ausnahmen:

So wie jeder Krieg seine Kriegsgewinnler hat, so kennt nun auch die Corona-Krise ihre Krisengewinnler.

Angefangen bei den Gaunern, die uns in den ersten Wochen Schutzmasken und Desinfektionsmittel zu Phantasiepreisen verkauft haben – und zum Teil immer noch verkaufen.

Ein Beispiel: Am vergangenen Mittwoch habe ich mir in der Bahnhofsapotheke in Basel ein Fläschli Desinfektionsmittel gekauft. SeptoClean steht drauf. Inhalt 70 ml. Das ist entspricht etwa einem Espresso.

Laut Angabe auf dem Fläschchen sind 65 Prozent davon Isopropanol, ein Alkoholderivat das Viren unschädlich macht;  plus 0,812 mg – das hat Platz auf der Klingenspitze eines sehr kleinen Sackmessers – also plus 0,812 mg der bakterienabtötenden Substanz Didecyldimethylammoniumchlorid (in meinem ersten Beruf war ich Chemielaborant, darum machen mir diese chemischen Bezeichnungen nicht so viel Bauchweh…)

Die Produktionskosten der beiden erwähnten Substanzen zusammengenommen betragen etwa 70 Rappen pro Liter. Die Gewinnmarge ist schon fast astronomisch hoch. Ich habe es durchgerechnet:

Für die 70ml SeptoClean, ein Espressotässchen voll, habe ich wie gesagt 11.90 Franken bezahlt. Die Marge zwischen den Produktionskosten und dem Verkaufspreis liegt bei fast 3000 Prozent.

Warum ums Himmels Willen redet jetzt der Pfarrer da vorne von Desinfektionsmitteln? So werdet Ihr Euch begreiflicherweise fragen! Was hat das alles in einem Gottesdienst zu suchen? Der Pfarrer soll das Evangelium Jesu Christi verkündigen; alles andere ist vom Übel.

Nun, was kann ich zu meiner diesbezüglichen Verteidigung sagen? Ich versuche es so: Nach meinem Verständnis von Theologie und Glaube gibt es KEINEN Lebensbereich und KEIN menschliches Problem oder Thema, das nicht AUCH ein Thema in einem Gottesdienst sein dürfte.

Es wurden in den vergangenen Wochen, und es werden auch jetzt noch unter dem Regime von «Fürst Corona» sehr viele Maulkörbe verteilt. Heute nutze ich die Gunst der Stunde und nehme kein Blatt vor den Mund.

Verzeiht mir meine Offenheit. Ich werde ja in Zukunft dann auch nicht mehr auf Kanzeln stehen und Leute verärgern, die wirklich nicht mitschuldig sind an dem, was ich meine.

Insofern seid ihr nicht das Publikum, das ich eigentlich ansprechen möchte! Aber wie gesagt: Das hier ist meine letzte Möglichkeit, die ich mir selber gebe, um als Prediger zu Zuhörern zu reden, darum müsst ihr Armen leider die Köpfe hinhalten.

Wo liegt eigentlich der Hund begraben oder – Schande über uns!

Nein, Du mir verborgener Gott! DIESE Schuld ist unsere Schuld, nicht die deine! Und DAS, das allerdings, werde ich UNS als Kirche persönlich so rasch NICHT verzeihen können; dass wir nämlich als Kirche Jesu Christi zum ersten Mal in 2000 Jahren Karfreitag und Ostern im stillen Kämmerlein verbracht haben.

Die Kirche darf keine Angst haben und verstummen, wir sollen verkündigen.

Der Einzelne darf ängstlich sein. Die Kirche aber darf keine solche Angst zeigen, wie wir sie in dieser Weltstunde gezeigt haben. Die Angst des Verstummens. Wir sollen verkündigen, GERADE in der Krise! Und das als lebendige Zeugen vor lebendigen Menschen! Niemals dürfte die Kirche, die sich auf den leidenden Christus beruft auf diese Weise verstummen! Auch nicht unter der Devise: Wir wollen ja nur unsere alten und vorerkrankten Menschen schützen.

