Der rote Löwe ­– und die Alchemie von Liebe und Macht (Teil 4)

Das Weltgeschehen beruht auf den Gesetzen von Polarität und Dauer. In Polarität verläuft das Leben innerhalb der physischen Welt. Dauer, man kann es auch Sein nennen, ist zugleich Weg und Ziel der menschlichen, sprich seiner geistigen Evolutionsgeschichte. Jeder Mensch ist durch seine Intentionen und Handlungen mitverantwortlich für die fördernden oder hemmenden Kräfte, die die Ereignisse und Zyklen unserer Welt bestimmen – das ist das offenbare Geheimnis der menschlichen Freiheit. Aus der Serie «Nachrichten aus der Welt von morgen» von Andreas Beers. Teil 4 dieser Geschichte.

© Foto: Mia Leu

«Aufwachen du Narr … , du bist nicht tot!», und weiter, «nicht die Frage, was ist Gut und was Böse, sondern welches Denken, Fühlen und Handeln ist förderlich oder hemmend für das Leben hier auf Erden. Die typisch menschliche Frage nach Gut oder Böse ist reine Ablenkung, nichts anderes. Sie ist eine Ausgeburt unseres Egos, die mit dem Intellekt als Waffe den grössten Spaltpilz geschaffen hat, den es jemals innerhalb der Menschheitsgeschichte gab», sagt die eigentümliche Erscheinung, die zusammengekauert neben Milòsch sitzt. Als dieser endlich aus seinem wirren Traum erwacht, riecht er den harzig-rauchigen Geruch von Feuer. Als er seine Augen aufschlägt, bemerkte er sofort die dicht neben ihm sitzende, eingehüllte Gestalt. «Guten Morgen Milòsch!», sagt eine weibliche, etwas dunkel klingende Stimme, «der bist du doch, nicht wahr?» Und Milòsch erkennt sie augenblicklich wieder.

Auf weiter Flur in der ungarischen Tiefebene. Ende September im Jahre 2197, wenige Minuten vor Milòschs Erwachen. Der aufkommende kühle Wind liess die Glut im Lagerfeuer rotleuchtend auflodern. Die hohen Steppengräser in der Ebene unterhalb des Waldes wogten wie ein Fell in leichten Wellen hin und her. Ein silberheller Reif hielt das aschfahle Leuchten des Mondes. Nur er und das Sternenlicht erhellten schwach das weite Land. In dieser frühen Morgenstunde bildete sich feiner Tau an Halm und Blatt. Aus der Dunkelheit des Waldes hallte hin und wieder der Ruf eines Käuzchens. Die knorrigen Äste der alten Eiche am Waldrand zeigten wie knotige Finger weit hinaus ins freie Land. Nahe an ihrem Stamm, unweit der aufglimmenden Glut, lag Milòsch unter einem ausgebreiteten Mantel, in tiefem Schlaf. Neben ihm sass eine in einen hellen Wollumhang gänzlich eingehüllte Gestalt.

Milòschs Traum vom roten Löwen. Die griechische Götterwelt im hohen Kreuztonnengewölbe hat sich in eine unheimlich bewegende Kulisse verwandelt. Hervorgerufen durch das oszillierende, in den Kristallleuchtern reflektierende Licht unzähliger Kerzen. Diese standen auf vielen kleinen Tischen und in den Fensternischen des Caféhauses Gerbeaud. Milòsch blickt von einer Empore hinunter in das bewegte Treiben im Saal. Er fühlte sich, als stünde er im Innern eines riesigen Bienenstocks, an einem ersten warmen Frühlingstag. Ein Kommen und Gehen an den voll besetzten Tischen – ein Brummen und Summen der Stimmen, ein feines Klirren und Klingen von Tässchen, Löffelchen, Tellerchen und Gläsern. Wie emsige Bienen zu den Waben, schwirren die dunkelrot gekleideten Kellner über das bunte Mosaik zu den weissgedeckten Tischchen und fütterten die Brut mit süsser Speise.

Und da plötzlich tauchte sie auf, diese sonderbare Gestalt! Eine starke Faszination und Anziehung erfassten ihn augenblicklich. Eine schlanke, mittelgrosse, sich kraftvoll und doch weich bewegende Gestalt. Gekleidet in ein dunkelgrünes, mit feinen Goldfäden durchwirktes und bis über die Knie reichendes Gewand. Um die Taille eine scharlachrote, breite Scherpe. Darunter sah man an Brust und Handgelenken ein weiss leuchtendes, an den Rändern gerafftes Hemd. Die fast bis zu den Knien reichenden, dunkelbraunen Stiefel, lassen die schwarzen Beinkleider gerade noch erkennen. Das schwarze, säuberlich nach links und rechts wie ein Vorhang gekämmte Haar, umrahmt das feingeschnittene, bartlose Gesicht. Matt glänzt das Kerzenlicht im leicht dunklen Teint. Der scharlachrote Fes mit schwarzgolden geflochtener Kordel als Kopfbedeckung lässt Milòsch vermuten, dass dieser Mensch, wie viele hier in Budapest, aus dem östlichen Teil des Osmanischen Reiches stammt. Er kann jedoch beim besten Willen nicht erkennen, ob es eine Frau oder ein Mann ist.

