Es sind 84 lange Tage und Nächte. Eine Zeit von Trauer, Schmerz, Wut, Zorn, Verzweiflung und viele andere Gefühle, von denen ich nie wusste, dass ich sie empfinden kann. Seit jenem Samstag erhalte ich unzählige Solidaritätsschreiben aus der ganzen Welt. Die meisten fragen: «Wie kann ich dich, Aida, als Person und als Mitglied der palästinensischen Gesellschaft unterstützen?»

Aida Shibli
Aida Shibli

Ich möchte einige Gedanken mit euch teilen, einige direkte Hinweise auf tägliche authentische Wege der Unterstützung. Ich spreche als eine einzelne Palästinenserin – bin mir aber bewusst, dass ich nicht die Bedürfnisse anderer Menschen decken kann oder sie ignorieren will.

Ich spreche auch als eine einzelne Palästinenserin, die derzeit in Europa lebt und nicht direkt betroffen ist. Meine Familie und mein Stamm (Aida ist Beduinin, d.R.) leben grösstenteils in einem Teil Palästinas, wo sie im Moment sicher und relativ weit von der Süd- und Nordfront entfernt sind.

Dennoch sind die Gefühle der Gefahr, der Drohung, der Entmenschlichung und des Traumas trotz der Entfernung in mir und in ihnen präsent – trotz der relativen Sicherheit. 

Ich lebe in einer der weitentwickelsten Gemeinschaften – in Tamera, Portugal, an einem der besten Orte, die sich ein Mensch mit aktiven Schmerzen wünschen kann. Das Potenzial der gegenseitigen Unterstützung ist riesig. Ich schreibe diese Zeilen an meine eigene Gemeinschaft und auch an Menschen ausserhalb dieser Gemeinschaft.

Wagen Sie es, Kontakt aufzunehmen!

 

Wenn die Person zur Nation wird

Als Palästinenserin betrachte und fühle ich meinen eigenen Körper als eine Erweiterung des Landes Palästina. Wenn dieses Land und sein Volk bedroht sind, fühle ich mich trotz der Entfernung direkt bedroht. Sie können einen Weg finden, Palästina zu trösten, indem Sie den Palästinenser trösten, den Sie erreichen können. Suchen Sie nach einer palästinensischen Person oder Familie / Gemeinschaft in Ihrer Umgebung. Wagen Sie es, Kontakt aufzunehmen!

Ich kann mir vorstellen, dass man, wenn man sich selbst hilflos fühlt, dieser Person aus dem Weg zu gehen. Man würde auch gerne einfach ein normales Leben führen. Das tiefe Schuldgefühl, vor allem, wenn man Teil des so genannten globalen Nordens ist und weiss, dass die eigene Regierung diesen Völkermord aktiv unterstützt, ist nicht einfach auszuhalten.

Versuchen Sie sich jetzt vorzustellen, was diese palästinensische Person fühlt: Auch sie fühlt Hilflosigkeit und Schuldgefühle – weil man ausserhalb Palästinas so viel sicherer leben kann als dort.

Sie beide fühlen also dasselbe.

Eines der dringlichsten Themen, die Palästinenser in diesen Tagen zu vermitteln versuchen, ist, dass die Palästinafrage nicht nur ein palästinensisches Thema ist, sondern globale Wirkung und Bedeutung besitzt.

Trauma wird aktiviert

Im Falle der Palästinenser haben die Gräueltaten 75 Jahre lang nie aufgehört: Besatzung, militärische Kontrolle, Belagerung und Landraub, Entmenschlichung und ständiger Zwang. Wenn ein Krieg in diesem Ausmass wie in Gaza geführt wird, der nach allen internationalen Massstäben als Völkermord bezeichnet wird, wird dieses allgegenwärtige Trauma stark aktiviert.

Falls Sie mit einem palästinensischen Menschen zusammenleben, mit ihm befreundet sind, sie gerade kennengelernt haben: Dann empfehle ich Ihnen, präsent zu haben, dass das Trauma in dessen Körper lebt und aktiv ist.

Gehen Sie ihr nicht aus dem Weg. Versuchen Sie, trotz Ihres Schmerzes und der Hilflosigkeit, in Kontakt mit der Person zu gehen und sie direkt zu begrüssen. Anstatt unbeholfen «Guten Morgen, wie geht es Ihnen?» zu sagen, begrüssen Sie sie in ihrer ursprünglichen Sprache, z.B. mit Sabah Alkher, Marhaba, Salam aleikum.

Sagen Sie: «Ich weiss, dass du Schmerzen hast. Es tut mir leid für dich. Es tut mir leid für uns alle, dass die Situation so ist.»

