Technokratien: Vom Wahn der Machbarkeit
Der Begriff Technokratie leitet sich vom Griechischen «téchne», was so viel wie «Fertigkeit» bedeutet, und «kratia» für «Herrschaft» ab. Wir können also von einer «Herrschaft der Sachkundigen» sprechen. Wie daraus die Herrschaft der Machbarkeit entstand, soll hier ausgeführt werden.
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«Gemeinwohl und Wissenschaft sind für Technokratie nur Themen der Propaganda.» Bild: Getty Images

Die Idee der Technokratie begann sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. zu entwickeln. Der Franzose Claude-Henri Rouvroy (bekannt als Graf de Saint-Simon) schlug vor, das Regieren durch Befolgen von Sachgesetzlichkeit, von Technikern und Industrieunternehmern übernehmen zu lassen – letztere übten bereits damals einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Politik aus - um den Wandel von Produktion und Wirtschaft in Europa voranzutreiben. Als geistgeschichtliche Strömung lässt sich Technokratie über den Taylorismus bis zu Francis Bacon ins frühe 17. Jh. (und weiter) zurückverfolgen (Morandi, Pietro, 2012).

William Henry Smyth soll das Wort «Technokratie» 1919 erfunden haben. Der Begriff ist eine Neuschöpfung und eng mit der so genannten politischen Theorie verknüpft, die technologie-orientierte Lösungen für die Verwaltung einsetzen wollte.

Da die Politik in den USA nicht in der Lage war, die grosse Depression 1929 vorauszusehen oder zu verhindern, die weitgehend die 30er Jahre des letzten Jahrhunderts dominierte, stiess die bereits 1919 von Howard Scott in Nordamerika gegründete Technical Alliance bei Forschern und Philosophen auf offene Ohren. Es wurden alternative Möglichkeiten gesucht, die Gesellschaft zu betrachten. Technokraten kritisierten das Preissystem (die schuldenbasierte Wirtschaftsordnung, der Zentralbanken) und argumentierten, dass es für die Ungleichheiten und Ineffizienzen der Gesellschaft verantwortlich sei.

technoBild: Die Technokratiemonade oder Technocracy Monad ist das offizielle Symbol von Technocracy Inc. und soll ähnlich wie Yin und Yang ein Gleichgewicht darstellen, im Falle der Technokratie von Produktion und Konsum.

Technokraten wollen kein preisbasiertes System mehr, sondern eines, in dem sie selber alle Vermögenswerte und Ressourcen der Welt kontrollieren. 1932 gründete Scott zusammen mit Walter Rautenstrauch das Committee on Technocracy an der Columbia University, dem damaligen Ort des Progressivismus in den USA. Daraus gingen durch Aufspaltungen die Technocracy Incorporated und das Continental Committee on Technocracy hervor. Doch Technokratie stiess allgemein auf Ablehnung. Sie wurde als Bedrohung für die Demokratie wahrgenommen, was, wie der Vergleich zeigt, auch stimmt.

1941 publizierte der Soziologe James Burnham sein Werk The Managerial Revolution (Burnham 1941) und prophezeite die Ära der Manager, welche die ursprünglich vorgesehenen Ingenieure und Technologie-Experten als neue Führung ablösen würden. Ein kritischer Beobachter technokratischer Entwicklung neuerer Zeit ist Patrick M. Wood (Wood Patrick M. Technology Rising; The Trojan horse of global transformation, Mesa, Arizona: Coherent Publishing, 2015).

Alfred Frisch veröffentlichte bereits 1955 im Magazin Aus Politik und Zeitgeschichte (Quelle: Frisch, Alfred: Nach dem Kapitalismus – die Technokratie, APuZ, Heft 3, Juni 1955) eine sinnvolle Unterteilung des sich nach dem 2. Teil des Weltkrieges immer mehr auf internationaler Ebene etablierenden Begriffs Technokratie. Da er es verstand, eine kritische Würdigung und eine geographische Unterteilung der Technokratie wiederzugeben, sollen seine Ausführungen hier kurz zusammengefasst werden.

Alfred Frisch sieht Technokratie als ein Organisationssystem mit allgemeinem Charakter und nicht als eine politische, ideologische Konzeption. Denn Technokratie findet sich in den entgegengesetztesten Wirtschaftssystemen: in den USA, in der Sowjetunion und auch in der Privatwirtschaft sowie in nationalen als auch internationalen Organisationen.