Es schien mir zuweilen, als klänge diese «Schutzbehauptung» etwas schief und kläglich. Auch wir als Kirche wollen nur unsere alten und vorerkrankten Menschen schützen...

… und darum gehen wir ebenfalls wie «tout le monde» auf Tauchstation im Homeoffice. Also: Auf Wiedersehen, bis später, bis irgendwann. – Wir wussten ja Ende März nicht wie lange das dauern könnte.

Hätte die Kirche ihre Ruhe-Stellung im Homeoffice wohl auch dann gehalten, wenn der Lockdown vier, fünf, sechs Monate, gar ein Jahr gedauert hätte?

ICH BEHAUPTE: Gottesdienste in unseren normalerweise nicht gerade überfüllten Kirchen wären zu jeder Zeit möglich gewesen. Es hätte nur einer Kirchenleitung bedurft, die aufgestanden wäre und gesagt hätte: Lieber Bundesrat, liebes BAG – das ganze Halt! Wir als Kirche sind hier noch etwas anderem verpflichtet als allein der leiblichen Gesundheit. Es gibt auch noch so etwas wie das Seelen-Heil, die Gesundwerdung und Gesunderhaltung der Seelen.

Der Menschen lebt nicht vom Brot allein.

So lebt der Mensch auch nicht vom leiblichen Wohlergehen allein. Wenn wir die Seelen unserer Kirchenmitglieder im Stich lassen, dann lassen wir den ganzen Menschen im Stich. Auch den leiblich verfassten Menschen. Indem wir es zugelassen haben, dass man zahllose Menschen in die Einsamkeit ihrer Wohnungen verbannt hat, haben wir uns mitschuldig gemacht an der seelischen Verödung von wiederum ungezählten Frauen und Männern – und gewiss auch Kindern.

Dies alles geht mit Bestimmtheit auch an den jungen Menschen nicht spurlos vorüber. Vielleicht wird man in der Rückschau von Jahren oder gar Jahrzehnten von einer «verlorenen Ausbildungs-Generation» reden.

Aber ich masse mir hier kein prophetisches Amt an. Wobei, wie ein lieber Pfarrkollege mir einmal eindrücklich erklärt hat: Ein Prophet ist kein Vorher-Sager sondern ein Hervor-Sager.

Unsere Kirchenleitung, oder auch einfach ein paar beherzte Verantwortliche in den Gemeinden, Pfarrerinnen oder Pfarrer, Kirchgemeinderätinnen oder –räte, sie hätten aufstehen und hineinrufen müssen in die kleine Eid-Genossenschaft und an die Adresse unserer Regierung:

Hört!, ihr regierenden Mitbürger und Demokraten, hört, IHR Bundesräte: Alain Berset, Simonetta Sommaruga, Karin Keller-Sutter, Ueli Maurer, Viola Amherd, Ignazio Cassis und Guy Parmelin, wir danken euch allen namentlich und ausdrücklich. Mit viel Herz und Schweiss habt ihr über Wochen ungezählte Tages- und Nachtstunden daran gegeben, um für unser Wohl zu sorgen.

MEIN ganz besonderer Dank aber geht dabei an Sie, lieber Daniel Koch:

Diese spitzbützbische Schlitzohrigkeit nach Ihrer Entlassung in die Freuden des Pensionierten. Am «Tag danach», gut ausgeschlafen, springen Sie i dr B’Chleidig (mit Neopren-Anzug darunter) munter in die Fluten und zeigen der Nation, dass sie es ernst meinen mit dem Schlussatz zu ihrer Amtszeit: «Die Aare ist ab sofort wieder bebadbar.»

DAS hatte Stil im Rahmen vieler Stillosigkeiten. Zum Beispiel – nur am Rande vermerkt – die Stillosigkeit eines von uns gewählten Parlaments, das so still und klammeimlich wie die Kirche ihre Positionen für gute – NEIN: für schlechte! – zwei Monate geräumt hat.

