Vom Gras zum Handbesen

Noch vor sechzig Jahren waren sie in jedem Haushalt zu finden. Heute sind die praktischen Handbesen aus Pfeifengras vom Plastik verdrängt. Aber eine Renaissance ist möglich – dank Flechterinnen, die das traditionelle Handwerk noch verstehen.

Auf Feuchtwiesen wächst das Rohmaterial: Pfeifengräser (Bild: zvg)

Die Welt wird von einer Plastikwelle überrollt. Die Schweiz trägt mit fast 100 Kilogramm Abfälle je Einwohner ihren praktisch unzerstörbaren Beitrag dazu bei. Deshalb sind Alternativen gefragt, und oft findet man diese beim Blick zurück: Vor den 1950er-Jahren gab es plastikfreie Produkte, die sich über Jahrhunderte bewährt hatten. Zudem standen sie nicht nur wegen ihres Materials in Harmonie mit der Umwelt, sondern waren auch Hingucker, die den Besitzern lange Freude bereitete.

Als Beispiel eines solchen Produktes steht der unscheinbare Handbesen, heute meist aus Plastik hergestellt. Die traditionelle Herstellung der Habkern Schmalenbesen, Urner Riedbesen und Ybriger Abwaschbürsten wurde verdrängt, sodass das traditionelle Schweizer Handwerk des Gräserflechtens heute fast ausgestorben ist. Aber es gibt sie noch, die Frauen, die das alte Handwerk am Leben halten und erneuern.

Hedy Zenger ist über 70-Jahre alt und begeistert von den kleinen Handbesen, «Schmalenbesen», wie sie im Berner Oberland genannt werden. Sie legt «Schmaleni», sogenannte Pfeifengräser, zusammen und flechtet sie zu kleinen Besen. Wie das geht, lernte Hedy Zenger als Kind leider nie; schon ihre Mutter führte die Tradition nicht weiter. Immer in Gedanken an diese Tradition beschloss Hedy Zenger vor einigen Jahren, dieses Handwerk doch noch zu erlernen und ging auf die Suche nach jemanden, der noch wusste, wie Habkern Schmalenbesen geflochten wurden. Fündig wurde sie bei der über achzigjährigen Anni im Altersheim Beatenberg. «Ich fragte Anni an, ob sie mir das Besenflechten beibringen würde.» Obschon sich die Schulung etwas holprig erwies, war sie erfolgreich. Hedy Zenger zieht seither jeden Spätsommer auf den Feuchtwiesen die bis einen Meter langen Pfeifengräser aus und legt sie zu einem Bündel zusammen. In noch grünem Zustand werden jeweils fünf bis acht Halme gebogen, gedreht und mit den anderen Büscheln zu einem runden Kopf geflochten, sodass dieser gleichzeitig als Griff dient. Dann werden die Schmalenbesen zum Trocknen aufgehängt. «Wer das erfunden hat, weiss ich auch nicht, aber die Besen sind sehr praktisch und aus meinem Haushalt nicht mehr wegzudenken», sagt Hedy Zenger begeistert.

Habkern Schmalenbesen .
 

Margrit Linder, eine international renommierte Künstlerin und ehemalige Habkern-Pfarrersfrau, war nach einem Besuch bei Hedy Zenger von der Einzigartigkeit der Schmalenbesen überzeugt. «Je mehr ich mich mit diesem traditionellen Schweizer Frauen-Handwerk befasste, desto faszinierender wurde die Thematik.» Mit der mehrjährigen Erfahrung als Dokumentarfilmerin – u.a. über die Kultur der indonesischen Dayak-Flechterinnen in Bormeo  –  verfolgte Margrit Linder die Spur der Handbesen und hielt verschiedene Besenflechterinnen in Dokumentarfilmen fest. «Es ist eine nicht endende Entdeckungsreise. Ich lerne dauernd neue spannende Leute kennen. Zudem erkenne ich immer mehr kulturelle und architektonische Zusammenhänge mit dem in Feuchtwiesen wachsenden Pfeifengras.» Die Molinia Caerulea erkennt man an dem knotenfreien und gleichmässig dicken Stängel. Als Futtergras eignet es sich schlecht, aber es ist ein gutes Streugras. Deshalb wurden die Pfeifengräser erst sehr spät im Jahr gemäht. Diese Nutzung ermöglicht es den Pflanzen, zur Blüte und zur Samenreife zu gelangen. Feuchtwiesen gehören dadurch zu den artenreichsten Lebensräumen und sind für viele Insektenarten sehr wichtig. Zum Trocknen legte man die Gräser jeweils in die Tenne. «An den Häusern kann man erkennen, ob in dieser Gegend Pfeifengras genutzt wurde. Oft wurde die Architektur zur Trocknung der Gräser angepasst», weiss Margrit Linder.

Therese Arnold ist eine der letzten Urner Riedbesen-Flechterinnen. Margrit Linder hat auch sie dokumentiert. Die Riedbesen unterscheiden sich vom Typ des Berner Oberlands durch ihre als Matte geflochtene und gerollte Art. Therese Arnold wurde in den 30er-Jahren geboren; das Flechten erlernte sie noch von ihrer Mutter. «Früher hatte es überall Feuchtwiesen mit Pfeifengräser, heute muss man sie suchen.» Auch sie nutzt die Besen täglich für Aufgaben wie Schnee abwischen, Schmutz von den Schuhen entfernen und  für den alltäglichen Haushalt.

Flavia BrändLe ist eine junge Toggenburger Designerin; sie stiess im Rahmen ihrer Bachelor-Arbeit über Besen auf Gras-Handbesen. «Ich entdeckte im Toggenburger Museum in Lichtensteig kleine Ofenbeseli und wollte mehr darüber wissen.» Da wenig darüber bekannt war, fotografierte sie diese und fragte in ihrem Bekanntenkreis nach. «Mein Vater leitet ein Altersheim. Ich bat ihn, mit den Fotos die Bewohner zu fragen» – leider ohne Erfolg. Erst der Film über den Ybriger Max Steiner – und das anschliessende Treffen – brachten mehr Informationen über die Herstellung und Geschichte der Allzweckbesen. «Für mich war es sehr spannend, die Basis der Herstellung dieses Produkts kennenzulernen, die Technik weiterzuentwickeln und mit dem Handwerk einen Mehrwert zu generieren.» Dabei ist Flavia Brändle wichtig, dass sich das Handwerk weiterentwickelt und nicht stehen bleibt. «Was vor 100 Jahren gut war, muss nicht in 100 Jahren auch noch gut sein.» Entstanden ist ein sogenanntes Schwedenbürstchen aus Reiswurzel, hergestellt mit der Flechttechnik des Ybriger Gras-Handbesens. «Mit der Ybriger Flechttechnik bekam das Schwedische Abwaschbürstchen einen Knauf zum halten» – und wird dank den Ybriger Vorfahren vielleicht ein Beispiel zur Reduktion des Plastikverbrauchs.        

 

10. November 2018
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