Man muss es nur wollen

Wir könnten ohne Mehrkosten erneuerbar leben. Toni Gunzingers «Plan B» zeigt, wie es geht.

Ich habe eine geheime Liebe für Ingenieure. Sie erfüllen die Materie mit Geist – deshalb heissen sie so – und können sie einem höheren Ziel nutzbar machen. Sie können leider auch anders, aber das ist jetzt kein Thema. Denn hier geht es um meinen Lieblingsingenieur, Toni Gunzinger, und seinen Plan B. Toni Gunzinger hat vor vierzig Jahren als Radioelektriker angefangen und es mit seinem erfinderischen Geist, gepaart mit Achtsamkeit und harter Arbeit, zum Professor an der ETH Zürich und zu einem Unternehmen gebracht, das Probleme löst, vor denen andere kapitulieren. Er hat einen phänomenalen Super-Computer erfunden, das Time Magazine hält ihn für einen der hundert bedeutendsten Informatik-Fachleute unserer Zeit und in seiner Firma im Zürcher Technopark halten Philosophen und andere gescheite Köpfe regelmässig Vorträge zu den grossen Fragen des Lebens. 
Am 10. November war Toni Gunzinger selber an der Reihe mit dem gleichzeitig bescheidenen und etwas unverständlichen Thema «Plan B oder Faktor 10». Dahinter versteckt sich auch eine grosse Frage des Lebens, nämlich die nach der Energieversorgung. Plan A ist die Fortführung der bestehenden Politik: Ein bisschen sparen, ein bisschen umlagern, ein bisschen subventionieren – und viel Geld in die Erdölländer und viel CO2 in die Luft verschieben. Die Folgen von Plan A sind, von den Umweltschäden einmal abgesehen, durch und durch unerfreulich: Die Energie wird knapp werden und sehr viel mehr Geld kosten, Mittel, von denen unsere Wirtschaft kaum profitiert.
Wenn wir das nicht möchten – und wer kann das schon wollen? – braucht es einen Plan B, Toni Gunzingers Plan B. Seine Ziele:
• Reduktion der nicht erneuerbaren Energien und des CO2-Ausstosses um einen Faktor 10
• keine Subventionen für Mobilität und Energie
• keine AKWs und keine Elektrizitätsimporte
• Erhalt des Lebensstandards
• ökonomisch sinnvoll und profitabel
• nur Verwendung bereits bestehender Technologien
• in zwanzig Jahren umsetzbar
• und all das soll auch noch Spass machen.
Das Wichtigste vorweg: Es geht. Man muss es nur wollen.

Die Festsetzung von Preisen für die Nutzung von Gemeingütern ist Toni Gunzingers erster Schritt. Gemeingüter oder «commons» gehören uns allen: Luft, Wasser, Boden, Bodenschätze, Wissen, Ruhe oder Sicherheit. Die Nutzung der Allmenden ist ein vergessenes, nachhaltiges Prinzip, das erst seit kurzem wieder in den ökonomischen Mainstream geholt wurde. Einzelne dieser Gemeingüter kosten schon heute etwas, andere sind gratis, im Durchschnitt sind sie viel zu billig. Toni Gunzinger konzentriert sich in seinem Plan B auf die Gemeingüter Luft, öffentlicher Raum, Ruhe und Sicherheit (risikoarm leben).

Luft: Die geschätzte Schadensgrösse der Luftverschmutzung beträgt inkl. Kosten der Klimaveränderung rund fünf Prozent des Bruttosozialprodukts von 500 Mrd. Franken, also 25 Mrd., die auf die Verursacher umgelegt werden müssen. Heute besteht nur auf Heizöl eine CO2-Abgabe, die erst noch zehn mal zu tief liegt. Für eine korrekte Abgeltung der Nutzung des Gemeingutes Luft muss dieser Wert erhöht und auf allen fossilen Energieträgern erhoben werden.

