Der König, der keiner sein will

Die Afrobolivianer sind stolz auf ihren König. Julio Pinedo aber pflückt lieber auf seiner Plantage Kokablätter. Der Nachkomme von Sklaven ist den königlichen Pflichten überdrüssig. Zumal seine Position eher symbolisch ist, und die afrikanischstämmige Gemeinschaft in Bolivien nach wie vor Rassismus ausgesetzt ist. Ein Augenschein vor Ort.

Mit Krone und Schärpe: das offizielle Bild von «Seine Majestät Don Julio der Erste». / zvg

Hier also lebt der König. Das Zuhause von Julio dem Ersten sieht man bereits beim Einbiegen in Mururata. Ein zweistöckiges, bescheidenes Eckhäuschen. Im oberen Raum lebt das Königspaar. Im unteren führt Julios Frau, Königin Angélica, einen rustikalen, sehr einfachen Laden. Soeben dunkelt es ein in Mururata. Aus dem Laden der Königin leuchtet Halogenlicht auf die Straße. Vor dem Eingang türmen sich ein paar Holzkisten, in welchen Bananen feilgeboten werden. Auf einer Tafel steht: «Es gibt getrocknetes Lamafleisch». Und drinnen, da sitzt in Gedanken versunken an einem abgenutzten Holztisch ein alter Mann in Karo-Hemd und Baseballkappe.

Es ist Seine Majestät Don Julio der Erste. Mit dieser Betitelung und mit einer prächtigen goldenen Krone auf dem Haupt, einer roten Schärpe und einem Zepter erscheint der schwarzafrikanische König auf einem Foto auf der offiziellen Internetseite der Casa Real Afroboliviana – des Königshauses der Afrobolivianer. Und so tritt er auch bei offiziellen Veranstaltungen in La Paz auf: autoritär wirkend und nobel. Wie ist dieser Mann? Was seine Geschichte? Und wieso regiert er auf dem südamerikanischen Kontinent über ein afrikanisches Königreich – notabene das einzige in Lateinamerika?

Nun, jetzt sitzt der König im Laden seiner Frau, in Mururata. Es ist eines jener Dörfer der Afrogemeinschaft, die in den subtropischen Tälern von Bolivien – in den Yungas – liegen. Nur zwei Stunden Fahrt von der kargen und kühlen Andenstadt La Paz entfernt. Über Serpentinenstraßen kurvt man in den Dschungel hinunter – vorbei an Lamas. Fruchtig grün und warm ist es in den Yungas. Wo Affen, Papageien und große Sommervögel leben, wo in der hügeligen Landschaft da und dort Kokaplantagen zu sehen sind. Auf dem Weg hin erzählen die Menschen bereits vom König, er sei schon alt und mürrisch, sagen sie.

In Mururata gibts kein Café, kein Restaurant, keine Unterkunft. Das 400-Seelen-Dorf wirkt unbelebt, desolat. Die meisten Häuser verfügen bis heute über kein Klo. Das Gemeinschaftsbad befindet sich auf dem Dorfplatz, neben der Kirche, neben ein paar kaputten Sitzbänken.

 

Mururata: Das türkisfarbene Eckhaus ist das Reich von Julio Pinedo. / cal


Als die Spanier Südamerika vor über 500 Jahren überrannten und seine Bewohner niederdrückten, freuten sich die Eroberer offensichtlich besonders über die Naturschätze, die sie entdeckten. Gold und Silber, in Unmengen. Die Gier war geweckt. Und damit die Bereitschaft, den Kontinent und die Ureinwohner auszubeuten. Die Spanier zwangen erst die indigene Bevölkerung in die Minen Boliviens. Diese schufteten die glitzernden Rohstoffe aus den Bergstollen heraus, unter unmenschlichsten Bedingungen. Die Aymaras und Quechuas starben reihenweise. An Staub, Kälte, Hunger und Misshandlungen. Was nun? Den Spaniern kam die Idee, neue Arbeitskräfte in Afrika zu beschaffen. An der afrikanischen Westküste trieben sie die eingefangenen Frauen und Männer auf die Schiffe, fuhren sie über den Atlantik, beförderten sie auf dem südamerikanischen Kontinent von den Häfen zu den Minen.

«Guten Abend, sind Sie der König?» Der Mann in Karo-Hemd hebt müde seinen Kopf. Über den Besucher nicht besonders erfreut, nickt er und brummelt ein «Buenas noches» – Guten Abend. Hinter ihm sitzt Königin Angélica, auf der untersten Stufe der Treppe, die nach oben in die Einzimmerwohnung führt. «Hätten Sie Zeit für ein Gespräch, etwa morgen?» Julio der Erste zögert mit der Antwort, denkt nach. «Nein, ich habe keine Zeit, morgen muss ich arbeiten», sagt er mit einer brüchigen Stimme. Stille im Raum. Lediglich das Rascheln des Beutels ist zu hören, den seine Frau in der Hand hält. Daraus entnimmt sie von Zeit zu Zeit Kokablätter, die sie in den Mund steckt und kaut. Die Königin ist in einem weiten kaskadenähnlichen Rock gekleidet, die in den Anden von den indigenen Frauen getragen werden. Über all die Jahre hat sich die afrikanische und indigene Kultur in Bolivien vermischt.

