«Es ist, als hätte eine ganze Gesellschaft ihre Contenance verloren»

Fulminant analysiert Ulrike Guérot, Professorin für Europapolitik, den Zustand unserer Gesellschaft. Oder: Was Digitalisierung, Geschichtsvergessenheit und Manipulation mit dem Rattenfänger von Hameln zu tun haben.

«Es gibt kein Ende und keinen Anfang»: Professorin Guérot über digitale Verdummung. (Bild: sg)

Zeitpunkt: Es ist mir eine grosse Ehre, Frau Professor Ulrike Guérot, mit Ihnen ein Interview für den «Zeitpunkt» zu führen. Wie an Ihrem Auftritt bei «Linksbündig» in Zürich zu erfahren war, haben Sie derzeit einen vollen Terminkalender. Viele Foren bitten Sie um einen Auftritt, einen Vortrag oder ein Interview. Welche Hoffnung verknüpfen Sie mit dieser Präsenz auf vielen Kanälen?

Ulrike Guérot: Ich danke Ihnen für die Gelegenheit zu diesem Gespräch. Ob es wirklich so viele Termine sind (lacht)? Jedenfalls hier in Zürich waren darunter ja auch zwei Podcasts, die ich selber mache. Ich habe hier zwei Gespräche für mein European Citizens Radio geführt, eine Podcast-Serie meines kleinen Vereins, Democracy Lab e.V., dessen Motto ist «Shaping European Europe Beyond the EU», also ein Europa jenseits der EU denken. 

Aber ja, ich bekomme derzeit ziemlich viele Einladungen und ich bemerke, dass es in der Gesellschaft ein grosses Gesprächsbedürfnis über die letzten Jahre gibt. Ich bin - das kann man vielleicht dazu sagen und, es ist ja eigentlich bekannt - von der Universität Bonn entlassen worden. Ich warte jetzt auf die Gerichtsverhandlung vom 25. Oktober 2023. Bis dahin bin ich bezüglich der Aufnahme einer anderen Tätigkeit de facto blockiert. Indem ich derzeit Vorträge über meine beiden Bestseller-Bücher vom letzten Jahr mache, habe ich Gelegenheit, in verschiedene europapolitischen und gesellschaftliche Debatten hinein zu spüren. Das ist nicht nur interessant, sondern es hält mich in dieser Wartezeit auch intellektuell wach. Wir haben jetzt drei Jahre hinter uns, die durch das globale Pandemie-Geschehen und die Massnahmen eine ganz besondere Zäsur in der Weltgeschichte waren. Das war der erste weltweite Lockdown, in dem die Freiheit massiv eingeschränkt wurde. Es gibt ein grosses gesellschaftliches Bedürfnis, das aufzuarbeiten. 

Ich habe das Gefühl, im Moment – wir sprechen im Juni 2023  – geht der Diskurs-Raum wieder auf, die Gesellschaft wird wieder freier, wird wieder flüssig, wird wieder durchlässig. Ganz viele Leute wollen reden über das, was passiert ist. Und es gibt nach den dystopischen Jahren ein grosses Bedürfnis nach Utopien, nach politischen Konzepten, ein Nachdenken darüber, wie man Gesellschaft und Politik anders machen könnte. Da ich grundsätzlich neugierig bin, nehme ich gerne einige Vorträge an, weil mir das erlaubt, in verschiedenen Städten mit jeweils rund 300 Leuten zusammenzusitzen und interessante Diskussionen zu habe. Das ist intellektuell bereichernd und ermöglicht mir, einen guten Überblick über die derzeitige Erregung oder auch Polarisierung der Gesellschaft mit Blick auf das pandemische Geschehen oder auch das Kriegsgeschehen in der Ukraine zu bekommen, den beiden grossen aktuellen Themen.

Für mich als Politikwissenschaftlerin ist das natürlich interessant. Dann kann man hören, was stellen die Menschen für Fragen, was funktioniert, was funktioniert nicht? Wollen die Menschen über Europa reden oder über das Gesundheitssystem oder über die Digitalisierung? Ich nehme das alles auf, es inspiriert mich, darüber nachzudenken, wo wir jetzt eigentlich in der Zeit stehen, was die derzeitige gesellschaftliche Zäsur ist.

Hegen Sie die Hoffnung, dass Ihre Präsenz in einer stärker werdenden Gegenöffentlichkeit einwirkt auf die sogenannte «veröffentlichte Meinung», dass also der Druck der Gegenöffentlichkeit so gross wird, dass die Öffentlich-Rechtlichen Anstalten Sie auch wieder auftreten lassen müssen? 

Ja, diese Hoffnung habe ich und zum Teil passiert das ja schon. Es geht ja auch nicht um meine Person. Generell würde ich sagen, dass im Moment die Gegenöffentlichkeit doch übergreift in die leitmediale Öffentlichkeit. Gerade heute Morgen zum Beispiel war in der «Welt» ein Artikel von Elke Bodderas über das Übersterblichkeitsrätel seit Beginn der Impfung. Ich finde, man kann geradezu merken, wie das ganze Gebäude der Corona-Erzählung wackelt.

Die Gegenöffentlichkeit hat sehr viel dafür gearbeitet, um die offizielle Erzählung mit Daten und Fakten zu dekonstruieren, also darzulegen, dass fast alles mit Blick auf Masken, Lockdowns oder Impfung anders war, als es berichtet wurde. Es gibt ja schon die Wendehälse, wie etwa Eckart von Hirschhausen, der in der Corona-Krise dafür bezahlt wurde, etwas Positives zur Impfung zu sagen. Auf einmal sagt auch er: «Wir müssen die Impfung vielleicht etwas kritischer betrachten.» Er wie andere geben nun ein bisschen nach, wahrscheinlich, um später, wenn sich die Dinge vielleicht drehen, zu denen zu gehören, die es schon immer gewusst haben wollen.

Ich bin ganz sicher, dass diese anderen Argumente und Diskurse über Zeit in die breite Gesellschaft einsickern.

Empfinden Sie es so etwas wie Sehnsucht, wieder bei diesen Talkshows der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten mitzumachen? Oder was ist der Unterschied zwischen diesen Talkshows und den Podcasts in alternativen Medien?