Ich hake nochmals nach, weil es mir wichtig ist, dass ein bisschen etwas hängen bleiben möge von dem, was ich MEINE. Damit ihr besser versteht, dass ich es SO sagen muss, wie ich es hier tue:

Ich fand grundsätzlich gut, was und wie ihr Acht das in BundesBern gemacht habt! Ein Schelm, wer euch diktatorische Gelüste unterstellen wollte. Wir Schweizer haben zum Glück weder Neigung noch Talent zum Diktatorischen.  Gott bewahre uns diese Tugend, dieses ur-demokratische Charisma weiterhin!

Also, Ihr habt Euren Job gut gemacht. Darauf haben wir uns gerade verständigt.

DOCH!, Halt!, meine Damen und Herren Politiker und Beamte, eines habe ich fast vergessen zu erwähnen.

Ihr hättet uns Kirche als etwas mündiger anschauen und behandeln dürfen!

Ja, Ihr hattet jederzeit die Aufgabe und die Verantwortung, Euren Job so gut wie irgend möglich zu machen – und habt beides nach Eurem besten Wissen und Gewissen wahrgenommen! ABER!!!, ihr hättet der Kirche, einer Körperschaft immerhin mit einem Gründungsdatum so um das Jahr 35-40 nach Christi Geburt, ihr hättet uns, einer zwei Jahrtausenden alten Kirche als etwas mündiger anschauen und behandeln dürfen!

Ihr hättet zum Beispiel so sagen können:

„Wir – Bundesrat und BAG – wir kümmern uns um unser politisches Kerngeschäft und um unsere soziale und volkswirtschaftliche Verantwortung.  Das machen wir bestimmt gut und nach bestem Wissen und Gewissen zum Wohl des Volkes...

…UND EUCH, den Kirchenleitungen trauen wir zu, dass Ihr, unter Einhaltung aller geltenden Schutzmassnahmen dafür sorgen könnt, dass weiterhin Gottesdienste gehalten und Kranke besucht werden können. Sogar im Spital, sogar auf der Intensivstation, da besonders – aber genauso auch in Alters- und Pflegeheimen.

Ihr von der Kirche! – so hätten Bundesrat und BAG zu uns sagen können –  ihr Kirchen, ihr seid dermassen gut vorbereitet, ihr seid so völlig durchtrainiert in Sachen Krisen. Ihr habt wahrhaftig schon viel Schlimmeres bewältigt als Corona!

Ihr, liebe Kirchen, ihr geniesst deshalb unser vorbehaltloses Vertrauen, weil ihr so viele Jahrhunderte an Erfahrungen verinnerlicht habt. Seuchen, Pest, Cholera, Kriege, Revolutionen, selbst Hitlerdeutschland waren euch nie ein Grund Eurer Ämter NICHT zu walten!

Kurzum, liebe Kirchen: Ihr werdet das schon gut machen. Wir haben KEINEN Grund, euch NICHT zu vertrauen!

Und ja, so viel hätte ICH «uns Kirchen» auch zugetraut! Wir hätten – nach einem Unterbruch von höchstens zwei Sonntagen am Anfang des Lockdown – ganz gewiss kreative Wege und Lösungen finden können, um unsere Gottesdienste so zu organisieren, dass auch die hinterste und letzte Verhaltensregel hätte erfüllt werden können. Hätte…

Jedes kleine Lebensmittellädeli um die Ecke, jede Bäckerei-Konditorei, jede Käserei, der COOP, die MIGROS – sie alle haben uns von Anfang an gezeigt, dass das geht und wie das geht. Die Schutzkonzepte waren in wenigen Tagen ausgearbeitet und konnten praktisch ohne grosse Änderungen bis heute durchgezogen werden. Alles in Kürze bewährt und dank einer g’lehrigen, mündigen Bevölkerung rasch eingespielt.

Es waren reine Organisationsfragen gewesen, die zu lösen waren. DAS hätten wir Kirchen – auch gekonnt. Grosses Ehrenwort.

ABER! – ABER! – und da liegt der eine Hund nun wirklich gleich zweifach begraben! – ihr, Bundesrat und BAG, ihr habt uns unsere Kern-Kompetenzen in unserem ur-eigenen Revier nicht zugetraut!

Und WIR, Kirche, haben uns selber nicht getraut!