In der riesigen Silbermine Cerro Rico in Potosí hoch oben in den Anden, hielten es die Afrikaner noch weniger aus als die Indigenas. Die Sklaven, die aus tropischen Regionen Afrikas kamen, erlitten einen klimatischen Schock. Auch sie verstarben rasch. Das kümmerte die Spanier wenig: Nachschub aus Afrika gab es immer – mehr als 200 Jahre. Erst um 1820 fuhren die letzten Schiffe beladen mit afrikanischer Menschenware über den Atlantik. Auf einem dieser Schiffe soll Prinz Uchicho verfrachtet worden sein. Auch er krüppelte sich erst in der Mine von Potosí ab.

Mit der Zeit fingen die Sklaventreiber an, die Afrikaner an Großgrundbesitzer in wärmeren Gebieten Boliviens zu verkaufen, um die Arbeitskräfte länger einzusetzen. Vorwiegend in die Regionen Santa Cruz, Sucre, Cochabamba und eben in die Yungas. Auf den Feldern ernteten die Sklaven Zitrusfrüchte, Kaffee, Mais und Kokablätter.

Die Geschichte erzählt, dass niemand wusste, dass Uchicho aus königlichem Hause stammte. Eines Tages habe er sich in einem Fluss in den Yungas gebadet. Auf seinem entblößten Rücken waren tätowierte Symbole und Figuren zu sehen. Sogleich erkannten die anderen Sklaven die Zeichnungen, die nur ein Sohn aus afrikanischem Königshaus haben konnte. 1832 krönte ihn die Sklavengemeinschaft zu ihrem König. Dazu schickte Uchichos Vater kurz vor seinem Ableben sogar Krone und Schärpe nach Bolivien. So wurde das afrikanische Königreich in Südamerika weitergeführt – bis heute.

«Oder haben Sie übermorgen Zeit?» Julio der Erste schaut seine Frau an, fragt: «Wann kommt der Arzt ins Dorf?» Königin Angélica erhebt sich, altersbedingt langsam und geduckt, und sucht einen Zettel, den man ihr ausgehändigt hatte. Nun beginnt auch der König zwischen Papieren auf dem Tisch zu wühlen. Endlich gefunden beleuchtet er ihn mit einer Taschenlampe. Im Laden ist es schummerig. «Ah, Donnerstag», sagt er schließlich. «Donnerstag geht also auch nicht.» Setzt sich wieder. Schweigt erneut.

«Sind Sie müde davon, Interviews zu geben?». Der 78-Jährige schaut überrascht auf, überlegt, antwortet einsilbig: «Ja.» Unerwartet lächelt er, zeigt dabei seine Zähne. In der unteren Reihe fehlen beinahe alle. «Die Interviews sind am Ende immer lange», sagt er und fügt lakonisch an, «das beeinträchtigt mein Leben und meine Arbeit.»

In Bolivien wurde 1826 die Sklaverei abgeschafft. Die neue Verfassung befreite jedoch die afrikanischen Sklaven nur de facto. Denn sie durften die Ländereien ihrer bisherigen Besitzer nicht verlassen. Also arbeiteten sie weiterhin ohne Entgelt, erhielten Kost und Logie. Sie übernahmen die Nachnamen ihrer Herren, da sie offiziell keine eigenen besaßen. Uchicho nahm den Namen seines Herrn Pinedo an.

Nach Uchicho folgte ihm sein Sohn Bonifacio Pinedo auf den Thron, der bis 1954 über das Königreich in Bolivien regierte. Danach war der Thron eine lange Zeit unbesetzt, da Bonifacio nur Töchter auf die Welt gebracht hatte. Erst als ein männliches Enkelkind geboren wurde, kamen die Afrobolivianer wieder zu ihrer Majestät. Zu Julio Pinedo. Er, der heutige. Von der afrobolivianischen Gemeinschaft wurde er 1992 zum Oberhaupt gekrönt.

«Don Julio», wie ihn die Leute hier nennen, ist in Mururata auf die Welt gekommen. Er arbeitet, seit er denken kann, auf seinen zwei Plantagen, die unweit vom Dorf liegen. Acht Stunden pro Tag. Er kultiviert vor allem Kokapflanzen. Mit den Einnahmen der Ernte und des Ladens kann sich das Königspaar, das seit über 50 Jahren verheiratet ist, ein sehr einfaches Leben ermöglichen.

