Ich bin ein Alien

Drin sein, aber auch draussen, beides zugleich, wie soll das gehen? Es geht, und es hilft. Sich zu identifizieren und einen Standpunkt einzunehmen, ist nicht aller spirituellen Laster Anfang. Wer jedoch nur mit der eigenen Position identifiziert ist, ist verloren.

Symbolfoto: Cottonbro Studio (Pixels)

Ich sitze vor dem Sarg meiner Ex auf ihrer Beerdigung in der Aussegnungshalle eines katholischen Friedhofs. Neben mir unser 13-jähriger Sohn, der bisher von ihr aufgezogen wurde. Er kuschelt sich an mich und hat feuchte Augen. Vor ein paar Tagen noch war sie am Leben, nun liegt ihr toter Körper reglos in diesem Sarg. 

Es ist endgültig aus mit dem, was gerade noch an Leben war, und ich muss hemmungslos weinen. Sollte ich inmitten all dieser Förmlichkeiten nicht besser die Façon waren? Ich könnte es, aber ich will nicht. Trotz der schwarz gekleideten Verwandten hinter uns, die vielleicht auch nasse Augen haben, ihre Gefühle aber nicht zeigen, will ich mich in diesem Moment des Abschieds nicht zurückhalten. Abschied von einem Körper, den ich nicht nur geliebt, sondern auch begehrt habe – wie hätte sonst dieses Kind neben mir entstehen können?

Weinen tut so gut. Es ist wie ein warmer Sommerregen, nach dem das trockene Land sich gesehnt hat. Manchmal ist auch heftiges Schluchzen genau das Richtige, dann lasse ich dem Wasserfall meiner Gefühle seinen Lauf, sie dürfen sich den nun selbst wählen – begradigte Flüsse mit Staumauern und Schleusen sind nicht so mein Ding.

Hinter uns die Verwandten der Verstorbenen. Sie werden sich gefragt haben, wie ein in Meditation erfahrener Ex-Mönch aus dem Buddhismus sich so hemmungslos gehen lassen kann. Er kann, und er kann auch wieder damit aufhören. Als wir eine halbe Stunde später am Grab stehen und jeder von uns ein bisschen Erde auf ihren Körper geworfen hat, der da nun tief unten in der Erde lag, verdeckt nur vom Holz des Sargs, verstanden sie es. Auch wenn die Verstorbene mich nicht immer gut behandelt hat – wer tut das schon – ist sie nun tot, und wir Überlebenden müssen weitermachen –und machen weiter, jede auf ihre Weise.

Nein, ich will nicht ich wie Jesus oder Wilhelm Reich am Kreuz des Unvermeidbaren sterben.

Das Weinen hatte mich erleichtert und gelöst. Ich fühlte mich geradezu frei, fast bittersüss froh und konnte so nun besser für Kommunikation sorgen unter denen, die da jetzt bedröppelt ums Grab standen und nicht so recht wussten, wie sie sich verhalten sollten. Die Tanten, Cousins und Cousinen meines Kindes; eine Familie, die mir in mancher Hinsicht fremd war und ich ihnen. Sie kannten mich fast nur aus den Erzählungen meiner Ex, und was die erzählt hatte, konnte ich nur ahnen. 

Wieder so eine Situation, wo ich mich als ein Alien unter den Menschen empfand: Ich gehöre dazu und irgendwie doch nicht. Vielleicht so wie E.T. in Spielbergs Film von 1982, der da irgendwann sagt: «Ich will nach Hause». Ich bin dabei, mitten im Geschehen, in meinen Gefühlen und hellwach. Und dabei doch auch draussen, ein Beobachter, der sich hier fühlt, als sei er von einem anderen Stern.

In Oberbayern aufgewachsen, hatte ich mich als Kind von »Zuagroasten« dort oft fremd gefühlt. Marcus Rosenmüllers witziger Spielfilm «Sommer in Orange» zeigt den Culture Clash, den ich als Kind und später auch als Sannyasin am eigenen Leib erlebt habe. Rosis Satire – Rosenmüllers Spitzname ist «Rosi», und alle duzen ihn – zeigt bei all der Schonungslosigkeit seines Spottes doch auch die Tiefe der Zerrissenheit der Kinder dieser in orange Gekleideten. Es ist die aller grossen und kleinen Kinder in allen Kulturen der Welt: Wohin gehöre ich? Wer bin ich eigentlich? Wo ist meine Heimat? Wir alle haben neben unserer Sehnsucht nach Grenzenlosigkeit auch das Bedürfnis uns zu verorten und zu beheimaten.

Wenn ich heute im ganz normalen Alltag an den diversen sozialen Inszenierungen teilnehme oder auch sie selbst mitgestalte, hilft mir das, was ich seit meiner Studentenzeit den sympathisierenden Ethnologenblick nenne: Was machen die denn da, die Eingeborenen dieser Kultur? 

Dann bin ich mit meinem Bewusstsein ein bisschen draussen. Ich bin identifiziert – das bin ich ja immer, mit irgendwas – aber auch ein bisschen draussen. Und auch an der Persona des Draussenseins darf ich nicht kleben. Alle Ethnologen und Dokumentarfilmer kennen das: Der Beobachter beeinflusst das Beobachtete. Subjekt und Objekt lassen sich nicht trennen, dazu brauchen wir noch nicht einmal so zu tun, als würden wir die Quantenphysik verstehen.

Dieses Draussen-Sein hilft mir auch, wenn ich heute in Diskussionen um die Pandemiefolgen oder den Ukrainekrieg gerate. Ich habe diesbezüglich eine Position, so klar und standfest es eben geht. Aber ich bin nicht besessen von dieser Position. Idealerweise besitze ich sie, statt von ihr besessen zu sein, und kann sie auch wechseln. 

So bin ich dann auch ein bisschen draussen; bin ein Alien des jeweiligen, den Zeitgeist bestimmenden Konfliktes. Mit einem Bein stehe ich im «Transnarrativen», so nenne ich dieses Draussen-Sein im Raum hinter den Erzählungen. Es ist der Raum der Leinwand, auf der wir als Figuren auftreten und von dort auch wieder verschwinden. Das Drehbuch für diese Auftritte sind die Geschichten, die wir uns selbst und unseren Mitmenschen erzählen.

Ein bisschen draussen zu sein, hilft bei der Lösung von Konflikten. Privater wie politischer Frieden ist sogar nur dann möglich, wenn wir uns auch ein bisschen ausserhalb der Geschichten befinden, die uns definieren und mit denen wir Recht haben wollen. Das Leben, so wie es ist, könnte ich gar nicht ertragen, ohne mit einem Teil meiner Identität draussen zu sein – ohne ein Niemand zu sein hinter dem jeweiligen Jemand meines Alltags.

Um bei Begegnungen mit Behörden nicht zu verzweifeln, nehme ich deren Anforderung als Koan. Mit einem kleinen Schubs über die Schwelle gelingt mir dabei sogar Dankbarkeit für die Erinnerung, dass wir in Absurdistan leben. In einer Welt voller Pharisäer und Mitläufer, zuweilen verfolgt von der emotionalen Pest der Frustrierten. 

Nein, ich will nicht ich wie Jesus oder Wilhelm Reich am Kreuz des Unvermeidbaren sterben. Dann schon lieber ein Freitod à la Camus oder mit Buddha ins Nirwana abschweben, das doch schon jetzt da ist, mitten unter uns.

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