Zeitenwende in der evangelischen Kirche Deutschland: Denkschrift versus Friedensruf
Die evangelische Kirche in Deutschland ist mit ihrer lange erwarteten Denkschrift «Welt in Unordnung - Gerechter Frieden im Blick» von ihrer pazifistischen Haltung abgerückt. Im Autorenteam sassen nicht nur Theologen, sondern auch Militärangehörige. Pfarrer und Gefängnisseelsorger Thomas-Dietrich Lehmann, Mit-Initiator des völlig anders gesonnenen «Friedensrufes» aus der evangelischen Kirche, erklärt die Zeitenwende der Kirche.
Thomas Dietrich Lehmann
Pfarrer Thomas-Dietrich Lehmann im Gespräch. Foto: Christa Dregger

Zeitpunkt: Du gehörst zu einem Kreis, der parallel zum letzten Kirchentag in Hannover ein Friedenszentrum organisiert und einen Friedensruf formuliert hat. Ihr durftet aber nicht Teil des offiziellen Kirchentages sein. Warum wollten die euch nicht?

Thomas-Dietrich Lehmann: Es gibt im Augenblick in der Evangelischen Kirche Deutschlands, die lange Zeit an der Seite der Friedensbewegung gestanden hat, eine sachte, aber doch in Gremien spürbare Kehrtwendung – auch im Präsidium des Kirchentages. Die haben uns Ende letzten Jahres signalisiert, dass sie kein Interesse an unserem Friedensruf haben.


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Das Interview kann in voller Länge als Video hier angeschaut werden: transitiontv.org/Ich-erkenne-meine-evangelische-Kirche-nicht-mehr-wieder?


Heute (das Gespräch wurde am Dienstag geführt) kam nach vielen Jahren wieder eine Denkschrift der Evangelischen Kirche heraus, in der die Kirche in vielen Punkten von ihrer ehemals pazifistischen Position abrückt. Stand die Kirche bisher traditionell auf der Seite des Gewaltverzichtes, so heisst es jetzt, dass Bewaffnung unter bestimmten Umständen gerechtfertigt seien. Es ging durch die Medien, dass die Evangelische Kirche sogar Atomwaffen für legitim hält. Sind das die gleichen Kreise, die euch nicht am Kirchentag haben wollten?

Nein, personell sind das nicht die gleichen Kreise. Aber die mehrheitliche Grundstimmung der Protestanten nähert sich an den Staat an, der spätestens mit Ausbruch des Ukraine-Krieges Aufrüstung propagiert und massiv Geld investiert, Sondervermögen einsetzt, auch ideologisch von Zeitenwende spricht. Das ist eine Abkehr von der Entspannungspolitik, die mit Willy Brandt angefangen hat. Man kehrt sich ab mit der Begründung, da passiert was, was wir nicht billigen können. Wir müssen die ehemaligen Satellitenstaaten der damaligen Sowjetunion schützen oder denen beistehen. Unterm Strich heisst das: Wir rüsten auf, und die Aktienkurse der Firmen, die mit Rüstung Geld verdienen, gehen seit drei Jahren durch die Decke.

Die neue Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche «Welt in Unordnung - Gerechter Friede im Blick. Evangelische Friedensethik angesichts neuer Herausforderungen» mit rund 150 Seiten ist die dritte ihrer Art. Bereits 1981 und 2007 veröffentlichte sie ein vergleichbares Papier. Daran knüpft die Denkschrift an, verändert aber stark ihre damaligen pazifistischen Positionen und hält eine «rechtserhaltende Gewalt» für möglich. So heisst es darin: «Christlicher Pazifismus ist als allgemeine politische Theorie ethisch nicht zu begründen.» Oder: «Nukleare Abschreckung widerspricht dem Geist des Gerechten Friedens und kann nur als Übergangslösung gelten.» Oder: «Waffenlieferungen sind ethisch nicht ausgeschlossen, aber nie geboten – sie bedürfen sorgfältiger Abwägung.»