Also, ich hatte nie, auch früher nicht Sehnsucht, in Talkshows zu sitzen. Ich habe nicht mit den Fingernägeln gekratzt, um etwa bei Anne Will oder Maybritt Illner zu sitzen. Aber ich habe mich gefreut, wenn man mich und meine Gedanken zu Europa hören wollte. Insofern war es kein Ziel, in Talkshows zu sitzen, sondern es hat sich so gefügt.

Ich weine dem also nicht hinterher, zum Beispiel bei Markus Lanz zu sitzen. Aber ich würde mich natürlich freuen, wieder da zu sitzen, weil ich denke, dass wir offene Debatten und kritische Stimmen brauchen, zum Beispiel über die Kriegsursachen in der Ukraine. In solchen Sendungen sind sechs, acht oder zehn Millionen Zuschauer, die ein Recht auf gute und kontroverse Argumente haben. Ich bin davon überzeugt, dass Debatten in der Burg – also in der Mitte der Gesellschaft - gewonnen werden, nicht am Rand. Man muss also in die Leitmedien gehen, um dort die guten Argumente zu platzieren.

Ich würde mich einfach freuen, wenn sich Sendungen wie Lanz oder Maybrit Illner wieder öffnen und das gesamte Diskursspektrum erfassen würden. Jetzt findet das nicht statt. Wir haben eine sichtbare Diskurseinengung, die Leitplanken des Diskurses sind schon vorher abgesteckt. Es werden Leute eingeladen, von denen man schon vorher weiss, was sie sagen. Im besten Fall wird einer eingeladen, der ein bisschen kontrovers ist, den man dann aber einhegen kann. Ich sage das nicht, weil ich in die Talkshows will, sondern weil die Talkshow als kontroverses Diskussionsformat wieder auferstehen sollten. Politik ist Streit, nicht Konsens. 

Im Übrigen kann ich mich nicht beklagen. Meine Ideen zu Europa zum Beispiel sind in den alternativen Plattformen im Moment gefragt und dort auch gut aufgehoben. Vor ein paar Tagen war ich in Österreich bei einem Regionalsender, den ich nicht kannte und zu dem ich früher nicht gegangen wäre. Da hatte ich aber eine ganze Stunde Sprechzeit und eine Million Zuschauer. Ich glaube, in Zukunft spielt da die Musik. Die Leute, die sich von den monotonen Formaten, in denen nicht mehr strittig diskutiert wird, verabschiedet haben, wenden sich jetzt eben solchen Formaten zu. Das ist doch wunderbar. Das sind einfach andere Foren, um über wichtige Dinge zu reden und ich bin ganz sicher, dass diese anderen Argumente und Diskurse über Zeit in die breite Gesellschaft einsickern.

Die jungen Menschen seien manipulierbar geworden, das haben Sie auch schon in früheren Interviews festgestellt. Sie führen das auf die Digitalisierung zurück. Hat aber nicht auch das Punktejagen an der Uni im Bologna-System zu einer Verflachung des Studiums und damit zur Manipulierbarkeit der jungen Menschen beigetragen? Was meinen Sie als Professorin dazu?

Also erstmal kann man den Jugendlichen alleine keinen Vorwurf machen und sie sind auch nicht alle gleich. Wir sprechen immer von den Jugendlichen, als wenn es da eine einheitliche Alterskohorte gäbe. Es gibt aber Rich Kids oder Hartz-IV-Empfänger oder Stadt- und Landkinder, und die sind in ihren Lebenswelten schon sehr unterschiedlich. Die Jugend gibt es nicht, und ich würde der Jugend, wenn es sie denn gibt, nie irgendwie einen Vorwurf machen. Sie wurde eben auf bestimmte Art und Weise sozialisiert und konditioniert, sie ist mit Handys gross geworden und ist daher anfällig für digitale Erzählungen. Ariane Bilheran zum Beispiel, eine französische Psychologin, macht eine sehr gute Analyse in ihren Büchern und Vorträgen über den Zusammenhang von Digitalisierung, Infantilisierung und Verdummung.

Ihre Hypothese ist, dass die Digitalisierung de facto eine Verdummungsstrategie ist, um vor allem Jugendlichen das Denken oder auch die Kontextualisierung abzugewöhnen. Zum Beispiel durch ganz einfache Sachen, etwa dass das Internet keine Seiten hat. Es gibt keine Paginierung, man kann also nicht mehr sagen, man habe auf Seite 7 das und das gelesen, sondern man wischt und dann gibt es einen Hyperlink. Klicken man darauf, kommt man zum nächsten Hyperlink und irgendwann weiss man nicht mehr, wo man angefangen hat zu lesen.

Es gibt also keinen Anfang und kein Ende. Es gibt keinen Index, es herrscht eine gewisse Unübersichtlichkeit. Das ändert unsere Denkstrukturen. Abgesehen davon, dass das Internet unglaublich bildaffin ist. Tiktok usw., das sind ja alles Clips. Wir reagieren auf Bilder ganz anders. Bilder sind emotional. Bilder sind nicht abstrakt. Wir haben also kognitive Veränderungen in unserem Gehirn, wie wir mit Informationen umgehen, wie wir lernen.

Wenn das stimmt, dann müssten wir uns Gedanken darüber machen, was die Verflachung des Wissenschaftsbetriebs durch Bologna und Digitalisierung bedeutet. Ich habe beobachtet, dass Studenten keine Bücher mehr lesen, sondern Texte elektronisch als PDF haben wollen. Da fällt also der haptische Zugang zum Buch weg: welches Kapitel, welche Seite will ich lesen? Wo bleibt meine Neugierde hängen? Den Studierenden allein ist hier kein Vorwurf zu machen, sie sind durch ETCS-Punkte einem grossen Wettbewerb ausgesetzt, ausserdem ist der Arbeitsmarkt angespannt, das heisst, sie müssen heute mehr denn je funktionieren. 

Insofern glaube ich, dass die Universität in einer problematischen Lage ist. Auch die Drittmittelabhängigkeit ist freier Forschung nicht zuträglich. Ohne aber das Umfeld mitzudenken, also wovon die heutigen Universitäten abhängig sind, woher die Drittmittel kommen, was die Digitalisierung bewirkt, kann man, glaube ich, über die Manipulation oder Verführbarkeit von Jugendlichen nicht nachdenken.