Wenn Sie sich mit der Person körperlich wohlfühlen, nehmen Sie Körperkontakt auf, etwa in Form einer Umarmung oder eines Schulterkontakts. Bei grösserer Intimität bieten Sie eine Massage, ein Halten an oder was auch immer sich authentisch anfühlt.

Können Sie Ihre tiefe Solidarität authentisch herausarbeiten und zum Ausdruck bringen? Etwa indem Sie ihr zeigen, dass Sie Ihre eigene kollektive Mitschuld an diesem Krieg verstehen? Und indem Sie herausarbeiten, was Sie persönlich gegen diesen Krieg tun?

Eines der dringlichsten Themen, die Palästinenser in diesen Tagen zu vermitteln versuchen, ist, dass die Palästinafrage nicht nur ein palästinensisches Thema ist, sondern globale Wirkung und Bedeutung besitzt.

Wenn mein Volk so entmenschlicht werden kann, warum sollte ich darauf vertrauen, dass Sie mich als ganzes, heiliges Wesen sehen?

Über Wert und Menschlichkeit

Wenn Ihr Volk, Ihr Kollektiv, in einem solchen Ausmass getötet wird (im Durchschnitt wird alle 5 Minuten ein Palästinenser getötet!), kommen Sie zu verständlichen Zweifeln an Ihrem eigenen Wert und Ihrer Würde. Wenn mein Volk so entmenschlicht werden kann, warum sollte ich darauf vertrauen, dass Sie mich als ganzes, heiliges Wesen sehen?

Bemühen Sie sich besonders in solchen Momenten, Ihre Solidarität zu zeigen, indem Sie dem Palästinenser, der vor Ihnen steht, seinen wahren Wert in Ihren Augen vor Augen führen. Versuchen Sie, sich auf positive Dinge zu konzentrieren und ihn dazu zu bringen, wieder auf seinen eigenen Wert zu vertrauen.

 

Objektivität

Es gibt keine Logik oder Objektivität im Krieg. Man fügt dem Schaden mehr Schaden hinzu, wenn man einen Palästinenser in diesen Zeiten bittet, auch die andere Seite der Geschichte zu sehen. Was ist denn die andere Seite? Das ist das alte falsche Argument der Symmetrie.

Wenn es überhaupt zwei Narrative gibt, dann nicht das palästinensische gegenüber dem israelischen, sondern das für das Leben und das gegen das Leben. In jeder dieser beiden Seiten gibt es sowohl Israelis als auch Palästinenser.

Es ist leicht herauszufinden, welche Handlungen für das Leben sind und welche nicht. Sie können sich fragen, wie kann ich mich für das Leben einsetzen, anstatt Partei für eine Seite zu ergreifen. 

 

Trauer

Ich rufe alle, die sich mit kollektiver Trauer auskennen, dazu auf, Kreise zu bilden, wo auch immer sie sind. Tun Sie es für sich und für uns, nicht in erster Linie für diejenigen, die direkt betroffen sind. Trauern Sie darüber, dass wir kollektiv in der Lage sind, uns gegenseitig solche Grausamkeiten anzutun.

Geben Sie den Menschen, die gerade trauern, einen Raum, in dem sie ihre Gefühle ausdrücken können, in dem sie mit allen Gefühlen sein können, ohne dass Sie ihnen einen Sinn geben müssen.

 

Informationen

Wir wissen inzwischen, dass die meisten Mainstream-Medien diesen Völkermord unterstützen, ich fordere Sie auf, andere Informationsquellen zu suchen. Ich fordere Sie auf, aufrichtig zu fragen, wie es kommt, dass dieser Krieg von den kolonialen Regierungen des Kapitals so unterstützt wird, warum? Wem dient er?

Informieren Sie sich über gewaltfreien Widerstand. Hinterfragen Sie Ihr eigenes Verständnis und Ihre Legitimation für Gewaltanwendung. Tun Sie all das auch mit Israelis, mit denen Sie in Kontakt sind – im Wissen, dass das Trauma und der Schmerz auch in ihnen aktiviert ist.

Bringen Sie sich dazu, nur aus Liebe zu handeln. Fragen Sie, was würde die Liebe tun – und wie würde sie durch mich sprechen? Reife Liebe ist eine Kraft, die die Ihnen nahe stehenden Menschen zurückruft, damit sie aufhören, sich selbst und anderen zu schaden.

Eines Tages werden Sie zurückblicken und sich fragen, was habe ich angesichts eines solchen Völkermordes getan? Es ist die gleiche Frage, die wir uns oft stellen: Was würde ich tun, wenn ich in der Zeit der Sklaverei leben würde? Im Holocaust? 

Jeder von uns ist wichtig, Ihre Gedanken und Taten sind wichtig. Trauern Sie – und schöpfen Sie Hoffnung!


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