Obwohl sie niemand wollte, ist zwischen Stadt und Land eine «dritte Schweiz» entstanden. Einkaufszentren, Fachmärkte und Freizeitanlagen haben etwas geschaffen, das weder Stadt noch Land ist und eine zunehmende Herausforderung darstellt.

Die Spannungen zwischen städtischem und ländlichem Lebensstil treiben die Veränderungen an, die seit einigen Jahrzehnten das Gesicht der Schweiz prägen. Die Flucht aus den Städten auf das Land hat einen Lebensstil hervorgebracht, der weder ländlich noch städtisch ist – eine Kopie der Stadt in der Landschaft, an der wir heute leiden. Dieses Abbild ist hässlich und schädlich – aber es ist gebaut. Wie gehen wir damit um?

 

Das Auto hat die Wahl zwischen Stadt und Land überhaupt erst verhandelbar gemacht. Bis in die 1950-er-Jahre war klar, wo man hingehörte. Wer in der Fabrik arbeitete, musste in Velodistanz wohnen; wer einen Hof bewirtschaftete, wohnte auf dem Land und kaufte da ein. Dank dem Auto verfliessen die Grenzen zusehends. Viele leben heute auf dem Land und arbeiten in der Stadt, der Arbeitsweg wird meist mit dem Auto zurückgelegt. Und jeder Winkel der Schweiz ist erreichbar: im Cabrio, auf dem Motorrad oder mit der Skiausrüstung auf dem Dach.

Die Automobilität hat Stadt und Land verändert
Die Landwirtschaft und die Natur wurden zur wichtigsten Ressource dieser Entwicklung – sie waren die neuen Bauzonen; ein nomadischer Lebensstil pendelte sich ein. Wer aus der Stadt geflohen ist, will den städtischen Lebensstil auch auf dem Land nutzen. Er geniesst die Ruhe und Erholung, fordert aber alle Möglichkeiten der Stadt: Kultur und Einkauf, Freizeit und Schulen, Sport und Vergnügen. Die Städte sind vor diesen Forderungen eingeknickt und bauten der «ländlichen» Bevölkerung Parkplätze und Zufahrtsstrassen. Dies schien lange Zeit zu gelingen, doch inzwischen wissen wir: Die Kernstädte sind an dieser Aufgabe gescheitert. Naserümpfend haben sich die Landbewohner von den zusehends verkehrsgeplagten Städten abgewandt und geniessen die Gastfreundschaft der «dritten Schweiz», denn die Agglomeration wurde nach ihren Bedürfnissen gestaltet: gute Zufahrt, reichlich Parkplätze, grosse Auswahl, Schnellverpflegung.

Das Scheitern der Städte trifft sie in ihrem Selbstverständnis. Was haben sie falsch gemacht? Oder andersrum: Warum soll das, was inzwischen auf der grünen Wiese entstanden ist, besser sein? Warum hat man diese Entwicklung zugelassen? Immerhin kennt die Schweiz seit 1980 ein Raumplanungsgesetz. Wäre es nicht sinnvoll gewesen, die «dritte Schweiz» von Anfang an zu verhandeln, zu formen oder gar zu verhindern? Denn wir haben recht genau gewusst, was auf uns zukommt. Lange genug konnte man mit dem Finger auf die USA mit ihren verödeten Kernstädten und anonymen Einkaufsmeilen zeigen.

Dass niemand die «dritte Schweiz» vordenken oder steuern wollte, hängt wohl mit dem liberalen Grundimpuls der Schweiz zusammen: Wir glauben an die selbstreinigende Wirkung des Marktes, an die Aufrichtigkeit des Unternehmertums, an den kollektiven Nutzen jeder Art von Profit. Noch immer tun sich Kantone, Regionen und Gemeinden schwer, dem Treiben auf der grünen Wiese einen Riegel zu schieben oder klare Leitplanken zu setzen. Viele Bau- und Zonenordnungen sind immer noch naiv, was die Nutzung von Gewerbeland angeht. Man wundert sich über die Ansiedelung deutscher Discounter an den unmöglichsten Lagen. Wie konnte man diese Entwicklung, die mit Aldi und Lidl in den 1990er-Jahren einsetzte, einfach so geschehen lassen? Jede deutsche Kleinstadt bot Anschauung für das, was auf uns wartete. Nun ist die Agglomeration da, und wir klagen über das Anwachsen des Autogebrauchs, über die Leere der Kernstädte, über die Anonymisierung der Gesellschaft.