Eine gute Lehre setzt voraus, dass man die Augen sehen kann, dass man Blickkontakt hat.

Ich mache der Jugend keinen Vorwurf. Es ist ein Vorwurf, der sich gegen die Strukturen richtet, die wir geschaffen haben.

Ja, da bin ich dabei.

Und es hat mir weh getan, wenn junge Leute die Maske aufgezogen haben. Bei alten Leuten verstehe ich, dass es irrationale Ängste gegeben hat, die sie die Masken hat aufsetzen lassen. Aber so viel Gehorsam bei vor allem bei jungen Menschen zu beobachten, das tat weh. 

Ich persönlich wollte möglichst lange in der Präsenzlehre bleiben. Aber dann haben die Studenten gefragt: «Warum gehen Sie nicht in den Zoom wie die anderen?» Ich habe das dann gemacht, weil ich sonst mit ganz wenigen im Präsenzunterricht gesessen hätte. Das war das genau der Konformitätsdruck, den wir in diesem ganzen Coronageschehen zu beklagen hatten. Mir hat Online-Lehre nie gefallen. Eine gute Lehre setzt voraus, dass man die Augen sehen kann, dass man Blickkontakt hat. Ich muss spontane Reaktionen zulassen, ich muss ein Lächeln sehen. In der Online-Lehre sass ich oft vor lauter schwarzen Kacheln, weil von 30 Leuten vielleicht zwei oder drei ihre Videos nicht auf Schwarz gestellt hatten. Ich hätte auch in ein schwarzes Loch sprechen können.

Ich habe es tatsächlich als schmerzhaft empfunden, dass die Studierenden nicht gesagt haben: «Hey, was geht ab? Wir sind jung, wir haben verstanden, dass wir den Statistiken nach von Corona nicht gefährdet sind. So, und jetzt machen wir mal eine krasse coole Lehre und setzen uns im Sommersemester draussen auf die Wiese.» Ja, da ist wirklich etwas passiert in dieser Alterskohorte. Die Diskurse und das Freiheitsempfinden haben sich völlig verändert.

Dazu kommt noch ChatGTP, mit dieser KI kann man ja sehr einfach Seminararbeiten faken. Das ist einerseits negativ. Auf der anderen Seite: Vielleicht eröffnet dies aber auch Chancen für eine neue Mündlichkeit. Dass die Studenten also weniger Arbeiten schreiben müssen, sondern dass es neue Bewertungssituationen aufgrund einer Diskussionskultur gibt. 

Das ist tatsächlich genau das, was meine Freundin Marie-Hélène Caillol aus Paris mir gerade erzählt hat. Sie korrigierte Seminararbeiten und rief mich eines Abends an: «Ja, ich gucke mir hier offensichtlich nur ChatGTP an, ich kenne doch meine Studenten, das haben die so nie geschrieben!» Sie ist tatsächlich in die Gremiumssitzung gegangen und hat gesagt: «Wir müssen als Universitätskollegium mal darüber zu sprechen, wie wir mit ChatGTP umgehen. Wir müssen Mündlichkeit oder mündliche Prüfungen fördern. Denn sonst ist das nur technologisierter Prüfungskram.»

Ich selbst kann das nicht beurteilen, ich bin nicht so technikaffin. Ich höre aber zwei Positionen. Die einen sagen: «Das wird sich erübrigen. Das Ganze ist so hohl.» Ich selbst habe es noch nicht ausprobiert, aber die ChatGTP kann offensichtlich Texte screenen und Argumente auffächern, aber sie kann sie nicht werten. Sie kann keine Subjekt-Objekt-Beziehung herstellen. Sie kann sich nicht normativ zu einem Gegenstand verhalten. Das wäre jetzt ein Argument, dass sich ChatGTP nicht durchsetzen wird.

Auf der anderen Seite haben wir alle vor 20, 30 Jahren vorausgesagt, dass sich Internet, Facebook oder Tiktok erübrigen wird und das ist nicht passiert. Ich weiss nicht, wie es ausgeht. Es ist wohl so, wie mit jeder Technologie, man kann sie gebrauchen oder missbrauchen. Man kann nur hoffen, dass wir intelligente Formen finden, ChatGTP zu gebrauchen. 

Eine Gegenwelt dazu aufzubauen, also eine neue Mündlichkeit, eine neue Diskussionskultur wiederzufinden, das wäre natürlich eine grosse Chance, nämlich dass es in einem Hochschul-Seminar wieder darum ginge, miteinander zu sprechen. Einfach ohne Leistungsorientierung gemeinsam Texte zu verstehen, das ist ja eigentlich Studium, dass man gemeinsam Texte studiert und miteinander über die Wahrnehmung und die Wirkung dieser Texte spricht: «Wie wirkt der Text auf mich, wie auf andere, was verstehe ich, was der andere, wieso versteht der andere nicht das Gleiche wie ich? Warum liest du das anders?» Das ist ein gutes Seminar, bei dem man sich mit den Denkstrukturen und Denkangeboten eines Textes beschäftigt. Das ist doch wahnsinnig interessant.

Das wäre echte Menschenbildung.

Menschenbildung oder eben Denken lernen, die Subjekt-Objekt-Beziehung in einem Text wahrnehmen. Nicht nur: «Ich habe verstanden, was der Autor will. Der Professor kann mich dazu abfragen.» Dazu brauche ich keine Subjekt-Bindung zum Text. Aber wenn wir gemeinsam in einem Raum einen Text lesen und feststellen, dass nicht alle den Text gleich lesen, dann entsteht Wissenschaft. Verschiedenen Lesarten miteinander zu verbinden, das ist der wissenschaftliche Diskurs.

Das ist ein dialektischer Mechanismus, dass man immer gerne das liest, was man lesen möchte.

Das wäre genau das Gegenteil von dieser Expertokratie DER Wissenschaft, die jetzt während Corona geherrscht hat. DIE Wissenschaft grossgeschrieben.