«Setzen Sie sich doch hin und stellen Sie mir die Fragen jetzt», sagt der König plötzlich. Gleich hinter Don Julio sind an der Wand zwei Jahreskalender angeheftet, mit Fotos von wichtigen Persönlichkeiten aus Bolivien. Darauf glänzt auch er, im Königsgewand. Neben den Kalendern hängt eine Urkunde, die ihm der bolivianische Staat 2007 ausgehändigt hatte. Seither ist er im Land offiziell als König anerkannt.

«Hadern Sie mit Ihrem Schicksal, König zu sein?» Er tut es. Zweifelsohne. Zumal die zwei Welten – die des einfachen Campesinos und die des auf Händen getragenen Königs in Schärpe – auseinander klaffen. Seine Stellung ist vor allem symbolisch, hat ihm finanziell kein besseres Leben beschert. Und politisch gesehen hat er keinen Einfluss. «Meine Aufgabe ist es, die traditionelle Kultur der Afrobolivianer zu bewahren, sie den jüngeren Generationen weiterzuvermitteln», umgeht er erst die Frage. Dann räumt er ein, dass ihm eigentlich die Zeit zum König sein fehle. «So wie jetzt.» Und lacht.

 

Wenn Dorffest ist, ziehen die Afrobolivianer ihre traditionelle Kleidung an. / cal


Die Leute in den Afro-Dörfern erzählen, dass Don Julio schon als kleiner Junge introvertiert war. Obwohl sie auf ihn stolz sind, beklagen sie, dass er seine repräsentative Rolle als König nicht wahrnimmt, wie sie es sich wünschten. Oft würde er bei offiziellen Akten nicht erscheinen oder Interviews verweigern.

Die tatsächliche Abschaffung der Sklaverei, sagen viele Bolivianer, kam erst mit der Revolution und der damit verbundenen Agrarreform 1952. Ländereien wurden neu verteilt, auch an die ehemaligen Sklaven, und die Leibeigenschaft verboten. Trotz aller Besserungen gehört der größte Teil der Afrobolivianer heute noch zur armen und marginalisierten Bevölkerungsschicht. Dies gilt auch für die Nachkommen von Sklaven in anderen lateinamerikanischen Ländern. Ebenso Afrochilenen, Afrouruguayer oder Afroargentinier haben schlechteren Zugang etwa zu Bildung oder gut bezahlten Jobs.

Don Julio weiß nicht genau, woher er stammt. «Welches Land war es?», sagt er zu seiner Frau. «Kongo», antwortet sie. Unsicher fügt sie an: «Oder war es Senegal? Die Königsfamilie hat sich einigen DNA-Tests unterzogen. Auf der Internetseite des Königshauses wird als Ursprungsland nach wie vor Senegal angegeben. Am Ende konnten die Tests lediglich ein Gebiet in Afrika festlegen, das mehrere Länder einschließt. Mit einer bolivianischen Dokumentarfilmerin war das Paar 2016 erstmals in ihrem Leben nach Afrika gereist. Wohin? Das Königspaar ist wieder überfragt. «War es Kongo?», sagt Doña Angélica. «Auf jeden Fall haben wir keine Verwandten mehr gefunden.»

Unter der Regierung des indigenen Präsidenten Evo Morales (2005-2019) hat sich die Situation der rund 25´000 afrikanischstämmigen Bürger merklich verbessert. Seit der neuen Verfassung 2009 gelten die Afrobolivianer als eine der 36 anerkannten Nationen im «plurinationalen» Staat von Bolivien. Daraufhin wurden sie erstmals als Afros statistisch erfasst. Und seit 2010 sitzt mindestens ein Afro-Abgeordneter oder eine Afro-Senatorin im Parlament.

Die Nachfolge von Don Julio ist gesichert. Zwar haben er und Doña Angélica keine eigenen Kinder. Jedoch deren Großneffe, Rolando Pinedo, wurde in der Afrogemeinschaft bereits zum Prinzen ernannt. Zurzeit lebt und arbeitet der 25-Jährige in La Paz. Wann er den Thron besteigt, steht offen.

Fürs Foto kommt erstmals Hektik in den Laden. Königin Angélica schickt ihren Mann nach oben. Er soll bitte den schöneren Hut holen. Als die schwarze Melone sitzt, stellt sich die Königin neben Julio den Ersten – schaut altersabwesend in die Kamera. Er schaut ernst.

Draußen hupt ein Auto. Es ist eines der letzten öffentlichen Verkehrsmittel, das diesen Abend Mururata verlassen wird. Der König und die Königin verabschieden sich sichtlich erleichtert von der Besucherin und setzen sich wieder an ihre gewohnten Plätze. Er an den Tisch, sie auf die Treppenstufe.

Das Auto fährt zurück durch die Dunkelheit, Richtung La Paz. Durchs wildwuchernde Reich von Julio dem Ersten – dem König, der eigentlich kein König sein will.