Aber was hat die Kirche damit zu tun? Sind wir wieder in so einer Zeit wie beim Nationalsozialismus, wo die Kirche die Waffen gesegnet hat?

Glaube ich nicht. Aber die Gefahr ist am Horizont erstmalig in meinem Leben sichtbar. Ich bin gross geworden in West-Berlin, mit evangelischer Jugend- und Sozialarbeit, in einer Kirche, die sich für die Versöhnung mit dem Osten eingesetzt hat und den staatlichen Entwicklungen voraus war. Die Denkschriften der evangelischen Kirche haben immer eine Orientierungsfunktion im besten Sinne für die Gesellschaft gehabt. Wie wir alle wissen, hat die Kirche allgemein an Bedeutung verloren. Jetzt wendet sie sich von ihren kritischen Blick auf staatliche und gesellschaftliche Vorgänge ab. Es ist eine Abkehr von einem «prophetischen Geist»: Die Propheten haben in der Geschichte des Glaubens immer eine kritische Seite eingenommen, auch gegenüber den Herrschern. Also Prophetie heißt kritisches Denken. Was ich nun erlebe, ist noch keine Hinwendung zum Waffensegnen. Aber es ist eine Abkehr vom kritischen Denken hin zu einem bestätigenden, affirmativen Denken. Kurz gesagt, man glaubt, unter den jetzigen Bedingungen der Weltlage die Demokratie verteidigen zu müssen, und wenn es nicht anders geht, dann mit Waffen.

Ich erkenne meine Kirche nicht mehr wieder.

Ich war in der Friedensbewegung in den 80er Jahren, die stark von Christlichen Gruppen und von den Grünen getragen wurde. Nun trennt sich nach den Grünen auch die Kirche vom Pazifismus ab?

Ich war in der Gründungsphase Mitglied der Grünen in Westberlin, sie hiessen hier damals «Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz». Pazifismus war eine der 4 Säulen dieser Partei. Ich bin lange schon ausgetreten und erkenne diese Partei nicht mehr wieder. Bei der Kirche genauso: Ich erkenne meine evangelische Kirche nicht mehr wieder.

Zurück zur Denkschrift – wer sitzt in dem Gremium, das die verfasst?

Ich habe die Vorfassung dieser Denkschrift vor zwei Wochen durchgearbeitet, so gut ich konnte. Ich habe die Liste von den Autorinnen und Autoren und den zugeschalteten Gästen gegoogelt. Der Leiter des Gremiums ist der Münchner Theologe Reiner Anselm. Aber unter den elf Personen des Gremiums waren tatsächlich ein General der Bundeswehr vertreten und ein Militärdekan, ein Wirtschaftsethiker und andere. Wer aber nicht drin ist, ist der Friedensbeauftragte der Evangelischen Kirche, Bischof Friedrich Kramer. Was wäre naheliegender gewesen, als einen Friedensbeauftragten der eigenen Kirche in dieses Gremium mit hineinzunehmen? Mit ihm wäre es aber wahrscheinlich zum Konflikt gekommen, also man hat ihn ausgeladen. 
Gestern wurde die Denkschrift in der Synode in Dresden offiziell vorgestellt. Da trat ein hochrangiger Bundeswehrgeneral in Militäruniform ans Rednerpult der Synode und sagte – so in etwa mit meinen Worten: Die letzte Denkschrift eurer Kirche von 2007 fand ich ja gar nicht so gut. Aber jetzt, wo ihr euch an die Seite des Militärs stellt, jetzt seid ihr auf richtigem Wege. Ich bin fast rausgegangen, ich konnte es kaum aushalten.