Ja nicht nur grossgeschrieben, sondern im Singular. Welche Wissenschaft ist denn die Wissenschaft? Wenn überhaupt, dann gibt es Wissenschaften im Plural. Die Wissenschaften sind ein Diskurs. Über die Verabsolutierung des Wissenschaftsbegriffs sollten wir noch einmal richtig diskutieren. Wir müssen wieder darüber reden, was Wissenschaft überhaupt ist, was Wissenschaft soll, kann und darf. Wissenschaft kann Hypothesen aufstellen, Theorien entwickeln und sogar empirisch belegen. Aber Wissenschaft ist keine Handlungsanleitung für Politik. Die Wissenschaft kann alles Mögliche vorschlagen. Der Politiker schaut sich dann diese Vorschläge und Studien an und bewertet sie. Aber vieles, was effizient ist oder nach wissenschaftlichen Kriterien optimiert wird oder viel Profit abwirft, ist nicht gut für die Menschen, um die die Politik sich aber zu kümmern hat. Also sind wissenschaftliche Kriterien und Statistiken nicht immer eine gute Grundlage für politische Entscheidungen. Politik beginnt mit dem «Trotzdem». Urteilsfähigkeit bleibt immer noch der Politik überlassen. Politik muss auch nicht wissenschaftlich sein. Den Anspruch, dass wir jetzt nur noch Politik machen dürfen, die wissenschaftlich begründet ist, den halte ich für mindestens fragwürdig. 

Wie ich in meinem Buch «Wer schweigt, stimmt zu», geschrieben habe, gibt es zum Beispiel Hunderte von Studien, die belegen, dass Kaffee schädlich ist, und Hunderte andere, die belegen, dass Kaffee gut ist für Ihre Gesundheit. Und welchen Studien Sie glauben, ist extrem davon abhängig, ob Sie Kaffee mögen oder nicht. Das ist ein dialektischer Mechanismus, dass man immer gerne das liest, was man lesen möchte, und immer gerne das hört, was man hören möchte. Und so wie es zu Kaffee nicht die wissenschaftliche Meinung gibt, gibt es sie bei anderen Themen auch nicht.

Ich glaube also, wir müssen noch mal ganz fundamental darüber nachdenken, was unser heutiger Wissenschaftsbegriff ist. Wir haben in den letzten drei Jahren erfahren, dass ein Wissenschaftsbegriff dann für eine Gesellschaft nicht funktioniert, wenn er ins Autoritäre abgleitet und kein Widerspruch mehr möglich ist.

Genau, die Wissenschaft gebärdet sich als maskierte Autorität. Sie spiegelt Objektivität vor, dabei ist sie eine Autorität. Man kann sie aber nicht angreifen oder adressieren. 

Nun, die Herrschaftsinstrumente sind heute sublimiert, aber man kann sie schon noch angreifen, es ist nur aufwendiger. Wenn Sie sagen, die wissenschaftliche Lenkung erfolgt über Studien und die Studien verstecken sich hinter einer vermeintlichen Objektivität, dann ist die Frage nicht mehr, was steht in der Studie, sondern: «Wer hat die Studie finanziert?»

Ich mache es mal ganz konkret: In einem Papier des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages sollte kürzlich die Impfung bewertet werden. Der wissenschaftliche Dienst hat dazu sechs Studien über die Impfung analysiert. Fünf dieser Studien sagen, die Corona-Impfung erzielt sehr gute Ergebnisse und eine Studie sagt, die Impfung hat mehr negative als positive Effekte. Wenn man näher hinschaut, dann sieht man, dass fünf der Studien von Pfizer finanziert wurden und nur die eine Studie, die zu einem anderen Ergebnis kam, eine unabhängige Studie war.

Solange man das nicht dazu sagt, ist die Aussage, fünf Studien sind für die Impfung, nur eine ist dagegen, also ist die Impfung gut, Bullshit. Dann sieht es eben vordergründig so aus, als sei die Impfung gut und das genau ist so eine sublimierte, wissenschaftliche Steuerung der Politik durch eine vermeintliche Objektivität. Man zitiert jetzt eben den Wissenschaftlichen Dienst, der als Autorität unangefochten ist. und damit ist die Impfung gut und Widerspruch schwierig.
Meine Antwort entlang des letzten Beispiels ist also, dass man sehr wohl etwas Kritisches sagen kann, man braucht nur länger, um die Argumente zu finden.

Die jetzt drei Jahre lang in den alternativen Medien unterwegs waren, haben einen enormen Lesevorsprung.

Diese Fakten, die Sie nun genannt haben, die von Pfizer finanzierten Studien, sind uns in der Gegenöffentlichkeit schon längst bekannt. Aber wieso dringen die vielen Argumente und auch die vielen Studien, die evidenzbasiert zu anderen Aussagen kommen, zum Beispiel. dass das Maskentragen überflüssig war, nicht an eine breitere Öffentlichkeit? 

Also mit Blick auf die Masken spricht es sich das gerade herum, dass sie sogar problematisch waren. Man sieht die ersten Artikel über Mirco-Partikel und Fasern in den Lungen bei Kindern. Wenn das an eine breitere Öffentlichkeit kommt, könnte dies eine Gegenbewegung anstossen. Heute gibt es erste Kohortenstudien, die zeigen, dass alle Massnahmen – Masken, Lockdown und Impfung – keine Ergebnisse erzielt haben.

Bevölkerungsgruppen wie etwa die Amish in den USA, die keine Impfung, keine Masken und keine Lockdowns hatten, stehen mit Blick auf die Corona-Todeszahlen deutlich besser dar als die amerikanische Gesamtbevölkerung. Es ist heute empirische Evidenz, dass alle Länder, die keine Massnahmen ergriffen haben, besser durch die Corona-Krise gekommen sind. 

Wenn Sie fragen, warum widersetzen sich denn dann immer noch so viele dieser Evidenz, dann ist die erste Antwort: Die, die jetzt drei Jahre lang in den alternativen Medien unterwegs waren, haben einen enormen Lesevorsprung. Ich habe jetzt drei Jahre lang Texte und Studien gelesen, die mich dazu befähigen, dass ich die Dinge differenziert darstellen kann.