Zentral in seinen Ausführungen ist, dass er Technokratie als «veränderten Begriff von Verantwortung» sieht; sowohl als Reaktion auf die Angst vor Risiko als auch der Tendenz der Masse, sich Verantwortung zu entziehen (aus Angst, Fehler zu machen und dafür zur Verantwortung gezogen zu werden). Letzteres scheint mir aber weniger ein Phänomen der Massen (wie von Frisch erwähnt), sondern ein Phänomen des Politischen und als Grund heutiger Politik, Technokratie zu fördern und sie als Grund für ihr Handeln anzugeben.

Heute ist die Uninteressiertheit der Politik für technische Dinge tatsächlich im Schwinden. Die Kompetenz technischer Errungenschaften reicht so weit, dass sie von der Politik nicht mehr ignoriert werden kann. Das ergibt sich schon nur aus der sich immer weiter ausbreitenden Spezialisierung menschlicher Aktivität und führt unweigerlich zur Ausbreitung der Technokratie.

Über die Technokratie in der Wirtschaft sollen hier keine Ausführungen erfolgen. Hingegen soll ihr Übergriff auf Verwaltung und Politik ausgeführt werden.

Technokraten am Werk; Politik und Wirtschaft vereinen sich

Heute ist die Grenze zwischen den Eliten der Wirtschaft und jenen der Politik fliessend. Sie werden in den gleichen «Charakter-Schmieden» geformt und verfolgen so dann auch die gleichen Ziele. Diese Ziele sind technokratischer Natur. Weder der verantwortungsbewusste Manager noch der auf Wiederwahl bedachte Exekutivpolitiker wird Entscheidungen treffen, ohne sich vorher mit qualifizierten Spezialist:innen zu beraten.

Schon 1955 formulierte Frisch: 

Es wird eine immer häufigere Gepflogenheit der Regierung, sich mit einer kleinen Zahl besonders qualifizierten Ratgebern zu umgeben, die ihren «brain-trust», ihr Gehirn bilden 
(Frisch, 1955 Seite 7).

Diese Zahl ist bei weitem nicht mehr klein. Auch Parteien sind gezwungen, sich an Experten zu wenden, die sich ausserhalb des Politischen bewegen. Das Problem ist, dass diese Berater keine politische Legitimation haben. Ihre Urteile sind nicht unvoreingenommen, nicht ungeblendet von unangebrachten Interessen und können den Wahlversprechen von Politikern und Politikerinnen vor Wahlen entgegen laufen. Nur eine der Gründe, warum diese, einmal im Amt, nicht umsetzen, was sie bei den Wahlen versprochen haben.

Die Masse dieser «technischen» Experten und Expertinnen wird heute zudem von einer Masse an Kommunikationsspezialisten geflutet, die sich darauf spezialisieren, der Öffentlichkeit anzudrehen, was diese nicht will.

Der Einfluss der Kommunikationsindustrie und der Technokraten sollte nicht unterschätzt werden, schliessen sich doch immer mehr isoliert handelnde, hohe Beamte der bürokratischen Verwaltung generalstabsmässig zu homogenen Gruppen zusammen, die hinter den Kulissen geschickt politische, wirtschaftliche und soziale Aktionen dirigieren und keine divergierenden Meinungen dulden.

Solche Zirkel systemischer Macht bezeichnen ein weiteres, von Frisch aufgeführtes Merkmal von Technokratie: dem Gruppenegoismus. Gruppenegoismus – intrinsische Motivation jeder Machteliten und Kennzeichen jeder Diktatur – hat längst auch Technokratie ergriffen. Technokraten – sowohl auf nationalem als auch internationalem Parkett – sind nie frei in ihrem globalen, technokratischen Bestreben.

Der Gruppenegoismus hat aber, so Frisch, noch eine andere Ebene. Technokraten haben nämlich längst begriffen, dass sie jeglichen Gruppenegoismus (der sich heute gern als Interessenvertretung offenbart) nicht frontal angreifen sollten, wenn sie nicht verlieren wollen. Sie nutzen nicht von vornherein augenscheinliche Einflussmöglichkeiten und bringen immer dann sowohl das Gemeinwohl als auch wissenschaftliche Erkenntnis ins Spiel, wenn sie die eigenen Interessen durchsetzen, den Gegnern ihren Willen aufzuzwingen, ohne sie überhaupt nach ihrer Meinung zu fragen.