Nicht die ganze Kirche hält Gewalt für ein mögliches Mittel der Konfliktlösung. Ein Kreis von TheologInnen am 1. Mai diesen Jahres in einem Friedenszentrum parallel zum Kirchentag in Hannover einen Friedensruf veröffentlicht. Mit dabei waren Margot Käßmann, Friedrich Kramer und andere friedensbewegte Mitglieder der Kirche. In sieben Punkten wird darin anhand der Bibel erklärt, warum christlicher Glaube und Militarismus nicht vereinbar sind. 
Der erste:
1. Du sollst nicht töten! (2. Mose 20,13) 
Das Tötungsverbot gilt auch angesichts von Krieg und Gewalt. In jedem getöteten Menschen stirbt ein Ebenbild Gottes. Wir können keine Waffen auf andere Menschen richten, weil wir «damit die Waffen auf Christus selbst richteten» (Dietrich Bonhoeffer).

Ihr habt vor einem Jahr einen ganz anderen Friedensruf verfasst und veröffentlicht. Er begründet durch Bibelzitate, warum Christen pazifistisch sein sollte. Ist das nicht etwas weltfremd, das mit den Bibelzitaten?

Wir haben lange überlegt, ob wir so einen biblisch zentrierten Friedensruf machen und uns dann bewusst dafür entschieden, denn die Bibel ist sehr überzeugend. Ich gebe mal ein Beispiel: Der zentrale Glaubenspunkt ist Jesus Christus am Kreuz. Also der Zimmermann Jesus wird hingerichtet auf Initiative der Eliten in Jerusalem und an die Römer ausgeliefert. Er wird nach einer Hinrichtungstechnik der römischen Besatzungsmacht gekreuzigt. Er sagt am Kreuz, so ist es überliefert: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Er sagte nicht: Ich steige jetzt vom Kreuz und nehme eine Waffe in die Hand, denn bei so einem Unrecht muss ich Widerstand leisten. Das Ostergeschehen von Kreuz und Auferstehung ist das zentrale Ereignis des Glaubens. Wie kann dann eine Kirche, die sich auf Bibel beruft, sagen: Tja, es gibt aber Momente, wo ich dann doch zur Waffe greifen muss? Das ist Verrat am Glauben. Anders kann ich das nicht nennen. 

Bei der Verhaftung will ein Mitarbeiter von Jesus im Garten Gethsemane mit dem Schwert die Polizei, die Jesus verhaften will, zurückdrängen. Und da sagt Jesus: Steck dein Schwert in die Scheide zurück. Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen. Also das ist das Gegenteil von dem, was gerade in diesen Tagen meine Kirche formuliert. Die sagt, na ja, das höhere Gut ist ja schon, friedfertig zu sein. Aber wenn es ganz hart kommt, dann nehme ich das Schwert. Das ist das Gegenteil der jesuanischen Botschaft. Wenn ich die Glaubensbotschaft ernst nehme – und nichts anderes ist ja mein Auftrag als Christ, aber auch als Seelsorger in der Kirche – dann komme ich an dieser Tatsache nicht vorbei. Das geht nicht. 

Danke für das Gespräch. 
 

Christa Dregger-Barthels

Christa Dregger-Barthels

Christa Dregger-Barthels (auch unter dem Namen Leila Dregger bekannt). Redaktionsmitglied des Zeitpunkt, Buchautorin, Journalistin und Aktivistin. Sie lebte fast 40 Jahren in Gemeinschaften, davon 18 Jahre in Tamera/Portugal - inzwischen wieder in Deutschland. Ihre Themengebiete sind Frieden, Gemeinschaft, Mann/Frau, Geist, Ökologie.

Weitere Projekte:

Terra Nova Plattform: www.terra-nova.earth

Terra Nova Begegnungsraum: www.terranova-begegnungsraum.de

Gerne empfehle ich Ihnen meine Podcast-Reihe TERRA NOVA:
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Darin bin ich im Gespräch mit Denkern, Philosophinnen, kreativen Geistern, Kulturschaffenden. Meine wichtigsten Fragen sind: Sind Menschheit und Erde noch heilbar? Welche Gedanken und Erfahrungen helfen dabei? 

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