Öffentlicher Raum: Der grösste Verbraucher ist der Verkehr, der mit 581 km2 rund 50 Prozent mehr Fläche belegt als Wohnen, Arbeiten und Freizeit zusammen (400 km2). Diese Fläche, zum Teil an bester Lage, hat bei einem Preis von 500 Fr. pro Quadratmeter einen Wert von 290 Mrd. Franken oder 23,2 Mrd. pro Jahr bei einem Umwandlungssatz von acht Prozent. Zu diesen Kosten kommt noch der Strassenunterhalt von jährlich 14,9 Mrd., der über Steuern bezahlt wird und ebenfalls den Nutzniessern belastet werden muss. Das sind vor allem die Automobilisten. Ein Auto braucht nach Berechnungen von Heinrich Brändli von der ETH zehn mal mehr Raum als ein Fahrrad und rund fünf mal mehr als ein öffentliches Verkehrsmittel. In der Stadt Zürich beanspruchen die Autos 75 Prozent der Verkehrsfläche, erbringen aber nur 25 Prozent der Verkehrsleistung. Auch die Kosten für die Nutzung des Gemeingutes Raum sind über den Benzinpreis zu erheben.

Ruhe: Lärm verursacht Kosten und senkt den Wert von Liegenschaften, an viel befahrenen Strassen um bis zu 50 Prozent. Lärmemissionen müssen deshalb abgegolten werden. Gunzinger beschränkt sich bei den Lärmkosten der Einfachheit halber auf den Wertverlust der Liegenschaften, die er im Durchschnitt auf zehn Prozent des gesamten Wertes von 2 500 Mrd., also auf 250 Mrd. schätzt. Bei einem Umwandlungssatz von acht Prozent ergibt dies 20 Mrd. Lärmkosten pro Jahr, die ebenfalls auf die Verursacher umgelegt werden.

Sicherheit (risikoarm leben): Die grössten unversicherten Risiken sind die Atomkraftwerke und in zweiter Linie die Speicherseen. Ging man bei weltweit 400 AKW ursprünglich von einer Kernschmelze alle 250 Jahre aus, musste dieser Wert aufgrund der realen Erfahrungen auf zehn Jahre reduziert werden. Bei geschätzten Kosten eines Super-GAUs in der Schweiz von 5 000 Mrd. Franken ergibt dies eine jährliche Versicherungsprämie von fünf Mrd. Franken pro AKW, die heute vom Steuerzahler getragen werden. Toni Gunzinger hält eine komplette Abwälzung dieser Kosten auf die Betreiber, bzw. die Stromkosten für unrealistisch und rechnet deshalb mit einer Prämie von fünf Mrd. für alle fünf AKW. Die geschätzten Schäden durch Stausee-Katastrophen sind mit 968 Mrd. vergleichsweise klein. Prämie: eine Mrd. pro Jahr. Zusammen ergibt dies eine Risikoabgeltung zulasten der Stromproduzenten von sechs Mrd.
Die Abgeltung der Gemeingüter ist für die Wirtschaft ein Nullsummenspiel: Verschwender und Verschmutzer verlieren, Effiziente und Saubere gewinnen.

Durch die Abgeltung der Gemeingüternutzung steigen die Energiepreise zum Teil erheblich: Benzin ×5, Strom ×3, öV ×2, Heizkosten ×2. Dabei kommt eine hübsche Summe zusammen (Tab. 1), die als eine Art Grundeinkommen an die Bevölkerung zurückerstattet werden kann.
 
Die entscheidende Wirkung dieses Nullsummenspiels ist aber die Verhaltensänderung, die durch die Kostenwahrheit ausgelöst wird. Bei einer Verdreifachung des Strompreises rechnet sich die Fotovoltaik auch ohne Subventionen. Bei einer Verdreifachung der Heizkosten wird besser gedämmt und intelligenter geheizt – zum Beispiel mit Wärmepumpen oder Heizkraftwerken – und das Geld wird hier investiert statt in den Erdölländern. Bei einer Verfünffachung des Benzinpreises fallen unnötige Fahrten weg (-15 Prozent), werden kurze Strecken zu Fuss oder mit dem (Elektro-)Fahrrad zurückgelegt (-15 Prozent) und erhöht sich die durchschnittliche Fahrzeugbelegung von 1,1 auf 1,5 Personen. Dadurch wird der Automobilverkehr nahezu halbiert. Zusammen mit der bereits heute möglichen Effizienzsteigerung der Autos ergibt sich eine Reduktion des Energieverbrauchs durch den Individualverkehr um einen Faktor acht. Wichtig: Trotz höherer Treibstoffpreise sinken die Kosten für die Automobilität, Autofreiheit zahlt sich aus! (Tab. 2)
 
