Limoncello77
Als das Internet noch keine Selbstverständlichkeit war: Ein Blick zurück in eine Zeit, die erst wenige Jahre her ist. Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben».
Bildlegende: «Ich trank wie ein Verdurstender» (Bild Netzfund)
Bildlegende: «Ich trank wie ein Verdurstender» (Bild Netzfund)

Es gab einmal eine Zeit, als sich die Menschheit damit begnügte, offline zu sein. Sie kannte nichts anderes. Sie wusste nicht, dass sie eines Tages die Wahl haben würde – zwischen offline und online. In ihrer Unwissenheit war die Menschheit zufrieden.

Dann brach das neue Zeitalter an, und es öffnete sich mit dem Worldwideweb eine Welt, deren Horizont ins Unermessliche wuchs. Niemand konnte sich dieser Magie entziehen, alle wollten sich nur noch noch online bewegen.

Doch die Technik konnte die explodierende Gier nach der digitalen Erleuchtung zunächst nicht immer und überall stillen. An manchen Orten war der Zugang zum neuen Gottesdienst noch nicht inbegriffen. Man musste sich offline zu helfen wissen, um online zu sein.

Der Schauplatz dieser kleinen Geschichte: Ein Ferienhaus in Italien am Meer. Es übertraf alle unsere Erwartungen. In einer kleinen Siedlung ausserhalb eines Städtchens gelegen, empfing uns ein älteres, gut erhaltenes Landhaus, mit hohen Räumen, schlichten antiken Möbeln, die Zimmerdecken mit Jugendstilornamenten geschmückt, im Garten Palmen, bis zum Meer fünf Minuten, moderne Küche, sauberes Bad und ein sehr erträglicher Mietpreis.

Doch es gab einen Nachteil, einen einzigen, der dies alles zunichte und wertlos machte. Die kleine italienische Villa hatte keinen Empfang. Um ins weltweite Netz zu gelangen, hätten wir uns in die Bar an der Strasse begeben müssen, die ein paar hundert Meter entfernt war. Mit anderen Worten: Wir waren von der Welt abgeschnitten.

Die Familie ebenso wie die Mitreisenden - alle wussten Bescheid. Wir hatten geglaubt, wir könnten es schaffen, eine Woche lang ein Haus zu bewohnen, das der Vergangenheit angehört. Nun standen wir da und vermissten das Leben. Denn die neue Wirklichkeit wollte uns lehren, dass das wahre Leben online geschah. Offline mussten wir draussen bleiben. Offline war die kleine italienische Villa ein Geisterhaus. Die Erkenntnis, zum Internet keinen Zugang zu haben, liess alle Farben des schönen Italiens verblassen. Es gab nur noch Schwarzweiss.

Auch die Bar an der Strasse war vielleicht ein Ort der Vergangenheit.  Höchstwahrscheinlich glaubten der Barbesitzer und seine Gäste, ihre schlichte ligurische Welt sei genug gross für sie. Dann würde uns auch die Bar nichts nützen. Dann würden wir den bestellten Espresso trinken und das Lokal im Wissen verlassen, dass uns definitiv eine Prüfung bevorstand. Die Prüfung einer Woche Enthaltsamkeit.

Manche üben sich freiwillig in Verzicht und Entsagung. Wir nicht. Wir wollten doch nur ins Internet.

Unser Wehklagen tönte umso verzweifelter, weil das neue Zeitalter bloss wenige Meter entfernt war. Unsere digitalen Geräte zeigten im Haus nebenan gleich mehrere Netzwerkverbindungen an. Doch alle waren gesichert. Alle fragten uns nach dem Passwort. Wir wussten es nicht. Wir fühlten uns wie Verlierer, wie Heimatlose im fremden Land.

Bis wir am Ende der Liste auf «Limoncello77» stiessen. Das Netzwerk war ungesichert. Kein Passwort erforderlich. Limoncello77 war unser Glück. Unser barmherziger Samariter. Am Wohnzimmerfenster, wo wir die Verbindung hoffnungsvoll ausprobierten, war das Signal zu schwach, und auch am Küchenfenster blieb die Welt unerreichbar. Doch im Bad hatten wir Zugriff.

Offenbar wohnte Limoncello77 gleich gegenüber, hinter den zugezogenen Vorhängen, mit der Wäsche auf dem Balkon. Unter anderen Umständen hätte mich der Mensch hinter Limoncello77 interessiert. Ich hätte mir überlegt, ob sich hinter dem Namen ein Mann verbirgt, ein Liebhaber von Zitronenlikör, oder ob eine Frau sich so nennt, weil ihr Liebster ihr einmal sagte, deine Küsse schmecken wie Limoncello.

Doch in Anbetracht unserer unerträglichen Lage interessierte auch mich nur das lockende offene Tor zum Land der Verheissung. Wie meine lieben Mitmenschen hielt ich mein Mobilfunkgerät zum Badezimmerfenster hinaus, um mit Limoncello77 verbunden zu werden. Kaum stand die Verbindung, ergossen sich, einem Wasserschwall gleich, die News und die Mails in den überquellenden Bildschirm. Ich trank wie ein Verdurstender. Ich wurde wieder lebendig. Ich gehörte wieder dazu.

Da die Verbindung so schwach war, konnte immer nur ein Gerät aus der Fülle schöpfen. Das Badezimmer war ausgebucht. Alle, wir alle tranken den Zaubertrank aus dem Füllhorn des Internets. Wir glaubten, er mache uns informiert und zufrieden. In Wirklichkeit gibt es keine Zufriedenheit, die nicht selber gemacht ist.

Hin und wieder dachten wir immerhin dankbar an unseren Wohltäter – der vielleicht eine Wohltäterin war. Limoncello77 musste ein sehr netter Mensch sein. Uneigennützig stellte er uns seine Beziehungen zur Verfügung, auf dass wir nicht hungers zugrundegingen.

*

Noch am Abend des gleichen Tages jedoch setzte der unbekannte Spender seiner Grosszügigkeit, die er nie gewollt hatte, ein plötzliches Ende. Das ungesicherte Netzwerk verschwand. Wir wurden zurückversetzt nach Italien, in dieses Haus, in die Wüste Gobi unseres echten Lebens. Die Welt war weit weg, draussen regnete es und wir wünschten uns innig, Limoncello77 möge zurückkehren, uns zu erlösen.

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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Alle weiteren Informationen: www.nicolaslindt.ch


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