Und – zweites Mal begrabener Hund – WIR, Kirche, haben uns selber nicht getraut! Uns selber nicht! Sonst hätten wir uns zumindest für unsere Seite gewehrt. Hätten wenigstens am Anfang gleich ein paar kritische Rückfragen an unsere Regierungsoberen gerichtet.

Die Frage beispielsweise, ob es nicht auch ein bisschen ZYNISCH ist, wenn man uns diese Drei-Worte-Doppelbotschaft mit auf den Weg gibt:

Bleiben Sie zuhause!

und

Bleiben Sie gesund!

Die erste Aufforderung. Bleiben Sie zuhause!  war – wenn auch mit viel Zagen und Klönen – praktizierbar: halt gelegentlich etwas mehr als sonst zuhause bleiben. Nun ja…

Aber die zweite Anweisung, und als das kann man sie ja durchaus hören, als An-Weisung: Bleiben Sie gesund! War euch bewusst, was für eine zutiefst  frag-würdige Aussage das ist?! Wären damit nicht alle unsere Mit-Menschen, die nicht gesund bleiben konnten, sogar etwas selber schuld an ihrem Ungfehl?!

Wir hätten uns für unsere Sterbenden und Trauernden wehren müssen.

JA, liebe Kirche! – Wir hätten uns für unsere Alten und Kranken, für unsere Sterbenden und Trauernden wehren müssen. I dHose, Manne und Froue!

So wie wir es immer wieder gemacht haben in 2000 Jahren; Cholera, Pest, Krieg, Hunger hin oder her. Es war für Christen und Christinnen «sonst» immer eine Ehre gewesen – GERADE in Krisenzeiten – hinzustehen. Aus Nächstenliebe, und um der eigenen Würdigkeit und Selbstwertschätzung willen.

Franz von Assisisi hat Pestkranke in die Arme genommen. Jesus ist ebenfalls zu Leprösen gegangen, unter Gefahr der Ansteckung, um den Preis möglicherweise des eigenen Lebens also. Aus Nächstenliebe.

Nun, Du und ich, wir sind weder der Heilige Franz noch Jesus von Nazaret. Aber wir waren auch schon mutiger!

So bekenne auch ich hier meine Mitschuld. Denn auch ich habe feige geschwiegen und meine Stimme habe auch ich nicht erhoben – öffentlich und laut vernehmbar. Es gibt keine Entschuldigung, man hätte nämlich auch den Kirchenpräsidenten oder die Pfarrerin anrufen können und sagen: Du, Präsi, Du Pfarrerin, ist das recht, was wir als Kirche machen – oder eben NICHT machen?

Ja, es wäre sogar möglich gewesen, vom eigenen Balkon herab die Stimme zu erheben und zu fragen: Wo ist eigentlich hier die Kirche? Ich selber habe sogar vergessen, ein Kerzli ins Fenster zu stellen an Ostern, als «Zeichen der Hoffnung»!

Ja, auch DAS habe ich verpasst. Ich bekenne und bereue mein Versäumnis! Und ich bekenne im Anschluss an das eben Gesagte weiter:

Zum ersten meine tiefe Ent-täuschung im Blick auf meine Kirche und insbesondere auch deren Leitungs- und Leistungsträger.

Und dann bin ich ent-täuscht, im Doppelsinne des Wortes: frustriert einerseits über unser unangebrachtes Schweigen.

Aber ich bin gleichzeitig – man mag das für Positiv ansehen – ich bin auch von einer Täuschung befreit: Der Täuschung nämlich, dass unsere Kirche mehr könne, als im entscheidenden Moment zu VERSAGEN!

Ja, ich habe sie mir viel viel mutiger vorgestellt, meine Kirche – vor Corona habe ich sie mir viel viel mutiger vorgestellt! Ich habe mich getäuscht über uns.

Und darum, weil ich mich ziemlich schäme für mich selber, und weil ich mich auch schäme für meine Kirche, darum wird dies hier, in diesem wunderschönen Landkirchlein Walterswil meine letzte Kanzelrede gewesen sein.