Gemeinwohl und Wissenschaft sind für Technokratie nur Themen der Propaganda. Für beides hat Technokratie per Definition nichts übrig. Wäre sie wissenschaftlich, müsste sie ihre Technologien den sich entwickelnden, wissenschaftlichen Erkenntnissen – gerade denen der Menschenkunde und Sozialwissenschaften – anpassen und sie immer auf Tauglichkeit für das Gemeinwohl prüfen. Und genau das kann und will Technokratie nicht, was sie sowohl leicht zu durchschauen als auch gefährlich macht. Das konkludiert auch Frisch (Frisch 1955). Technokratie ist also ebenso unwissenschaftlich, wie sie anti-sozial ist.

Technokratie goes global

Die zunehmende gegenseitige Abhängigkeit von Nationalstaaten führt auf internationale Ebene zu immer mehr internationaler Organisationen mit sich immer stärker ausbreitenden Befugnissen, wobei die Technokraten den Platz der Minister eingenommen haben. Organisationen wie z.B. die WHO oder WTO fehlt jegliche rechtsstaatliche Legitimation. Die Repräsentanten solcher Organisationen bewegen sich in einem überstaatlichen Raum und sind von jeglicher nationalen Rechtsprechung ausgenommen. Sie können sich rücksichtslos für die Ziele «ihrer» jeweiligen überstaatlichen Organisation einsetzen, ohne Angst vor Verlusten. Zur Verantwortung kann nicht gezogen werden, wer ausserhalb jeglicher Rechtsprechung agiert.

Das Bestreben von Organisationen wie der NATO und der EU geht bewusst in die Richtung, immer mehr staatliche Bereiche in neu geschaffene überstaatliche Strukturen einzufügen und sie so permanent demokratischen legitimierten Entscheidungsprozessen zu entziehen. Solche Organisationen sind technokratisch und werden Teil einer illegitimen Weltregierung.

Die Durchschaubarkeit der Technokraten liegt eben gerade darin, dass sich technokratisches Tun einem öffentlichen Diskurs entzieht, entziehen will. Technokratie ist so lebensfremd, dass ihre Verfechter permanent Gefahr laufen würden, in einem tatsächlichen, öffentlichen Dialog zu unterliegen.

Kann technokratische Machbarkeit – wie Frisch ausführt – in beschränktem Mass und am richtigen Ort (z.B. in der Produktion von Geräten) durchaus eine gewisse Berechtigung zukommen, darf daraus eben nie auf Tauglichkeit überall, im Gesamten geschlossen werden. Technokratie, um an die totale Macht zu kommen, baut auf Prozesse der Entscheidung von oben nach unten. Sie stellt die Kulmination aller bisherigen illegitimen Regierungsformen dar.

Die Verknüpfung von Wissenschaft und Technik ist eine rein propagandistische zu der die Kommunikationsindustrie Politikern rät. Denn gegen ein Regieren, welches auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, wäre wohl wenig einzuwenden. In der Technokratie geht es aber eben gerade NICHT um Wissenschaft, sondern um Machbarkeit. Nicht das Wissen soll sich vermehren, sondern technische Machbarkeit soll sich durchsetzen; egal ob sinnvoll oder nicht. Darum nennen wir ja dieses System auch Technokratie. Wird Wissenschaft bemüht, handelt es sich um einen Konsens untertechnokratisch gesinnten Experten:innen – Profiteure des Systems - unter Ausschluss kritischer Stimmen. Konsens aber ist nicht Wissenschaft sondern Interpretation vor-selektionierter Daten.

Technokratie entlarvt; Diktatur lässt grüssen

Da Technokratie aus der zunehmenden Technologisierung entstanden ist, verpflichtet sie sich der Machbarkeit, und diese wird immer mehr zum Diktat. Als Entscheidungsgrundlage dienen Technokraten dann also nicht tatsächlich reproduzierbare, wissenschaftliche Fakten, sondern technische Machbarkeit. Was technisch möglich ist, gilt als gut und wird gemacht. Machbarkeit wird zum Wahn; ein Wahn, der immer deutlicher spürbar wird. Bei der Implementierung technokratischer Staatssysteme können folgende Tendenzen festgestellt werden:

