Die neue Welt erscheint vor uns

Es ist ein Moment, den es nur ein- oder zweimal im Jahrhundert gibt: Eine neue Weltordnung zeichnet sich ab. Die offiziellen Erklärungen und Interpretationen von Journalisten entsprechen eindeutig nicht mehr den Ereignissen, die sich abspielen. Die Kommentatoren müssen ihren Diskurs so schnell wie möglich ändern, oder sie werden vom Wirbel der Geschichte verschlungen.

Globus steht in einem Raum vor unscharfem Hintergrund mit Lampen
Welt im Übergang. (Bild: Kyle Glenn on Unsplash)

Im Februar 1943 markierte der sowjetische Sieg über das Nazireich den Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs. Die folgenden Ereignisse waren unvermeidlich. Doch man musste noch auf die anglo-amerikanische Landung in der Normandie (Juni 1944) warten, auf die Jalta-Konferenz (Februar 1945), den Selbstmord von Kanzler Hitler (April 1945) und schließlich auf die Kapitulation des 3. Reiches (8. Mai 1945), um diese neue Welt entstehen zu sehen. In einem Jahr (Juni 44 bis Mai 45) war das Dritte Reich durch das sowjetisch-amerikanische Duopol ersetzt worden. Das Vereinigte Königreich und Frankreich, die zwölf Jahre zuvor noch die beiden ersten Weltmächte waren, wurden Zeugen der Entkolonialisierung ihrer Imperien.

Es ist ein Moment wie dieser, den wir heute erleben.

Jede historische Periode hat ihr eigenes Wirtschaftssystem und baut einen politischen Überbau auf, um es zu schützen. Am Ende des Kalten Krieges und der Auflösung der UdSSR demobilisierte Präsident Bush Sr. eine Million US-Soldaten und vertraute die Suche nach Wohlstand den Bossen der multinationalen Konzerne an. Diese verbündeten sich mit Deng Xiaoping und verlegten die US-Arbeitsplätze nach China, das zur Werkstatt der Welt wurde. Weit davon entfernt, den US-Bürgern damit Wohlstand zu bieten, heimsten sie ihre Gewinne ein und verursachten allmählich das langsame Verschwinden der westlichen Mittelschicht. Im Jahr 2001 finanzierten sie die Anschläge vom 11. September, um dem Pentagon die Rumsfeld/Cebrowski-Strategie der Zerstörung der staatlichen Strukturen aufzuzwingen. Präsident Bush Jr. verwandelte dann den «Erweiterten Nahen Osten» in den Schauplatz eines «endlosen Krieges».

Die Befreiung eines Viertels des syrischen Territoriums innerhalb einer Woche ist nicht nur der Sieg von Präsident Baschar al-Assad, «der Mann, der seit acht Jahren gehen muss», sie markiert das Scheitern der militärischen Strategie, deren Ziel die Vorherrschaft des Finanz-Kapitalismus war. Was unvorstellbar schien, geschah. Die Weltordnung hat sich vollkommen gewendet. Die weitere Folge der Ereignisse ist unausweichlich. Der sehr feierliche, pompöse Empfang von Präsident Wladimir Putin in Saudi-Arabien und in den Vereinigten Arabischen Emiraten zeugt von der dramatischen Wende der Golfmächte, die nun in das russische Lager umschwenken.

Die ebenso spektakuläre Umverteilung der Karten im Libanon bestraft das gleiche politische Versagen des Finanzkapitalismus. In einem Dollarland, in dem es seit einem Monat keine Dollars mehr gibt, wo Banken ihre Geldautomaten schließen und Bankabhebungen begrenzt sind, sind es nicht die Anti-Korruptions-Demonstrationen, die den Sturz der alten Ordnung aufhalten werden.

Die Krämpfe der alten Ordnung breiten sich aus. Ecuadors Präsident Lenin Moreno schreibt die Volksrevolte gegen die vom Finanzkapitalismus verhängten Maßnahmen seinem Vorgänger Rafael Correa zu, der im belgischen Exil lebt, und einem Symbol des Widerstands gegen diese Form der menschlichen Ausbeutung, dem venezolanischen Präsident Nicolas Maduro, obwohl sie beide keinen Einfluss in seinem Land haben.

Das Vereinigte Königreich hat bereits seine Spezialeinheiten aus Syrien abgezogen und versucht, aus dem supranationalen Staat Brüssel (Europäische Union) herauszukommen. Nachdem es gedacht hatte, den Gemeinsamen Markt (Theresa Mays Projekt) beizubehalten, beschloss es, mit dem gesamten europäischen Konstrukt (Boris Johnsons Projekt) zu brechen. Nach den Fehlern von Nicolas Sarkozy, von François Hollande und Emmanuel Macron verliert Frankreich plötzlich jegliche Glaubwürdigkeit und jeglichen Einfluss. Donald Trumps Vereinigte Staaten hören auf, die «unverzichtbare Nation» zu sein, der «Polizist der Welt» im Dienst des Finanzkapitalismus, um selbst wieder zu einer großen Wirtschaftsmacht zu werden. Die USA ziehen ihr Atomwaffenarsenal aus der Türkei ab und bereiten sich auf die Schließung des CentCom in Katar vor. Russland wird von allen als «Friedensstifter» anerkannt, indem es dem Völkerrecht zum Triumph verhilft, welches es durch die Einberufung der «Internationalen Friedenskonferenz» 1899 in Den Haag geschaffen hatte, und deren Grundsätze seitdem von den Mitgliedern der Nato mit Füssen getreten wurden.

So wie der Zweite Weltkrieg dem Völkerbund ein Ende setzte, um die UNO zu gründen, wird diese neue Welt wahrscheinlich eine neue internationale Organisation herbeiführen, die auf den Prinzipien der Konferenz des russischen Zaren Nikolaus II. von 1899 und des französischen Friedens-Nobelpreisträgers Léon Bourgeois beruht. Dafür muss zunächst die NATO aufgelöst werden, die durch ihre Expansion im Pazifik versuchen wird, zu überleben, und dann die Europäische Union, ein Unterschlupf des Finanzkapitalismus.

Man muss verstehen, was hier vor sich geht. Wir treten in eine Übergangsphase ein. Lenin sagte 1916, der Imperialismus sei die höchste Stufe des Kapitalismus, die aber mit den beiden Weltkriegen und der Börsenkrise von 1929 verschwand. Die Welt von heute ist die Welt des Finanzkapitalismus, welche Volkswirtschaften nach einander zum alleinigen Nutzen der wenigen Superreichen verwüstet. Seine höchste Stufe bestand darin, die Welt in zwei Teile zu spalten: auf der einen Seite stabile und globalisierte Länder, auf der anderen Seite Regionen der Welt, die staatenlos waren und zu bloßen Rohstoffreserven reduziert wurden. Dieses Modell, das sowohl von Präsident Trump in den Vereinigten Staaten, den Gelb-Westen in Westeuropa oder von Syrien in der Levante in Frage gestellt wird, stirbt vor unseren Augen.

–––––––––––––––––––––––––––––

Quelle: Réseau Voltaire

Übersetzung: Horst Frohlich
Korrekturlesen : Werner Leuthäusser