Ich danke Euch, liebe Walterswilerinnen und Walterswiler, dass ihr es ausgehalten habt, mir bis hierher zuzuhören.

Amen

 

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Eingangsgebet und Schuldbekenntnis

Herr, wir sind zusammengekommen, weil es uns gut tut, unter Menschen zu sein. Und weil es uns geistig und seelisch gesund erhält, wenn wir von Angesicht zu Angesicht und nicht aus dem Homeoffice heraus miteinander reden. Weil es uns auch leiblich wohl tut, weil es sogar unser Immunsystem stärkt, wenn wir unmittelbar und leibhaftig – und das heisst: im selben Raum anwesend – das  Zusammensein unter Männern und Frauen und Kindern geniessen.

In den vergangene Wochen sind allzu vielen sonst schon einsamen Menschen die Wohltaten des Beieinander-Seins verboten gewesen. Genauer gesagt: WIR haben uns dieses Elementarste des Menschseins verbieten LASSEN.

Ob die Begründung, dass alle diese obrigkeitlich verordneten Massnahmen nur dem gesundheitlichen Schutz dienen sollen, in jeder Hinsicht berechtigt war, das bezweifle ich hier vor dir, Gott und vor dieser Gemeinde.

Ich selber habe die Kirchenleitungen in diesen langen zehn Wochen nicht ein einziges Mal erlebt, dass sie ernsthaft und laut und deutlich ihre Stimme erhoben hat, um sich zumindest für unsere Gottesdienste an Karfreitag und Ostern zu wehren. Lass uns diese Schuld zuerst einmal erkennen, und wenn wir erkannt haben, werden wir dich am Ende dieses Gottesdienstes im gemeinsamen UnserVater auch dafür um Vergebung bitten.

Amen

 

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GEBET

Du, Gott, 

viele Menschen haben still und leise im einsamen Zuhause gelitten, nicht alle: viele durften auch eine engere Familiengemeinschaft geniessen, zum Glück!

Allzu viele sind im Gegenüber zu maskenverhüllten Gesichtern auf Intensivstationen himmeltraurig gestorben. Eines, höchstens zwei Angehörige durften da sein, wenn gestorben werden musste. Vielfach war nicht einmal ein lieber Mensch «erlaubt» oder zugegen.

Du, Gott magst auch gesehen haben, wie trostlos die Beerdigungen gewesen sind. Fünf Angehörige seien zugelassen gewesen. Ich hoffe, man hat sich nicht immer daran gehalten.

Wir denken an alle lieben Verstorbenen, ob sie mit ohne Corona gestorben sind, macht keinen Unterschied.

Wir dürfen aber auch gnädig an uns selber denken, an unsere Belastungen, welche uns durch Corona und die Lockdown-Massnahmen auferlegt worden sind.

Nein, Du, Gott in deiner Verborgenheit, ich bin nicht hier, um dich anzuklagen. Wer wäre ich, wollte ich mir so etwas anmassen.

Wir klagen nicht an, aber wir klagen und rufen. Und die wirst uns auch Fragen erlauben?

Wir klagen darüber, dass wir einen Gott haben, dem die Macht zu fehlen scheint, so sieht es zumindest für unsere Augen aus, es scheint uns, dass wir einen Gott haben, dem die Macht fehlt, um angesichts solcher Natur-Ereignisse helfend einzugreifen.

Denn SO,  am liebsten so,  hätten wir dich nämlich gerne: als einen Gott, der ganz schlimme Dinge zumindest nicht in diesem Ausmass zulässt. Aber es ist wohl so, wie Dorothee Sölle, die Theologin sagt: Gott hat keine anderen Hände als unsere Hände.

Wenn wir von DIESEN schlimmen Dingen reden, dann denken wir gleichzeitig an die unabsehbaren volkswirtschaftlichen, politischen, sozialen und seelischen Folgeschäden, die uns schon jetzt schlimmer erscheinen, als das Virus selber.

Die Bibel bezeugt uns, dass du Gott, dich in Gestalt des Jesus von Nazaret in unserer Menschenwelt gezeigt hast und dass du dich geschichtlich NACHHALTIG eingemischt hast. Sonst gäbe es uns als Kirche schon lange nicht mehr.