Schritt für Schritt, Monat für Monat, wurde in den alternativen Medien aufgeklärt: über nicht erreichte Herdenimmunität, Impffolgen, unterdrückte Demonstrationen, Gesetzesänderungen oder den Ursprung des Virus oder was auch immer. Aber alle, die diese Texte und die Entwicklung nicht von Anfang an verfolgt haben und denen man heute, nach drei Jahren kontinuierlicher Propaganda und Angstmache wie einen Holzhammer vor den Kopf knallt, «das war doch alles ganz anders», die kommen da nicht mit.

Man hat ihnen die Erzählung vom Killer-Virus Corona oder die Bilder von Bergamo buchstäblich eingebläut. Und diese Leute stehen, wenn man diese Erzählung jetzt ankratzt, da und sagen: «Das glaube ich dir nicht.» Oder: «Woher hast du das?» Für die ist es, als ob sie zehn Treppenstufen auf einmal hochsteigen müssten, wenn jetzt alles dekonstruiert wird, an was sie geglaubt haben.

Der zweite Grund ist, glaube ich, die Verdrängung. Niemand gesteht sich gerne ein, dass er getäuscht worden ist und dass die eigene Hilfsbereitschaft und der gute Wille ausgenutzt worden sind. Es ging doch nur um das Gute: «Ich schütze mich und die anderen». Da wollte doch jeder dabei sein.

Das ist eigentlich Missbrauch.

Ein absoluter Missbrauch von Würde, von Solidarität und von Hilfsbereitschaft. Sich impfen lassen, um andere zu schützen ist eine völlige Verdrehung des Grundsatzes der Integrität des eigenen Körpers, geradezu eine Art gesellschaftliche Vergewaltigung, zumal man sich auch nicht richtig gegen die Impfung wehren konnte, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Vielen ist es heute wahrscheinlich peinlich, dass sie dem so auf den Leim gegangen sind.

Schauen Sie sich Vergewaltigungsgeschichten an. Wie viele Frauen wollen nicht darüber reden, weil die Scham, eine Verwaltungsgeschichte zu erzählen, zu gross ist?  Man will nicht wahrhaben, dass man vergewaltigt wurde, man redet es sich schön oder verdrängt.

Da sind wir jetzt gelandet, nämlich bei der Aufgabe, einer ganzen Bevölkerung, die das nicht wahrhaben will, klar zu machen, dass sie getäuscht wurde.

Missbrauch kann sehr schleichend kommen. Der Mann, dem man soeben noch vertrauen konnte, entpuppt sich als Monster.

Das Märchen des Rattenfängers von Hameln erzählt genau diese Geschichte. Alle laufen seiner lieblichen Flöte hinterher. Und wohin führt er sie?

Und das dritte Argument, wieso es in der breiteren Öffentlichkeit immer noch Resistenz gegen die Evidenz gibt, ein Zaudern, die offizielle Erzählung anzugreifen, heisst Angst. Denn wenn die Impfung tatsächlich gefährlicher ist, als behauptet wurde, müsste man sich damit befassen, wie hoch die eigene Wahrscheinlichkeit ist, ebenfalls an einer Impffolge zu erkranken wie Myokarditis, Bindehautablösung, Herzinfarkt oder Krebs. Vielleicht wird es so sein, dass man es erst der nächsten Generation hinschauen und aufzuarbeiten kann. Denn für die Betroffenen sitzt der Schreck zu tief.

Es gibt diesen Spruch von Mark Twain: «It is easier to fool people than convince them that they’ve been fooled.» Es ist leichter, ein Volk an der Nase herumzuführen, als ihm zu sagen, dass es an der Nase herumgeführt wurde. Da sind wir jetzt gelandet, nämlich bei der Aufgabe, einer ganzen Bevölkerung, die das nicht wahrhaben will, klar zu machen, dass sie getäuscht wurde.

Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie in ihrem Buch «Wer schweigt, stimmt zu» geschrieben, dass der Kapitalismus bestimmt, wann sich ein neues Narrativ die Bahn bricht. Zum Beispiel war die Nato bis zum Irakkrieg ein Verteidigungsbund. Seither dient sie dazu, die ganze Welt mit westlichen Werten zu beglücken. 

Die Out of Area Diskussion fand schon in den 90er Jahren während des Bosnienkriegs statt. Damals hiess es: Wir müssen raus aus der strikten Verteidigung, also out of area. Dann kam die nächste Erweiterung von Einsätzen mit dem Slogan Responsibility to Protect. Das war de facto eine Umdeutung des Völkerrechts. Nicht mehr: Right of no interference, also das Recht auf «keine Einmischung in innere Angelegenheiten», sondern eben die «Pflicht» zur Einmischung.  Es wurde eine rechtliche Möglichkeit des Einsatzes geschaffen, wenn immer begründet werden konnte, dass in einem Land etwas schief läuft oder eine Gefahr in Verzug ist usw., wobei natürlich die Frage im Raum steht, wer das entscheidet. 

Ja, genau vielen Dank. Sind wir jetzt auch von diesem finanzdigitalen Kapitalismus abhängig, damit sich das Narrativ, was die Impfung betrifft, ändern kann?

Ja, ich würde mit Shoshana Zuboff und vielen anderen von einem zunehmenden «Überwachungskapitalismus» sprechen.  Viele kluge Analysen weisen nach, dass der Zugriff der internationalen Finanzoligarchie, und es mal so zu nennen, und ihre digitalen Kontrollmechanismen systemisch immer größer werden. In Grossbritannien gibt es jetzt die ersten Supermärkte, die nur noch mit Smartphones funktionieren.

Am Eingang checkt man über eine App ein, tut seine Einkäufe gleich in den Rucksack, alles ist Video-überwacht und beim Verlassen des Gebäudes wird die Rechnung gleich von Paypal oder sonstwo abgebucht. Das finde ich sehr verstörend. Auch Handy-Zahlung ist schon üblich, oder gar der Chip unter der Haut eines Fingers, das heisst, die Transaktion läuft nicht einmal mehr über eine Kreditkarte und ist, im Umkehrschluss, sofort konditionierbar. 

Ich hoffe, es wird Möglichkeiten geben, sich dem zu entziehen. Die Gegenbewegung arbeitet ja schon daran. In Frankreich wollten jüngst einige Supermärkte auf bargeldlose Zahlung umstellen, da haben sich dann Einkäufer en masse organisiert, den Supermarkt geflutet und auf Bargeldzahlung bestanden. Ich kenne auch viele Leute, die sich jetzt alte Nokia-Handys kaufen.