Er folgt ihr hinaus in die Dunkelheit der Nacht. Nur kurze Zeit verweilt die Gestalt an der langen, mit Messing beschlagenen Theke und lässt sich dort in einem silbernen Kännchen Tee servieren. Nach wenigen Minuten verlässt sie plötzlich, sich geschickt zwischen den Kellnern und den kleinen Tischen hindurchbewegend, das Caféhaus über eine Seitentüre. Ohne nachzudenken, stürmt Milòsch über die schmale Treppe der Empore hinunter, der Gestalt nacheilend. Mit einem Satz springt Milòsch in die Mauernische, als die Gestalt wenige Meter vor ihm sich plötzlich umdrehend, in die vom Caféhaus schwach beleuchtete Gasse blickt. Milòsch Wangen glühen als hätte er Fiber, sein Herz pocht wild. Als er vorsichtig um die Ecke späht, sieht er gerade noch wie die Gestalt seitlich, wie im Boden versinkend, in einem Kellerabgang verschwindet.

Dort angelangt, lauscht er ein paar Sekunden an der schräg liegenden, schweren Holztüre. Er hört die sich in der Tiefe verlierenden Schritte. Langsam zieht er einen der Türflügel auf und schlüpft hindurch. Ein muffiger, kalter Geruch schlägt ihm entgegen. Verwundert nimmt er darin den leicht rauchig-würzigen Geruch von Feuer wahr. Über mehrere steil nach unten führenden Wendeltreppen folgte er dem Geräusch der Schritte. Plötzlich bemerkt er, dass sich in den rauchig riechenden Luftzug, ein warmer, bitter Duft beigemengt hat. Im selben Moment wird es heller und er sieht flackernden Lichtschein auf den untersten Stufen, hingeworfen durch den schmalen Spalt der leicht geöffneten rundbogigen Tür … – er hört zischende Geräusche und leises Klirren.

Milòsch nähert sich der Tür und lauscht angespannt … Das leise, gleichmässig zischende Geräusch, wird jäh durch einen kurzen Aufschrei unterbrochen … Es folgt ein dumpfer Schlag, als wäre ein Mensch zu Boden gestürzt – dann für Minuten unheimliche Stille. Milòsch drängt es, die Türe sacht aufzuschieben, hält jedoch innen, als er erst das Geräusch leicht zusammenschlagender Gefässe hört, dann das helle Gluckern einer Flüssigkeit – wiederum Stille ... Nach einer, ihm unendlich lange vorkommenden Zeit, hört er ein mit unverständlichen Worten durchsetztes Stöhnen … , dann ein schabendes Geräusch, ein leichter matter Schlag und das Klirren eines zerspringenden Gefässes … , wieder ein leises Stöhnen … Stille.

Milòsch wird förmlich durch die Türe in den dahinterliegenden Raum hineingezogen. Was er sieht, ist ein Wirrwarr umherstehender Gefässe aus Ton, Kupfer und ein Glastiegel über kleinem Feuer. An den Wänden brennende Fackeln. Bücher und Papierrollen, zwischen dunklen sechskantigen Glasbehältern, stehen und liegen auf den in der Dunkelheit des Gewölbes verschwindenden hohen Regalen. Nur flüchtig bemerkt er zu seiner Rechten vor dem Wandregal liegend, einen Alten mit weissem, wirrem Haarschopf. Für einen Moment sieht er den im Fackelschein aufblitzenden Messerstahl in seinem Rücken.

Die Gestalt im grünen Gewand sitzt regungslos und vorneübergesunken an einem grossen Steintisch. Ihr Kopf liegt, als wäre sie eingeschlafen, mit der linken Gesichtshälfte ruhend auf dem ausgestreckten Arm. Der scharlachrote Fes liegt zwei Ellen entfernt, wohl vom Kopf gerollt, zwischen Kerzenstummel, Glastiegel und verstreut liegenden Papierrollen. Auf dem Boden neben dem Stuhl, im Schatten des Tisches, ein zerbrochenes Gefäss. Milòsch erkennt darin die Bruchstücke eines Löwenkopfs. Wie im eigenen Blut liegt er in einer dunkelblau schimmernden Pfütze. Langsam und mit bangem Herzen nähert er sich der Gestalt. Er beugte sich nahe an das mit glänzendem schwarzem Haar fast gänzlich bedeckte Gesicht. Durch das leicht geöffnete Augenlied sieht Milòsch in die dunkelgrün schimmernde Iris. In ihr glimmt noch ein letzter, schwacher Funken Leben auf.

Liebevoll umfasst er den Hinterkopf und legt sein Ohr dicht an den Mund des Sterbenden. Mit den letzten Atemzügen strömt ein unendlich leises Flüstern über die unbeweglichen Lippen: «Ich wollte das ewige Leben … , das Irren zwischen Gut und Böse beenden … Habe alles gewusst und alles gesehen … Habe die Atome … , die Totengebeine der Materie gefunden … und dabei das Leben … , die Liebe verloren … «Aufwachen, du Narr …,  du bist nicht tot!», hört Milòsch eine Stimme sagen … , es war nicht seine eigene…

Fortsetzung folgt am 22. April

  

«Denn ihr schaut ruhig zu, wie die Leute grundschlecht erzogen und von zarter Jugend an sittlich verwahrlost aufwachsen, um sie dann erst zu strafen, wenn sie als Männer die Untaten verübt haben, auf die ihr seit ihren jungen Jahren dauernd rechnen konntet. Was aber, frage ich euch, heißt das anderes, als sie zu Räubern erziehen? Und dann geht ihr hin und henkt sie?» (Aus dem Roman Utopia von Thomas Morus, geboren wahrscheinlich 7. Februar 1478 in London; gestorben 6. Juli 1535 ebenda). Er war ein englischer Staatsmann (Lordkanzler unter König Heinrich VIII. 1529–1532) und humanistischer Autor der Renaissance.)

 

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Andreas Beers aus Bern ist Landwirt, Arbeitsagoge und Lehrer. Er kultiviert die Erde, sät und erntet, er denkt, spricht und schreibt über: Mensch, Erde und Himmel, oder was wir zum Leben brauchen.