Die «dritte Schweiz» ist ein Netzwerk aus Infrastrukturen, die durch das Auto erschlossen sind. Sie ist weitgehend entkoppelt von Stadt und Land, zwar leidlich an den öffentlichen Verkehr angeschlossen, aber zu Fuss und per Velo schlecht erreichbar. Viele Gemeinden quälen sich mit der Frage, ob sie diese Strukturen mit dem Ortsbus erschliessen und so mit Steuergeldern den raumplanerischen Unfug unterstützen sollen. Die Logik der «dritten Schweiz» ist aber so stark, dass dies längst erfolgt. Orte wie Brig, Burgdorf oder Bellinzona kennen allesamt Busverbindungen vom Stadtzentrum an die bunte Peripherie, die ihnen langsam das Wasser abgräbt. Hat man sich mit der neuen Realität abgefunden? Gibt man gar den Ortskern langsam auf?

Warum können wir uns nicht kleinräumiger organisieren?
Die Diskussion um Stadt, Land und das Dazwischenland ist nicht zu Ende, weil neue Mobilitätsformen vor der Tür stehen. Wenn Autos selber fahren und öffentlicher und privater Verkehr zusehends verschmelzen, sehen die einen ein Revival des entspannten Lebens, andere ein Zementieren der rastlosen Gesellschaft. Auch der Internethandel ist ein frontaler Angriff auf diese «dritte Schweiz» und ihre anonymen Shoppingformate. Kleinere und mittlere Stadtzentren mit ihrer individuellen Einkaufslandschaft scheinen besser dazustehen. Gleichzeitig ist eine Erschöpfung in den Zentren zu spüren – sie sind müde vom Kampf um die Kunden und resigniert gegenüber der Macht der internationalen Ketten.

Die Kernfrage ist: Warum können oder wollen wir uns nicht kleinräumiger organisieren? Was ist so reizvoll am Lebensstil der Unrast? Warum sind unsere Städte nicht in der Lage, die Lebensqualität eines Dorfes zu bieten? Warum bleiben Menschen auf dem Land nicht einfach, wo sie sind? Sind Coworking-Spaces eine Antwort? Ist das Arbeiten vor Ort ein passabler Weg zu mehr Gelassenheit und räumlicher Befriedung? Noch sind auch diese Fragen unbeantwortet. Die Kultur der kurzen Wege ist ansatzweise erst in den grossen Städten angekommen.

Vom Shopping- zum Freizeitcenter
Die jüngste Revision des Raumplanungsgesetzes hat eine lang ersehnte Klärung der Rahmenbedingungen gebracht, sie hat aber für viele nur nachgeholt, was schon 1980 hätte geregelt werden müssen. Denn noch heute können Einkaufszentren wie das Outletcenter «Edelreich» in Wigoltingen oder die «Mall of Switzerland» in Ebikon bewilligt oder eröffnet werden, und in ihren Festreden erzählen uns die Politiker, dies sei zum Wohle aller. Die «dritte Schweiz» wird also noch ein Weilchen das Gesicht der Schweiz prägen. Umso mehr, als die Einkaufszentren derzeit den Sprung nach vorne vorbereiten, um sich gegen die Macht des Internethandels zu wappnen. Sie werden massiv in Freizeit-, Gastro- und Kulturnutzungen investieren, um nicht von den kriselnden Ladenflächen abhängig zu bleiben. «Westside» Bern lädt dank Hotels, Restaurants, Hallenbad und Wellnessanlagen zu ausgiebigen Besuchen ein, andere Center buhlen mit Kletterhalle, Nachtclubs oder Event-Gastronomie um Kunden. Im österreichischen Villach sind nach den Läden auch die Restaurants an die Peripherie gezogen, während die Altstadtgassen sich entleeren.

Diese Entwicklung könnte auch der Schweiz blühen, denn die Infrastrukturen der «dritten Schweiz» sind gebaut, wollen also genutzt und amortisiert werden. Gleichzeitig sinkt der Bedarf nach Erdgeschossflächen aufgrund des Internethandels. Investoren wie auch die öffentliche Hand werden sich daher der Logik der «Inwertsetzung» nicht widersetzen können: Die getätigten Investitionen müssen mit neuen gestützt werden. Gut möglich, dass dereinst Hilfsprogramme für darbende Einkaufszentren gefordert werden. Während man in den USA mit einem Schulterzucken über Dead Malls (tote Einkaufszentren) hinwegsieht, wird man hierzulande mindestens die Frage stellen, warum man sie überhaupt bewilligt hat, wenn sie doch nur eine kurze Episode im Konsumverhalten der Menschen abdecken. Vielleicht aber siegt ja auch der Pragmatismus: Man musealisiert die Altstädte und verlegt den Ortskern ins Einkaufszentrum. Der Busanschluss ist oft schon da.   

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Paul Dominik Hasler betreibt seit 25 Jahren ein «Büro für Utopien», das sich für gesellschaftliche Entwicklungsprozesse einsetzt. Kernthemen sind die Stadtentwicklung und die Mobilität. Paul Dominik Hasler hat massgeblich am Aufbau des Netzwerks Altstadt mitgearbeitet, das Ortskerne berät. Er ist Ingenieur ETH NDS FSU.

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