Die Frage ist, ob diese Gegenbewegungen klein bleiben, weil die alternativen Technologien dann doch nicht so gut sind, keine Verbreitung finden und sich eben nicht durchsetzen. Ich fürchte, dass wir uns diesen digitalen Kontrollstrukturen nicht so einfach werden entziehen können, aber ich setze auch darauf, dass gerade die Tendenz zur Bargeldabschaffung doch noch viele Bürger auf die Strasse und in den Protest bringt.

Denn es dürfe jedem klar sein, dass die Bargeldabschaffung das Ende der bürgerlichen Freiheit wäre. 

Eigentlich wollte ich sie fragen, ob es auch von diesem Digitalkapitalismus abhängt, ob die Wahrheit langsam ans Licht gelangen kann. 

Die Antwort ist ja. Es ist ja immer noch so, dass derzeit kritische YouTube-Clips, wenn sie eine bestimmte Click-Zahl erreichen, von YouTube einfach gelöscht werden. Kritischen Plattformen werden oft die Bankkonten gesperrt. Kritische Stimmen haben es also schwierig. Wirklich kontroverse Argumente sind im ÖRR schwer zu platzieren, in den alternativen Foren dürfen sie sein, solange sie keine Reichweite entfalten. 

In Demokratien muss man dem Bürger erlauben, alles ungefiltert zu lesen, ihm zutrauen, dass er erkennt, was Propaganda ist und was Information.

Und dennoch: Gibt es ein Interesse des Pharma-Medien-Finanzkapitalismus, dass gewisse Teilwahrheiten gesagt werden dürfen?

Offensichtlich ja. Das wäre die Theorie von Intentent Leak (beabsichtigte undichte Stelle, Red.). Ein bisschen Kratzen an den offiziellen Erzählungen darf man schon, eine gewisse Kritik wird zugelassen. Damit kann man das Argument der prinzipiellen Meinungsfreiheit stabilisieren: «Schau, man kann doch alles sagen.» Aber wenn dann die kritischen Foren zu mächtig werden, wenn sie 800 000 oder eine Million Followers haben, dann passiert meistens etwas. Bei «apolut» z.B. war es so: als sie bei rund 500 000 Followers waren, wurden ihre Konten gesperrt, genauso bei «Oval Media». 

Die heutigen Kontroll-Mechanismen bzw. Zensur-Techniken sind also sublimierter. Es findet keine direkte oder sichtbare Zensur statt, sondern man kündigt die Konten der Plattformen und zerstört so das Geschäftsmodell oder die Spendenbasis eines alternativen Mediums. Es ist - wie oben mit Blick auf den Wissenschaftlichen Dienst und sein Papier über die Impfungen beschrieben – wie bei der Wissenschaft: Man muss tiefer bohren, um die die Verdrehungen aufzudecken. Intentent Leak bedeutet: Prinzipiell ist eine Gegenöffentlichkeit erlaubt, nur, wenn sie zu mächtig wird, wird sie doch auf Umwegen abgeknipst.  

Was mich dann wieder hoffnungsvoll macht, ist, dass gerade in London eine grosse internationale Konferenz zu «Free Speech» mit Aktivisten unter anderem aus Neuseeland, Kanada und den USA stattfindet. Wer hätte das denn gedacht, dass in London, eigentlich dem Zentrum des liberalen Parlamentarismus, im Jahr 2023 eine Konferenz organisiert würde über «Free Speech»? Jetzt kann man nicht mehr nur mit dem Finger auf die Chinesen bzgl. Ai Weiwei oder auf die Russen mit Nawalny hinweisen.

Und was ist mit Julian Assange? Er hat dieser Tage Geburtstag und sitzt nun seit elf Jahren im Gefängnis! Und wir hier in Europa verbieten offiziell Russia Today. Wir widersprechen damit unseren eigenen Grundsätzen. Natürlich kann man sagen, Russia Today ist russische Propaganda. Ich könnte aber auch sagen, Fox News ist amerikanische Propaganda. Jeder weiss, welchen bias Russia Today hat, aber kennt auch den von Fox News oder CNN. In Demokratien muss man dem Bürger erlauben, alles ungefiltert zu lesen, ihm zutrauen, dass er erkennt, was Propaganda ist und was Information, ihn entscheiden lassen, was er lesen will und ihn sich seine eigene Meinung bilden lassen. Niemand braucht «Faktenchecker», die inzwischen fast wie eine selbsternannte Zensurbehörde daherkommen.

Und die FAZ, ist das dann deutsche Propaganda?

Natürlich nicht. Aber eben eine deutsche Zeitung, von der auch jeder weiss, dass sie eine konservative, marktliberale Ausrichtung hat. Wer diese Ausrichtung nicht teilt, liest eh nicht die FAZ, oder zumindest nicht, um sich in der FAZ zu informieren, sondern höchstens, um mitzuschneiden, was die FAZ über ein bestimmtes Thema schreibt und wie sie es einordnet. Meinungspluralismus heisst ja gerade, mehrere Zeitungen mit verschiedenen Ausrichtungen zur Verfügung zu haben, die die gleichen Themen unterschiedlich darstellen, einordnen und bewerten.

Ich habe früher auch den Bayernkurier gelesen, nicht weil ich informiert werden wollte, sondern weil ich wissen wollte, was die Bayern gerade über politische Themen berichten. Ich weiss doch, dass der Bayernkurier eine Art CSU-Propaganda ist, aber das ist ja gerade deswegen von Interesse, weil ich dann abschätzen kann, was die CSU zu einzelnen Themen sagt und daran erkennen kann, wo die Linien des Diskurses verlaufen. Der Vergleich verschiedener Stimmen ist Denkarbeit, so bildet man sich die eigene Meinung, eben weil man die Übersicht über verschiedene Ansichten hat. 

