Ein Zwischenruf, der eine Uni-Besetzung auslöst

Wie aus einer improvisierten Uni-Besetzung ein tagelanges Forum wird. Der Augenschein eines Studenten.

Dienstag, 17. Oktober, 18 Uhr: Rund 300 Studierende und Solidarische stehen auf der Grossen Schanze in Bern. Vor dem Hauptgebäude der Universität haben sie einen Kreis gebildet. «Studieren statt Ökonomisieren», steht auf einem ihrer Schilder und auf einem Transparent: «Die Uni brennt auch bei uns». Die Demonstration ist zu Ende, ein letzter Redner kündigt eine Besetzung der Aula für morgen an. Die Demonstranten klatschen, bis jemand ruft: «Heute, wir wollen heute in die Aula!» Der Redner stutzt – er habe grundsätzlich nichts dagegen, wolle aber nicht verantwortlich sein für diese spontane Besetzung, sagt er. Ein Raunen geht durch die Menge, jemand schreitet los, andere folgen. Binnen fünf Minuten ist die Aula im zweiten Stock besetzt.



Transparente werden aufgehängt, Mikrophone hergeschafft. Nun wird diskutiert, in welchem Rahmen die Besetzung weitergehen soll. Rasch wird klar, dass sie mehr als zwei Stunden dauert – ungefähr 30 Leute erklären sich bereit, in der Aula zu übernachten. «Aktionsgruppen» (AGs) werden gebildet: eine AG für die Sicherheit, die einen Uni-Eingang bewacht, damit keine Diebe die Gunst der Stunde nutzen und sich ins Gebäude einschleichen; ebenso bilden sich eine AG zum Inhalt, eine «Mobilisierungs-AG» und eine Kochgruppe, die später ein veganes Risotto servieren wird. Das Geld für die Zutaten nehmen sie aus der «Soli-Kasse» – jeder spendet soviel, wie er kann und will.



Später treffen sich die Gruppen im «Plenum». Die ungefähr 200 Leute haben verschiedene Ansichten. Die einen wollen konkrete Forderungen an die Universitätsleitung formulieren, die andern möchten die Aufmerksamkeit lieber auf allgemeine Missstände dieser Erde richten. Ein Konsens muss gefunden werden – die Diskussion dauert bis drei Uhr morgens.



Stimmungsbild statt Abstimmung


Zwei Tage später ist ein Communiqué formuliert, das sowohl allgemeine als auch konkrete Forderungen beinhaltet. Zum Beispiel: «Wir kämpfen gegen die Verschulung der Uni – Abschaffung der Präsenzpflicht». Der Protest richtet sich gegen die Ökonomisierung der Gesellschaft und der Universität, ausserdem wird mehr Demokratie in der Bildung gefordert. Das nehmen die Besetzer ernst, ihr Entscheidungsverfahren heisst Basisdemokratie: Alle Anwesenden entscheiden gemeinsam.



Am Donnerstagabend ist eine Diskussion über den Sinn und Unsinn der Besetzung des Vorlesungssaales im Gange. Tagsüber konnten nämlich einige Vorlesungen nicht abgehalten werden, deshalb hat der Rektor die Besetzer aufgefordert, den Raum zu wechseln. Manche finden diesen Vorschlag vernünftig, andere möchten die symbolträchtige Aula nicht hergeben. Das Mikrophon geht von Hand zu Hand, jede Meinung zählt. Abstimmungen gibt es keine – entweder findet sich ein Konsens oder die Diskussion wird vertagt. Dann werden wiederum kleinere Aktionsgruppen gebildet, die neue Vorschläge einbringen.



Sind die Leute im Plenum mit einem Vorschlag einverstanden, schwenken sie ihre Hände. Ein Moderator holt immer wieder solche «Stimmungsbilder» ein oder fragt: «Könnt ihr damit leben?» Ist jemand nicht einverstanden, ergreift er das Wort. Die Stimmung ist ruhig, nur selten wird ein übermüdeter Besetzer laut. Der Prozess ist langwierig, immer wieder werden andere Themen in den Raum geworfen. Auch über das weitere Programm wird diskutiert. Zum Schluss fragt der Moderator: «Hat jemand etwas dagegen?» Stille. «Toll», sagt er sichtlich erleichtert. Das Programm ist abgesegnet, zur Raumfrage hat sich aber kein Konsens gebildet.



«Basisdemokratie ist effizient»


Die Uni-Leitung hat den Besetzern mehrmals vorgeworfen, sie hätten keine konkreten Forderungen. «Die Leitung hat Mühe mit unserer Struktur. Behörden sind sich gewohnt, eine Ansprechperson vor sich zu haben, nicht ein ganzes Plenum», sagt Urs, ein Geschichtsstudent. Für heute hat ihm das Plenum das Mandat des Mediensprechers übertragen, das er nach «bestem Wissen und Gewissen» auszuführen hat. «Das Plenum ist das oberste, oder auch das unterste Gremium hier. Alle Anwesenden gehören dazu, auch Leute, die nicht studieren», sagt Laura, ebenfalls eine Geschichststudentin, die nicht mit ihrem richtigem Namen genannt werden möchte. Bei solch einem Souverän gehören lange Diskussionen dazu – im Gegensatz zum Welternährungsgipfel in Rom wird die Abschlusserklärung nicht vor dem Treffen verfasst. Da muss auch die Uni-Leitung etwas länger warten.



«Hinter den Forderungen steckt viel, man muss bedenken wie viele Leute daran mitgearbeitet haben», sagt Laura. Basisdemokratie sei anstrengend, fügt Urs an, zieht aber auf ein überraschendes Fazit: «Sie ist effizient. Vielleicht nicht in der Entscheidfindung, aber danach sind alle einigermassen einverstanden mit dem Ergebnis.» Rekurse seien nicht mehr nötig.



Noch sind viele Themen nicht diskutiert, die Improvisation geht weiter. An diesem Abend wird spontan ein Vortrag eines welschen Bauern über die Vertragswirtschaft von der Reitschule in die Universität verlegt. Auch tagsüber finden alternative Vorlesungen statt.



Die Besetzer haben sich in der Aula eingerichtet: Farbige Hängematten sind an der Galerie befestigt, auf der Bühne, wo sonst Professoren ihre Vorträge halten, stehen neben Laptops und Boxen ein Schlagzeug, eine Gitarre und ein Didgeridoo für Jamsessions. Politische Broschüren liegen auf einem Tisch, halbvolle Marmeladegläser auf einem anderen. «Am morgen sind jeweils sogar die Schnittchen gestrichen», sagt Laura, «das ist kein Witz!» Wie lange die Besetzung andauern wird, weiss niemand; das muss erst noch ausdiskutiert werden.



Kritik und Forderungen der StudentInnen: http://www.unsereuni.ch/bern/warum-besetzen-wir-unsere-aula/#comments


29. November 2009
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