Am Karfreitag, hast du dich kreuzigen lassen. Am Karfreitag, den wir in diesem Jahr NICHT in unseren Kirchen gefeiert haben. Nicht so, wie in den vorangegangen rund 2000 Jahren. Da waren wir Christinnen und Christen nämlich immer versammelt, wenn auch in noch so kleinen Gruppen und Gemeinden.

Auch Ostern  «durften» wir nicht gemeinsam feiern, denn wir waren alle gehorsame Bürger und haben aufs Wort unserem Bundesrat und dem Bundesamt für Gesundheit gehorcht. Die haben uns gesagt: Ihr, liebe Christinnen und Christen in diesem Land, ihr dürft nicht miteinander Ostern feiern.

Und, Gott, wir klagens Dir: Wir waren staatsbrave Kinder, und wir haben Oster-Gottesdienst in der schmalbrüstigen Form von online-Übertragungen gesehen – oder auch nicht angeschaut. Übertragen wurden uns Predigten von einsam an Taufsteinen und Altären stehenden und irgendwie traurigen Pfarrerinnen, Pfarrern und Priestern.

Das zumindest wäre im Internet angeboten gewesen. Schade und unglücklich bloss, dass immer noch viele alte Menschen kein Internet haben…

Das ist alles sehr traurig, unser Gott. Und ich bekenne dir meine Trauer – und ich bekenne dir auch meine WUT!

Amen

Kommentare

Die Kirche rettet kein Corona sondern bloss ein Starkbier!

von Thomas Freiwort
Wenn jede Predigt so aufrüttelnd wäre, wäre ich vor 36 Jahren nicht aus der Kirche ausgetreten und hätte mich nach jeder Predigt schon auf die nächste gefreut! Leider ist Ihre Predigt aber die löbliche Ausnahme, es wird prinzipiell nur das gepredigt was nicht weh tut und dass man trotzdem nicht einschläft! Lieber Herr Gygli, bravo, Jesus hätte es nicht besser gemacht, herzliche Grüsse von einem "schwarzen Schäfchen", Prost, Thomas

kleingläubig?

von Martin
Sehr geehrter Herr Pastor Gygli, Noch als Pensionär aus der Kirche auszutreten, ist ein deutlicher und starker Schritt! Ich kann das nachvollziehen. Frage mich allerdings, ob wir Gläubigen nicht insgesamt der Institution Kirche zu viel vertrauen, zu große Hoffnungen in sie setzen, ihr zu große Aufmerksamkeit widmen, anstatt auf Christus zu blicken und uns von Ihm stärken lassen.  Wenn ich bedenke, in welch politischem Umfeld Er wirkte, und später seine Apostel! Petrus, Paulus etc. Was hätten sie sich aufregen können über Mißstände aller Art, aber sie haben einfach weiter gemacht, getrieben von der besten Botschaft der Welt - dem Evangelium. Was hat Johannes in seiner Offenbarung für Gräuel gesehen: das ist der Lauf und Abfall der Welt. Natürlich kann man verzweifeln, wenn man aufs Schlimmste schaut. Aber wir glauben doch an den Schöpfer des Alls! Er muss das Böse, das Menschen aushecken, zulassen, kann uns aber immer auch davor beschützen. Sonst stünde Gott als Diktator da, der uns seinen Willen aufzwingt, der mit uns wie mit Puppen spielt. Nein, wir dürfen frei entscheiden,  wie schon im Garten Eden: entweder das Leben in Fülle unter seinem Schutz oder die selbstgerechte Pseudofreiheit (Erkenntnis des Guten und des Bösen) ohne Ihn. Und dennoch bietet Er sich uns immer weiter an, in vollkommenner aufopfernder Liebe! Wie der Vater, der sehnsüchtig nach seinem verlorenen Sohn ausschaut und ihm entgegenrennt. Ich hoffe sehr, Sie lassen sich von Seiner Liebe wieder stärken und lernen wieder, Ihm zu vertrauen, dass er alles zum Besten bringt! Liebe Grüße!