  • Technokraten betrachten den sozialen Organismus (also eine Gemein- oder Gesellschaft) als ein «technisches» (nicht lebendiges) und somit reproduzierbares System.
  • Die Bevölkerung wird segmentiert und Informationsinhalte entsprechend gefiltert. Mit andern Worten, Technokraten bestimmen was, wann, wem und wie kommuniziert wird.
  • Sowohl Fortschritt wie Wachstum werden als quantitative Zielvorstellungen für eine Gesellschaft vorgegeben und nicht mehr inhaltlich, qualitative Werte wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.
  • Der Mensch ist nicht mehr ein mehrdimensionales Wesen, sondern wird vom überentwickelten Tier zum minderwertigen Roboter, den es genetisch resp. «transhuman» zu verbessern und zu bewirtschaften gilt.
  • Gemeinwohl relevante Themen werden von den Technokraten bestimmt.
  • Es geht dabei nicht mehr um Fragen der Gerechtigkeit z.B. Verteilungsgerechtigkeit – also das Schaffen von Zugängen für alle - sondern um das Vermeiden von Unproduktivität (ohne zu definieren, was genau mit Unproduktivität gemeint ist).
  • Entscheidungen werden an «Expertenkommissionen» übertragen und deren Vertretungen von oben bestimmt und nicht von unten legitimiert.
  • Menschliche Bedürfnisse, die nicht verallgemeinert werden können, gibt es nicht.

Diese Merkmale erinnern stark an Diktaturen. Und obwohl die Sowjetunion als «sozialistisches» und somit technokratisches Experiment, noch vor dem Scheitern auf allen Ebenen abgebrochen worden ist, fühlen sich Elitenverschiedenen Couleurs erneut dazu berufen, die Welt zu retten, diesmal unter dem Deckmantel technischer Machbarkeit (der Technokratie).

Technokratie sei keine Verschwörung, so Frisch, sondern zunächst ein Produkt der Umstände scheinbar unbegrenzter, technischer Möglichkeiten. Dass die vermeintlich «Sachkundigen» - im Tsunami technischer Möglichkeiten - schon längst den Blick fürs Ganze verloren haben, ergibt sich schon nur aus der Tatsache, dass Spezialist:innen zwar immer mehr wissen aber eben nur über Teilbereiche. Wohin das führt, ist bekannt: am Schluss wissen wir alles über Nichts oder mindestens nichts relevantes mehr über das Relevante. Spezialisierung verliert sich im Detail und Details sind nicht wirklich das, was «staatlich» geregelt werden sollte.

Es wird darum wohl niemand mehr bestreiten, dass Politiker Gefangene ihres eigenen, reduktionistischen Systems und den Anforderungen ihrer Aufgabe nicht mehr gewachsen sind. Darum suchen sie das Heil in der Technokratie. Sie soll schnelle und allgemein gültige Resultate liefern.

Soll der Technokratie als globales Regierungssystem seine Daseinsberechtigung genommen werden, braucht es grundlegende Veränderungen, auch solche, die das Politische und Parlamentarische reformieren. Eine Reduzierung des Staatlichen auf Belangen, die von Bürger:innen gemeinschaftlich geregelt werden müssen - auf das für eine Gemeinschaft Wesentliche – schafft sich nur durch Demokratie.

Michael U. Baumgartner

Michael U. Baumgartner

Masterstudiengang in angewandter Ethik (mit Schwerpunkt Medizin- und Umweltethik) am Ethikinstitut der Universität Zürich und in Sozialarbeit (mit Schwerpunkt interkulturelle Arbeit und Konfliktmanagement) an der Fachhochschule Alice-Salomon in Berlin

Ausbildung in Sozialer Arbeit MSW mit Schwerpunkte Gemeinwesenentwicklung und Empowerment (Schweiz, London, Berlin),

Weiterbildung u.a. Spitalseelsorge sowie Biographiearbeit (nach Dr. Rudolf Steiner), in neuro-systemischem Coaching, Organisationsentwicklung, nachhaltiger Entwicklung, Umweltberatung, Neurolinguistischem Programmieren, internationalen Menschenrechtsinstrumenten und externalisierter Emotionsarbeit (nach Dr. Elisabeth Kübler-Ross) sowie Kommunikation/PR.

Diplomarbeit ‚Die Psycho-Sozialen Betreuung von Folteropfern und ihre Bedeutung für die Sozialarbeit’ publiziert im Verlag Edition Soziothek Bern.

Mitglied der International Association for Community Development IACD , der EU-COST-Action zu Deliberativer Demokratie CONSTDELIB (bis 2022) und im Vorstand von Neustart Schweiz und Losdemokratie

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