Genauso könnte man Russia Today lesen, als eine Quelle sozusagen. Es ist sicherlich Propaganda und Fehlinformation dabei, aber es würde helfen, eine Idee davon zu bekommen, was derzeit die russische Sicht auf die Dinge ist. Und das ist doch wichtig. Zu denken, dass nur wir richtige oder objektive Informationen haben und die Russen nur Falschinformationen verbreiten, ist doch einfältig. Wir haben auch gelenkte Informationen oder berichten nicht alles. Insofern kann die Antwort nur sein: Alle dürfen alles lesen und jeder bildet sich seine Meinung. Diskurs ist die Grundlage der Demokratie.

Wir wussten, dass wir auf diesem Kontinent keinen Frieden gegen Russland machen können.

In ihrem Buch «Wer schweigt, stimmt zu» haben sie von dieser mittelalterlichen Dualität gesprochen, die jetzt herrscht. Also alles Russische ist böse, alles Ukrainische gut. Für mich ist es fast so eine Lust an der Dualität, die heute viele teilen.

Und wie können wir dieses Denken wieder überwinden? Wir hatten es schon einmal überwunden nach dem Fall der Mauer. Wir wussten, dass wir auf diesem Kontinent keinen Frieden gegen Russland machen können, dass ein Rüstungswettlauf nicht hilft und auch keine harte NATO-Grenze, wie sie jetzt in der Mitte des Kontinentes gezogen wird. Das war doch das Erbe der 80er Jahre, dass wir diese Waffentürme durch Abrüstungsverhandlungen abgebaut haben und wir gesagt haben, Schluss mit Blockkonfrontation, wir machen jetzt eine gemeinsame Sicherheitsstruktur. Wir wussten, dass wir den Frieden nur gemeinsam verwirklichen können.

Jetzt haben wir quasi einen Rückfall zu harten Grenzen, Aufrüstung, Waffenlieferungen und eine kategorische Konfrontation- und Sanktionspolitik. Europa wird dadurch abgetrennt von seinen eigenen historischen Ambitionen, aber auch von seinem geistigen Motto, nämlich dass Europa heisst: Nie wieder Krieg. Es ist eine epistemische Zäsur, dass wir nicht einmal mehr wissen, was wir in den 70-er, 80-er, 90-er Jahren wollten, dass wir es als völlig normal empfinden, diesen Kontinent wieder zu spalten. Dabei standen wir 1989 alle auf der Mauer und haben gefeiert, dass der eiserne Vorhang fiel und der Kontinent geeint wird.

Diese kolossale Geschichtsvergessenheit scheint mir ein grosses Problem. Chinesische Freunde sagen mir, dass die Chinesen mit Maos Kulturrevolution die Verbindung zu ihren eigenen kulturellen Wurzeln verloren hätten. So ähnlich kommt mir das jetzt vor: Wir schneiden uns ab von unseren eigentlichen politischen Zielen und Kategorien, von einer föderalen, kontinentalen Sicherheitsarchitektur auf dem eurasischen Kontinent und einer friedlichen Verständigung mit den anderen Kulturen Eurasiens im Sinne einer multipolaren Welt. 

Die einzige Lösung ist weitermachen, das Richtige sagen und tun und eine Gesellschaft wieder in das Hoffen, Träumen, Glauben zu führen.

Vor allem junge Leute können kaum noch über das Jahr 2000 hinaus zurückdenken. Alles, was vor 2000 war, scheint es nicht mehr zu geben. Es herrscht eine Art historisches Analphabetentum und Entkontextualisierung. Ich führe das, wie andere, auf die Digitalisierung zurück. Nur deswegen können jetzt Dinge eindimensional erzählt werden, wie etwa, der Ukrainekrieg habe plötzlich am 24. Februar 2022 begonnen, ganz so, als sei er buchstäblich vom Himmel gefallen. Es gibt keine Vorgeschichte oder lange historische Linien mehr. Alles ist immer ganz neu oder unerwartet und wer nach Gründen, Akteuren, Motiven oder Interessen fragt, ist ein «Verschwörer.» Dabei hat es z.B. schon 1853-1856 einmal einen Krimkrieg gegeben, die eben immer schon umstritten war. Das ist keine Legitimation für das heutige Geschehen, aber vielleicht doch eine bedenkenswerte Tatsache für seine Einordnung.

Ich stelle mir das wie eine dünne Zivilisationsschicht vor, die plötzlich wegbricht. Eben noch haben wir uns darin geübt, den anderen anzuerkennen. Und dann bricht wieder diese Urlust hervor, die Menschen in Gut und Böse zu unterteilen. Mich erschreckt, wie schnell wir wieder im Mittelalter sind. 

Ja, ich empfinde das auch so, dass da etwas ganz Grundsätzliches auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen wegfällt: Bildung, historische Einordnung, europäische föderale Ordnung, Toleranz, Rechtsbindung, Imperativ des Friedens. Wahrscheinlich muss man das als zivilisatorische Regression bezeichnen, vor allen Dingen als Rückfall hinter die Aufklärung. Der moderne Rechtsstaat sollte ja gerade in Krisenzeiten dazu dienen, dass die Menschen nicht barbarisch miteinander umgehen. Gerade weil der Mensch, um mit Hobbes zu sprechen, des Menschen Wolf ist, sollte der Rechtsstaat ihn davor bewahren, das menschliche Zusammenleben nicht auf der Grundlage niederer menschlicher Reflexe zu organisieren. Jetzt hatten wir genau das,

Es gab mit der Pandemie eine vermeintliche Krisensituation und es wurde beschlossen, rechtsstaatliche Prinzipien weitgehend ausser Kraft setzen und eine Gesellschaft mit sozialen Instinkten, de facto mit Herdentrieb zu regulieren: schützen, einsperren, andere denunzieren.

Es ist, als hätte eine ganze Gesellschaft ihre Contenance verloren, von emanzipierten Bürgern war jedenfalls weit und breit keine Spur. Die Contenance nicht zu verlieren, das aber ist eigentlich der «Prozess der Zivilisation», wie Norbert Elias ihn beschrieben hat, also nicht gleich zu spucken, zu schlagen oder aggressiv zu werden, und zwar auch oder gerade in gesellschaftlichen Stresssituationen.

Politik muss insofern utopisch sein, als dass sie immer eine Erzählung des gesellschaftlichen Guten beinhalten muss.

Und die Frage ist: Kommen wir da wieder heraus ohne Krieg?