Umso mehr bringt die Umlagerung bei der Heizenergie. Absenkung der Raumtemperatur, bessere Isolation der Gebäude, Neubauten nur im Null-Energie-Standard reduzieren den Energieverbrauch auf einen Viertel. Der forcierte Einsatz von Wärme-Kraft-Maschinen bei grossen Stromverbrauchern und Wärmebezügern bringt eine weitere Verbesserung um einen Faktor 4,2. Das ergibt zusammen eine Reduktion des Heizenergieverbrauchs um das Sechzehnfache.
Insgesamt erreicht Toni Gunzingers Plan B eine Reduktion des Gesamtenergieverbrauchs um einen Faktor 12 und des CO2-Ausstosses um einen Faktor 9,5. Ziel erreicht.

Ein Knackpunkt in Toni Gunzingers Plan B ist das Stromnetz, das künftig 50 Prozent mehr Energie transportieren muss, da wesentlich mehr erneuerbare Elektrizität in den Verkehr und die Beheizung fliesst. Von der Kapazität her ist dies möglich, aber die Lasten sind ungleich über den Tag verteilt. Zudem ist die Netzarchitektur hierarchisch: von grossen Stromproduzenten über Verteilstationen zu den Endverbrauchern. In Zukunft werden die Stromverbraucher aber auch gleichzeitig Produzenten, sogenannte «Prosumenten». Was sie einspeisen sollte auf möglichst kurzen Wegen zu den nächsten Verbrauchern geleitet werden. Gemäss Toni Gunzinger sollte ein moderater Ausbau des Netzes bei intelligenter Steuerung genügen (Stichwort «smart grid»), und die Bedürfnisse von Produzenten und Konsumenten müssen optimal aufeinander abgestimmt werden.

Dieses Paradies mit selbst produzierter Energie, weniger Verkehr und geringerer Umweltbelastung ist zwar nicht gratis zu haben, aber es kostet nicht mehr, als wenn wir wie bisher weiter wursteln und unser Geld buchstäblich in die Wüste schicken. Die Schweiz könnte zum Musterland der Energiewende werden, Technologien entwickeln und Erfahrungen sammeln, für die weltweit ein grosser Bedarf besteht. Die Umsetzung kann nach Einschätzung von Toni Gunzinger in 15 bis 20 Jahren erfolgen. Voraussetzung ist ein neuer Preismechanismus mit Gemeingutabgeltung und eine frühzeitige Ankündigung der Systemveränderungen, damit sie beim nächsten Autokauf, bei einer anstehenden Renovation oder einem Neubau berücksichtigt werden können. Und: Dieses ganze Wunderland erfordert keine Subventionen, die Staatsquote sinkt.

Toni Gunzingers Idee ist ein grosser Wurf, das kam auch in der Diskussion nach seinem Vortrag zum Ausdruck, an der sich einige ausgewiesene Experten beteiligten. Es geht.
So beglückend und inspirierend der Abend mit Toni Gunzinger auch war, es bleibt eine drängende Frage: Was muss geschehen, damit wir nun B tun?


Der Vortrag von Anton Gunzinger «Plan B oder Faktor 10» ist auf der Website www.scs.ch als Video abrufbar.


Mehr zum Thema «Wer A sagt, muss B tun» im neusten Zeitpunkt: http://www.zeitpunkt.ch/archiv/2012/117-wer-a-sagt-muss-b-tun.html