Das ist eine spannende Frage, also ob ein Krieg eine Art gesellschaftlicher Apotheose für einen zivilisatorischen Verfallsprozess ist, auch, um von ebendiesem abzulenken. Und diese Frage spitzt sich leider zu. Ein Kriegsbeitritt des Westens wird ja bereits erzählt. Die sublimierte Militarisierung der Gesellschaft ist in vollem Gange, die Bundeswehr wirbt bereits in Schulen, der Krieg wird in die Alltagswelt geholt und soll wohl seine Schrecken verlieren.

Gleichzeitig bereitet man sich mit gesetzlichen Winkelzügen auf eine kriegerische Situation vor. Zum Beispiel gibt es diese queere Gesetzgebung in Deutschland, dass sich Männer zu Frauen erklären können. Jüngst wurde das Gesetz um diesen Satz ergänzt: «Wenn Deutschland in kriegerische Handlungen verwickelt ist, ist der Mann ein Mann.» Der Hintergrund ist wohl, dass sich Männer im Kriegsfall nicht zu Frauen erklären können, weil man dann Soldaten braucht. Dieser Satz ist de facto aber Realsatire. «Wenn Deutschland in kriegerische Verhandlungen Handlungen verwickelt ist, ist der Mann ein Mann.» Nur dann?

Natürlich gibt es ein reales Risiko, von der Ukraine über Taiwan, dass der aktuelle Stellvertreterkrieg nuklear eskaliert. Darüber wird bereits viel diskutiert und man wirklich nur hoffen, dass es noch ein paar vernünftige Akteure gibt, die das zu verhindern wissen. Eskalation heisst ja gerade, dass eine Situation unkontrollierbar wird, also entgleitet. Trotzdem ist es legitim, darauf zu verweisen, dass auch Zivilisationen sterben. Auch die Inkas und die Mayas und andere grosse Zivilisationen sind nach einem Zyklus von einigen tausend Jahren gestorben. Wer will schon ausschliessen können, dass es Europa genauso ergeht?

Der Dritte Weltkrieg als Begriff steht im Raum. Der Franzose Emmanuel Todd hat gerade darüber ein Buch geschrieben. Dieses Gefühl, dass wir inmitten des hier skizzierten, zivilisatorischen Verfalls an Denkkategorien, den semantischen Verdrehungen, wie wir sie zum Beispiel während Corona erlebt haben, dem Verlust von Geschichtsbewusstsein, kultureller Verweisung aber natürlich auch den kolossalen sozialen und ökonomischen Problemen auf dem europäischen Kontinent nur entgehen können, wenn wir einen Krieg darüberziehen, kann schon mulmig machen.

Die aktuelle Kriegslüsternheit, die man allenthalben beobachten kann, wäre dann die Ausflucht, um sich der Scham nicht stellen zu müssen, dass man es mit so viel Wissen, Kultur und Reichtum in Europa nicht hingekriegt hat, die Dinge für die Welt besser zu machen und eine gute Ordnung in Europa zu schaffen und zu erhalten. Das halte ich schon für eine interessante Frage. Es gibt ja derzeit viele Initiativen für Friedensverhandlungen.

Aber kriegen wir noch einmal die Kurve? Schliesst sich jetzt eine historische Epoche, in der der europäische Kontinent entweder in letzter Minute in einer kontinentalen Ordnung befriedet oder mehr oder weniger endgültig gespaltet wird? Stefan Zweig hat einmal gesagt: «Der Zeitgenossenschaft ist es nicht vorbehalten zu verstehen, in welcher historischen Epoche sie sich befindet».

Aber ich denke, Sie, Frau Guérot, werden bis zuletzt – die Hoffnung stirbt zuletzt – gegen den Krieg argumentieren.

Natürlich! Die Kontingenz der Geschichte ist immer offen und wer nicht handelt, hat schon verloren. Ich finde darum den Satz von Vaclav Havel hervorragend: «Hoffnung ist nicht, dass die Dinge besser werden, sondern dass man das Richtige tut, auch wenn sie nicht besser werden.» Deswegen sind Fatalismus, Zynismus oder Privatisierung keine Lösung und die Dystopie oder die Apokalypse sind keine zulässige gesellschaftliche oder politische Erzählung. Auch Panik ist nicht erlaubt, ebenso wenig wie Angst. Die einzige Lösung ist weitermachen, das Richtige sagen und tun und eine Gesellschaft wieder in das Hoffen, Träumen, Glauben zu führen. Politik muss insofern utopisch sein, als dass sie immer eine Erzählung des gesellschaftlichen Guten beinhalten muss.

Vielen, vielen Dank, Frau Guérot, das ist ein wunderbarer Abschluss unseres Gesprächs.

 

Ulrike Guérot (*1964), Professorin für Europapolitik, ist Wissenschaftlerin, Publizistin und Aktivistin. Sie arbeitet seit rund 30 Jahren in politischen Institutionen, Universitäten und Think Tanks zu den Themen Europa und Demokratie. Mit Stationen in Brüssel, Paris, Washington, London, New York und Wien.
Fadenscheinige Plagiatsvorwürfe haben zu einer Sistierung ihrer Professur in Bonn geführt. Die Gerichtsverhandlung findet im Oktober statt. Indes, der wahre Grund für Guérots Entlassung ist in ihren pointierten und differenzierten Äusserungen zur Coronapolitik und ihrem frühen und konsequenten Eintreten für Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zu suchen. So wurde aus dem gern gesehenen Talkshowgast zu Europafragen eine Persona non grata. Und dennoch: In den Freien Medien und an Vorträgen zieht die brilliante Denkerin  mit ihrem enormen Wissen die kritische Masse an. (zit. nach: Ulrike Guérot/Matthias Burchardt: Das Phänomen Guérot/klarsicht-verlag 2023).

 

Kommentare

"Flugblätter"

von MS
Ich wünschte mir, ganz viele Menschen könnten/würden diesen Artikel lesen. So klar, so deutlich, so wichtig! Wie wär's also mit einem "Flugblatt"? Schliesslich gilt es ja eben, etwas zu tun, die Hoffnung nicht zu verlieren, also müssen wir Wege finden, die Bubleproblematik zu durchbrechen. Danke&alles Gute